Material 1
Friedrich Hebbel: „Der Traum“ (1829 anonym veröffentlicht)
$\,$
Einsam wanderte ich durch die helle Winternacht. Unter meinen Tritten knarrte eintönig der übereiste Schneepfad; ringsum lag die ganze Landschaft in ein weites, weißes Gewand gehüllt, und die Sterne schimmerten am klaren Himmel wie bewegliche Irrlichter, als zitterten sie vor Frost, wie ich selber. Ich wollte an wallende Ähren, an duftende Blumen, an freundliche Hütten, an betriebsame Menschen denken, aber ich
5
konnte es nicht, ich konnte mit aller Mühe nicht Augen und Gedanken losreißen von dem Leichentuch um mich her. Die Dächer, die Bäume, die Felder, die Ströme, alles war weiß: nirgends eine Farbe, denn dies blendende, starre, tote Weiß konnte nicht dafür gelten. Was hätte ich in diesem Augenblick nicht dafür geben mögen, um nur irgendeinen schwarzen Punkt, wenn es auch nur eine Krähe gewesen wäre, in dies weiße Gefild1 hineinzuzaubern. Ich blickte unwillkürlich auf mich selbst, ich meinte, ich sollte einen schwarzen Rock anhaben:
10
ich wußte gewiß, er war schwarz gewesen; ja gewesen! - nun aber ganz übersilbert von Reif und Schnee. Gräßliches, entsetzliches Weiß allenthalben rings um mich, und in mir alles so öde, so leer, die Glieder so kalt, das Herz erfroren, das Gehirn Eis; ich meine, ich bin nicht Ich, bin kein Mensch mehr, ich bin ein wandelnder Schneemann, den die spielenden Knaben aufstellten, und der nun scheu und zitternd durch die einsame Nacht davonschreitet. Wie werden die Knaben mir nachrennen und die Hunde hinterdrein bellen. Die Knaben und die
15
Hunde? Sie schlafen ja alle, alle Tiere, alle Menschen schlafen, die ganze Welt schläft, ist gestorben, ist erfroren. Sie wollte sich vor der Kälte schirmen unter der Schneedecke und hat sich in ihr Leichentuch gewickelt. Und vor mir dehnen sich alle Länder und Reiche der Erde aus, und alle Berge und alle Fluren, und alle Städte und alle Dörfer sind in einerlei Totenkleid gewunden, unter einerlei Grabesfrost gehalten. Alle Meere und Ströme breiten sich vor mir aus, eine unermeßliche Spiegelfläche, und die Schiffe stehen wie Eisfelsen in
20
der gefrorenen Flut, die weißen Segel sind weit ausgespannt, aber steif und regungslos. Nirgends eine Bewegung, nirgends Fortgang und Leben, überall der starre Tod. Nun versteh ich euer Glimmern und Flimmern, ihr Sterne, ihr suchet und sehnet wie ich nach einem, ach! nur nach einem lebendigen Wesen in dem allgemeinen Stillstand, und findet keins. Seht doch mich, blickt doch zu mir her, schaut noch nur einmal still und fest auf mich, ich bin ja doch Leben, ich bin ja doch nicht starr und tot; ich hüpfe, seht, ich tanze ja noch, nein,
25
gewiß, glaubt mir, ich bin noch am Leben. Hu! mir graust vor dem Schneemann, der ja so wunderlich vor mir hertanzt. Ich bin ja selber dieser Schneemann, bin ja doch miterfroren mit der ganzen weiten Welt! - Was scharrt da mein Fuß aus dem Schnee! Ein Knochengerippe vom Frost gebleicht! Von einem Vogel nur, vom letzten Vogel vielleicht! Tritt leiser auf, wo ein Gerippe liegt, können mehr liegen. Für einen Vogel ist das Leichentuch zu groß und zu weit. Tritt leiser auf, mein Fuß, alles, alles liegt ja unter der dünnen Winterdecke,
30
das ganze kindische, spielende, tändelnde Geschlecht der Menschen, alle geschäftigen Hände sind erstarrt, alle warmen schlagenden Herzen stehn für immer still, alle feurigen Wünsche, alle glühenden Hoffnungen sind erkaltet, die Freudentränen und Kummerzähren2 zu blitzenden Eistropfen geworden, alle Zwietracht, aller Haß und Streit in Grabesfrieden entschlafen, und über das ganze gefrorne Getriebe der Thronenbesitzer und Hünenbewohner deckt eine ewige Winternacht ihren weißen Schleier. Und ich selber liege mit darunter, alle
35
meine Sehnsucht, meine Liebe, meine Sorge, alles was ich war, ist gewesen, gewesen, um nie wieder zu werden. Hätte ich das nicht schon längst wissen können, daß es so kommen würde! Und meinte doch etwas zu sein im Leben, es war mir so wohl und war mir so wehe, ich hatte so vieles im Sinn, mein Dichten und Trachten war so eitel, mein Streben und Mühen so nichtig. Ja, da konnte denn wohl am Ende nichts anders daraus werden, als ein Schneemann, der nichts ist und in nichts zerfließt, wenn die Sonne aufgeht am Tage des
40
Gerichts3.
Und es ward mir, als ginge sie schon auf, als schmölze ich schon hinweg vor ihr, und ich rannte vorwärts, ihr zu entfliehen, und die warmen Strahlen hinterdrein, und es schmolz, es schmolz immer mehr von meiner Gestalt herab, und in entsetzlicher Angst vor den gefährlichen Strahlen stürzte ich über den knarrenden Schnee hinweg, und - da lag meine Heimat mit den weißen Dächern, mit dem eisumreiften Tor, und ich schrie mit dem letzten aus der wegtauenden Brust hervorgellenden Ton: Door aapen4! […]
1Gefild(e): Gegend, Landschaft
2Kummerzähren: Tränen des Kummers
3am Tage des Gerichts: Gemeint ist das Weltende und das damit verbundene göttliche Gericht, in dem über die Lebenden und die Toten gerichtet wird, die von Gott entweder erlöst oder verdammt werden. Der Tag des Gerichts ist verbunden mit der Vorstellung von der Auferstehung der Toten.
4Door aapen: plattdeutsch für „Tür auf“
Hinweis: Friedrich Hebbel (1813-1863) war ein bedeutender deutschsprachiger Autor im 19. Jahrhundert.
Aus: Friedrich Hebbel: Werke. Dritter Band
München 1965,
S.233ff.