Kommunikation
Thema: Stefan Kern: Ein Irrgarten hinter fünf Buchstaben Aufgabenstellung:
- Fasse die zentralen Aussagen des Textauszugs zusammen.
- Untersuche die sprachliche und argumentative Gestaltung des Textes.
- Bewerte den Inhalt des Textes in einer kurzen Stellungnahme.
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Es ist ein Dschungel. Zwei Wörter, einmal drei und einmal zwei Buchstaben. Aber
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dahinter verbirgt sich ein hochkomplexes Geflecht aus Geschichte, Macht, Respekt,
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Vertrauen, Nähe, Distanz und Höflichkeit. Es ist ein sozialer Irrgarten und jeder, der
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glaubt, die Sache mit dem „Sie“ und dem „Du“ verstanden zu haben, wird bald eines
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Besseren belehrt. Peter Walschburger von der Freien Universität Berlin spricht ange-
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sichts der Entscheidung zwischen „Du“ und „Sie" von ,unglaublich komplizierten und
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interessanten Verwerfungen*. Auf den Punkt brachte dieses komplizierte Geflecht der
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langjährige SPD-Bundestagsfraktionsvorsitzende Herbert Wehner. Auf die Frage ei-
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nes Parteigenossen, ob er ihn nun duzen könne, antwortete Wehner: „Das können Sie
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halten, wie du willst."
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Aus der historischen Perspektive beschreiben die unterschiedlichen Anredeformen
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ein gesellschaftliches Machtgefälle. Oder, so sehen das die Soziologen Bettina und
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Lars Clausen, „Anredeformen sind Ausdruck sozialer Ungleichheit". Für sozial
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Gleichgestellte habe es über Jahrhunderte keine besonderen Anredeformen gegeben.
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Allein im Kontext des sozialen Macht- und Ansehensgefälle entstanden spezielle
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sprachliche Sitten. Soziale Distanz wurde durch die grammatikalisch dritte Person
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sichtbar gemacht. Heißt, von oben (Adel, Klerus) nach unten wurde geerzt und von
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unten (gemeine Volk) nach oben geihrzt (Pluralis Majestatis). Eine Respekbekundung
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allein auf Basis der gottgefügten gesellschaftlichen Stellung. Mit dem Niedergang
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absolutistischer und feudalistischer Herrschaftsformen Zugunsten demokralischer Mit-
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bestimmungssysteme und dem Auftreten zunehmend selbsibewusster Bürger geriet
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diese Anrederegel unter Druck, Die Bürger forderten von der Obrigkeit eine respekt-
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volle Anrede. Nur drei Buchstaben, aber für die damalige Zeit waren sie ein Sinnbild
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für eine kleine gesellschaftliche Revolution. Stünden doch jedem Menschen ein höfli-
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cher und vor allem respektvoller Umgang zu. Das ging so weit, dass Kinder ihre Eltern
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und die Ehepaare sich untereinander gesiezt haben. Der Soziologe Ulrich Beck erklärte
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das, Sie" aus historischer Sichtzu einem Baustein für das Konzept der Unantastbarkeit
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der Würde des Menschen, Deshalb gilt übrigens bis heute das einseitige Duzen als
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Herabwürdigung und Respektlosigkeit.
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In Bewegung geraten ist die Sache mit dem „Sie“ und dem ,Du“ mit den 68ern.
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Das steife „Sie" galt als gesellschaftlicher Beton. Dementsprechend galt das „Du“ als
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Symbol gegen den gesellschaftlichen Muff von 1000 Jahren. In dieser Zeit konnten die
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„Du"- und „Sie"-Sitten beinah politisch verortet werden. Im konservativen Lager blieb
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es beim „Sie" und im Linken-Lager war das ,Du" üblich. Eine Struktur, die sich bis
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heute mehr oder weniger gehalten hat. Auch wenn sich dies im Zuge der Digitalisie-
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rung und amerikanischer Start-up-Kultur gerade zu verändern scheint. Otto Schrader,
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Chef vom Otto- Versandhandel, informierte zu Beginn dieses Jahres seine 53 000 Mit-
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arbeiter per Mail, dass im Unternehmen nun geduzt werden solle. Desgleichen gilt
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auch für die 375 000 Mitarbeiter der Schwarz-Gruppe (Lidl, Kaufland). Klaus Gehring
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(Schwarz-Gruppe) und Schrader (Otto Konzern) glauben damit einen Kulturwandel
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voranzutreiben. Mehr Nähe und mehr Identifikation mit dem Unternehmen steigern
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die Produktivität, so die Rechnung der Chefs. Ob es so kommt, sei aber alles andere
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als sicher. Erst einmal, so der Prorektor der Bielefelder Fachhochschule der Diakonie
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Tim Hagemann, würden damit nur Formalitäten abgebaut. Weitaus entscheidender
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seien aber Beteiligungsmodelle, tatsächlich flachere Hierarchien und die Delegation
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von Verantwortung. „Sie“ und „Du“ seien nur Wörter. [...]
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Insgesamt, nach 68er, Dot.com und unternehmerischen „Du“-Wellen scheint das
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„Sie“ wieder auf dem Vormarsch zu sein. ,Die Jüngeren haben heute ein viel größeres
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Abgrenzungsbedürfnis als die 68er“ , so Walschburger von der FU Berlin. Ob das, wie
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er vermutet, auch eine Zunahme der Hierarchisierung bedeutet, ist jedoch strittig. Denn
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die Nutzung von „Du“ bedeutet ja nicht per se eine flachere Hierarchie. „Du machst
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Was ich sage“ hört sich im Vergleich zu „Sie machen was ich sage“ im beruflichen
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Umfeld vielleicht sogar etwas unhöflicher an. Das „Du“ signalisiert eine Nähe, die im
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Gegensatz zur Familie in Unternehmen so eben doch nicht gegeben ist. Und genau
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diese Nähe-Simulation kann zu Irritationen und Enttäuschungen führen, die bei der
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„Sie"-Form so kaum aufgetreten wären. [...)
Aus: Stocker, Frank: Du und Sie: Vom Irrgarten hinter fünf Buchstaben. 16.01.2023.
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Enleitung
- Auf den ersten Blick scheint es einfach zu sein, ob man eine Person mit „Du“ oder „Sie“ anspricht: Im privaten Umfeld nutzt man das „Du“, während in formellen oder distanzierten Situationen das „Sie“ die übliche Wahl ist. Doch in der Realität ist diese Unterscheidung weitaus komplizierter.
- Stefan Kern zeigt in seinem Artikel Ein Irrgarten hinter fünf Buchstaben, erschienen 2023 in der Schwetzinger Zeitung, dass die Verwendung der Anredeformen keineswegs so klar geregelt ist, wie es zunächst den Anschein hat.
Hauptteil
- Statt einer einfachen Regel gibt es zahlreiche Faktoren, die die Entscheidung beeinflussen. Um diese Vielschichtigkeit zu verdeutlichen, beschreibt der Autor die sprachlichen Konventionen als eine Art „Irrgarten“ (Z. 3) oder „Dschungel“ (Z. 1), in dem man sich erst einmal zurechtfinden muss.
- Die Art, wie Menschen sich ansprechen, hat sich über die Jahrhunderte hinweg gewandelt und war früher stark mit gesellschaftlichen Strukturen verbunden. Ursprünglich nutzte man das „Du“ nur für Gleichgestellte oder untergeordnete Personen, während höherstehende Individuen mit der dritten Person Singular oder der Mehrzahlform des Plurals angesprochen wurden – ein Ausdruck besonderer Ehrerbietung. Diese sprachliche Differenzierung war kein Zufall, sondern spiegelte das soziale Gefälle wider: Die Wahl der Anrede diente als Instrument, um Machtverhältnisse zu verdeutlichen.
- Erst mit dem Erstarken des Bürgertums entstand der Wunsch nach einer respektvollen und gleichberechtigteren Form der Ansprache. Das heutige „Sie“, das ursprünglich eine Pluralform war, setzte sich als höfliche Einzelanrede durch. Es wurde als eine Form der Wertschätzung verstanden, die nicht nur für gesellschaftlich höhergestellte Personen, sondern für alle genutzt werden konnte. Dennoch blieb das „Du“ weiterhin ein Zeichen von Nähe und Vertrautheit – allerdings gab es Zeiten, in denen selbst innerhalb von Familien das „Sie“ verwendet wurde, um besonderen Respekt auszudrücken.
- Ein bedeutender Wandel in der Nutzung von „Du“ und „Sie“ ereignete sich in den späten 1960er-Jahren. Während dieser Zeit begannen viele junge Menschen, das förmliche „Sie“ bewusst abzulehnen, da sie es mit starren gesellschaftlichen Strukturen und Autorität verbanden. Stattdessen propagierten sie das „Du“ als Ausdruck von Gleichberechtigung, Offenheit und Gemeinschaft.
- Mit der Zeit entwickelte sich daraus eine politische Dimension: Konservative hielten am „Sie“ fest, um Höflichkeit und Distanz zu wahren, während progressive und linksliberale Kreise das „Du“ als Symbol eines offeneren und informelleren Umgangs bevorzugten. Diese Unterscheidung besteht in Teilen bis heute.
- In der modernen Berufswelt gibt es immer mehr Unternehmen, die das Duzen als Zeichen einer offenen Unternehmenskultur einführen. Dabei steht die Idee im Vordergrund, dass eine weniger formelle Sprache die Hierarchien aufweichen und ein stärkeres Gemeinschaftsgefühl schaffen soll. In vielen Start-ups oder internationalen Firmen wird daher bewusst auf das „Sie“ verzichtet.
- Allerdings bringt diese Praxis nicht nur Vorteile mit sich. Nicht alle Angestellten fühlen sich wohl damit, ihre Vorgesetzten oder Kolleginnen und Kollegen direkt zu duzen – besonders dann, wenn sie an eine eher formelle Kommunikation gewöhnt sind. In manchen Fällen wird das erzwungene „Du“ sogar als aufgesetzt empfunden und kann zu Unmut führen.
- Deshalb hat das „Sie“ in vielen Bereichen nach wie vor seine Daseinsberechtigung. Es hilft dabei, eine professionelle Distanz aufrechtzuerhalten und Respekt auszudrücken. Gerade in Situationen, in denen Klarheit und eine gewisse Förmlichkeit wichtig sind, kann das „Sie“ vorteilhafter sein.
- Während sich in digitalen Plattformen und bestimmten Unternehmen das „Du“ immer weiter durchsetzt, bleibt das „Sie“ in der traditionellen Arbeitswelt weiterhin der Standard. Es sorgt für eine klare Abgrenzung zwischen formellen und informellen Kontexten und bietet in vielen Situationen eine sprachliche Sicherheit.
Teilaufgabe 2
Hauptteil
- Der Autor wählt einen überraschenden Einstieg, indem er die vermeintliche Einfachheit der Anredeformen hinterfragt. Viele Menschen gehen davon aus, dass die Unterscheidung zwischen „Du“ und „Sie“ klar geregelt ist – enge Bekannte werden geduzt, Fremde gesiezt. Doch der Text nimmt diese Annahme auseinander, indem er bewusst für Verunsicherung sorgt. Die Überschrift spielt dabei eine zentrale Rolle, da sie durch das Bild eines „Irrgarten[s]“ (Z. 1) die Leser*innen dazu anregt, sich mit der Komplexität der Anrede auseinanderzusetzen. Besonders raffiniert ist die Übertragung dieses Bildes auf die Sprache selbst, wodurch die Vorstellung eines Irrgartens hinter fünf Buchstaben entsteht. Die Unklarheit, welches Wort genau gemeint ist, weckt Neugier und animiert zum Weiterlesen.
- Auch innerhalb des Textes wird die Orientierungslosigkeit durch eine weitere Metapher verstärkt: Der Begriff „Dschungel“ (Z. 1) steht für Unübersichtlichkeit und fehlende klare Strukturen. Diese Bildsprache verdeutlicht, dass die Regeln für Anredeformen nicht immer eindeutig sind. Dabei wird zwischen natürlichen und künstlichen Strukturen unterschieden: Während ein „Dschungel“ (Z. 1) chaotisch, aber natürlich gewachsen ist, beschreibt der „Irrgarten“ (Z. 3) eine menschengemachte Ordnung, die dennoch für Verwirrung sorgt. Diese Parallele zieht der Text zur Entwicklung von Anredeformen, da sich die Gesellschaft immer wieder bewusst in die sprachlichen Strukturen einmischt, was oft unvorhersehbare Folgen hat.
- Ein weiteres sprachliches Stilmittel, das im Text verwendet wird, ist die Akkumulation. Die Aneinanderreihung von Begriffen wie „Geschichte, Macht, Respekt, Vertrauen, Nähe, Distanz und Höflichkeit“ (Z. 2 f.) hebt hervor, dass es bei der Wahl zwischen „Du“ und „Sie“ nicht nur um Sprache geht, sondern um tief verankerte gesellschaftliche Werte. Der „Irrgarten“ aus dem Titel konkretisiert sich hier als „sozialer Irrgarten“ (Z. 3), womit deutlich wird, dass die Thematik eine weitreichende gesellschaftliche Relevanz besitzt.
- Um seine Argumentation glaubwürdig zu untermauern, bezieht sich der Autor mehrfach auf Expertenmeinungen. Dadurch erhalten seine Aussagen eine fachliche Grundlage und wirken überzeugender. Schon zu Beginn werden zwei Zitate herangezogen (Vgl. Z. 5 ff.), eines von einem Sprachwissenschaftler und eines von einem bekannten Politiker. Beide unterstreichen, dass es keine festen Regeln für die Anrede gibt, sondern dass sich die Normen im Laufe der Zeit entwickeln. Ein weiteres Zitat von Herbert Wehner (Vgl. Z. 9 f.) wird humorvoll eingebaut, da es wie ein Oxymoron oder ein Paradoxon erscheint. Wehners Aussage bringt die Widersprüchlichkeit des Anredegebrauchs auf den Punkt: Er zeigt auf, dass sich in vielen Situationen beide Anredeformen gleichermaßen verwenden lassen und keine absolute Regel existiert.
- Der historische Rückblick im Text verdeutlicht, dass die Anredeformen ursprünglich dazu dienten, soziale Unterschiede sichtbar zu machen. So wird ein weiteres Expertenzitat eingebaut: „Anredeformen sind Ausdruck sozialer Ungleichheit“ (Z. 13). Das bedeutet, dass sie sich aus früheren Machtstrukturen entwickelt haben. Während ursprünglich das Erzen und Ihrzen genutzt wurden (Vgl. Z. 17) f., um Rangunterschiede sprachlich festzuhalten, etablierte sich später das „Sie“, um gesellschaftliche Distanz zu wahren.
- Ein besonders bedeutendes Element in der Argumentation ist die Verbindung zum Grundgesetz. Ein Experte bezeichnet das Siezen als „Baustein für das Konzept der Unantastbarkeit der Würde des Menschen“ (Z. 27). Damit wird die Anrede in einen größeren gesellschaftlichen Kontext eingebettet und als ein grundlegendes Element der Wertschätzung dargestellt. Der Autor beschreibt das „Sie“ somit nicht nur als sprachliche Höflichkeit, sondern als Teil einer gesellschaftlichen Errungenschaft.
- Der gesellschaftliche Wandel wird am Beispiel der 68er-Bewegung deutlich. Während konservative Kreise das „Sie“ verteidigten, bezeichneten die Studentinnen und Studenten der Zeit das Siezen als „steif“ (Z. 31) und forderten eine informellere Sprache. Das „Sie“ wurde symbolisch mit „Beton“ (Z. 31) gleichgesetzt, was es als unflexibel und überholt erscheinen ließ. Der Wunsch nach einem sprachlichen Umbruch wurde deutlich (Vgl. Z. 31 f.).
- Auch in der Gegenwart beeinflussen gesellschaftliche Entwicklungen die Wahl der Anredeformen. Die Digitalisierung hat das „Duzen“ in vielen Unternehmen normalisiert, doch der Autor hinterfragt kritisch, ob dies tatsächlich zu einem besseren Betriebsklima führt. Er betrachtet den erzwungenen Kulturwandel durch das „Du“ skeptisch (Vgl. Z. 40 f.) und deutet an, dass dies nicht immer die gewünschte Nähe schafft.
- Ein weiteres Expertenzitat bringt die Diskussion auf den Punkt: „Sie‘ und ‚Du‘ seien nur Wörter“ (Z. 46). Damit wird das übersteigerte Vertrauen in die Wirkung des Duzens relativiert und darauf hingewiesen, dass Sprache allein keine tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen bewirken kann.
- Der Autor legt dar, dass sich die Entwicklung der Anredeformen einem dialektischen Prinzip unterordnet: Während früher das Erzen die niedrigere Stellung eines Gesprächspartners verdeutlichte (Vgl. Z. 16 ff.), brachte das „Sie“ dem Bürgertum Respekt und gesellschaftliche Anerkennung. Später wurde das Siezen wiederum von der 68er-Generation infrage gestellt, die sich durch das „Du“ mehr Gleichheit erhoffte. In der heutigen Zeit erleben wir eine Gegenbewegung zum allgemeinen Duzen, was zeigt, dass sich Sprache stets in einem Spannungsfeld zwischen Nähe und Distanz bewegt.
- Abschließend wird ein weiteres Expertenzitat herangezogen, das die Rückkehr zum Siezen erklärt: „Die Jüngeren haben heute ein viel größeres Abgrenzungsbedürfnis als die 68er“ (Z. 48 f.). Dies widerlegt die Annahme, dass das Duzen automatisch Rangunterschiede beseitigt. Vielmehr wird argumentiert, dass das „Sie“ eine professionelle Distanz ermöglicht und in manchen Kontexten sogar als höflicher wahrgenommen wird (vgl. Z. 51 f.).
Teilaufgabe 3
Hauptteil
- Die sprachliche und argumentative Gestaltung des Textes zur Unterscheidung der Anredeformen „Du“ und „Sie“ zeichnet sich durch eine klare Strukturierung und nachvollziehbare Argumentationsführung aus. Der Text beginnt mit einer übersichtlichen Darstellung der Konventionen in Schule und Beruf, wo die Unterscheidung zwischen „Du“ und „Sie“ vermeintlich klar geregelt ist: Lehrkräfte und Vorgesetzte werden gesiezt, während unter Gleichgestellten das „Du“ verwendet wird. Dabei wird auf bekannte gesellschaftliche Normen und Regeln verwiesen, die sich beispielsweise am „Knigge“ orientieren lassen.
- Dennoch problematisiert der Text diese vermeintlich klaren Regeln und weist darauf hin, dass die Verwendung der Anredeformen in der Praxis komplexer ist als angenommen. Argumentativ stützt sich der Text auf Beispiele aus dem Alltag, in denen persönliche Nähe und gesellschaftliche Konventionen miteinander kollidieren. So wird aufgezeigt, dass es Menschen gibt, mit denen man per „Du“ ist, ohne ihnen besonders nahe zu stehen, während man andere trotz enger emotionaler Bindung siezt, weil es die gesellschaftliche Erwartung fordert. Die Differenzierung von „Du“ und „Sie“ drücke demnach nicht unbedingt die persönliche Nähe oder Distanz aus, sondern spiegele vielmehr die gesellschaftliche Stellung wider.
- Diese Argumentation wird durch eine logische Struktur unterstützt: Zunächst wird die Regel dargestellt, dann wird diese Regel anhand konkreter Beispiele hinterfragt und anschließend wird eine differenzierte Sichtweise angeboten. Sprachlich bleibt der Text nüchtern und sachlich, um Objektivität zu wahren. Gleichzeitig werden einige rhetorische Fragen eingesetzt, um die Leser*innen zum Nachdenken anzuregen und eine kritisch-reflektierende Haltung zu fördern.
- Ein weiteres zentrales Argument des Textes betrifft die Machtverhältnisse, die durch Anredeformen verdeutlicht werden. Der Text führt an, dass auch in Unternehmen, in denen offiziell das „Du“ verwendet wird, Machtgefälle bestehen bleiben, wenn beispielsweise die Führungskraft allein über Gehaltserhöhungen oder Kündigungen entscheidet. Dies verdeutlicht der Text durch anschauliche Beispiele aus der Berufswelt und der Schule.
- Besonders geschickt wird die Thematik der Nähe und Distanz beleuchtet. Der Text zeigt auf, dass das „Du“ nicht automatisch Nähe schafft und das „Sie“ nicht unbedingt Distanz ausdrückt. Gerade in der Politik und in geschäftlichen Kontexten könne das „Du“ problematisch sein, da es eine scheinbare Vertrautheit suggeriert, die in Wahrheit nicht existiert. Hier wird sprachlich eine gewisse Ironie verwendet, um die Problematik der Nähe-Simulation zu verdeutlichen. Diese argumentative Strategie erhöht die Nachvollziehbarkeit und unterstützt die kritische Betrachtung des Themas.
Fazit
- Meiner Meinung nach sollte die Wahl der Anredeform bewusst und situationsabhängig getroffen werden, anstatt starr an traditionellen Normen festzuhalten. Ein erzwungenes „Du“ in Unternehmen beispielsweise führt nicht automatisch zu einer flacheren Hierarchie oder zu mehr Nähe. Im Gegenteil, es kann eine falsche Vertrautheit suggerieren und Erwartungen wecken, die nicht erfüllt werden. Ebenso kann ein respektvolles „Sie“ durchaus eine professionelle Nähe schaffen, ohne distanziert zu wirken.
- Insgesamt finde ich es wichtig, dass die Wahl der Anredeform nicht als bloße Formalität betrachtet wird, sondern als Ausdruck von Respekt und gegenseitiger Wertschätzung – unabhängig davon, ob „Du“ oder „Sie“ gewählt wird. Entscheidend ist, dass die Kommunikation authentisch und respektvoll bleibt, denn letztlich bestimmen Haltung und Umgangston den tatsächlichen Ausdruck von Nähe, Distanz und Respekt.