Aufgabe 2 – Trauerspiel
Interpretation eines literarischen Textes
Thema
Heinrich von Kleist (* 18.10.1777 – † 21.11.1811): Die Familie Schroffenstein! Ein Trauerspiel in 5 Aufzügen (Veröffentl. 1803; Uraufführ. 1804)
Aufgabenstellung
Interpretiere den folgenden Auszug aus Heinrich von Kleists Trauerspiel Die Familie Schroffenstein! (ca. 80 %)
Zeige ausgehend von deinen Ergebnissen vergleichend auf, wie eine schwierige Situation für Liebende in einem anderen literarischen Werk gestaltet wird. (ca. 20 %)
Vorbemerkung
Zwischen den beiden Schroffensteiner Familienlinien Rossitz und Warwand besteht ein tiefes Misstrauen, da nach einem alten Erbvertrag bei Aussterben einer Linie die andere deren Besitz erbt. Als der kleine Sohn des Rossitzer Familienoberhauptes Graf Rupert tot aufgefunden wird, werden Bedienstete der Warwander des Mordes verdächtigt. Daraufhin müssen alle Familienmitglieder der Rossitzer Graf Rupert schwören, zur Vergeltung unter anderem Agnes, die Tochter der Warwander, zu töten.
Ruperts älterer Sohn Ottokar ist jedoch in Agnes verliebt und die beiden treffen sich seit einiger Zeit heimlich im Gebirge, ohne dass sie zunächst seine Herkunft kennt. Als Ottokars Halbbruder Johann, der insgeheim ebenfalls in Agnes verliebt ist, diese vor den Toren von Warwand bedrängt, missversteht Agnes’ Onkel Jerome dies als Anschlag und verwundet ihn schwer. Er klärt seine Nichte über Ottokars Identität und den Racheschwur der Rossitzer auf.
Als Agnes kurz darauf erneut Ottokar im Gebirge begegnet, befürchtet sie, dass dieser sie töten will.
Material
Die Familie Schroffenstein. Ein Trauerspiel in 5 Aufzügen
Auszug aus der 1. Szene des 3. Aufzugs
Heinrich von Kleist
[...]
Aus: Kleist, Heinrich von: Sämtliche Werke und Briefe. Herausgegeben von Helmut Sembdner, Carl Hanser Verlag München, 2. Auflage 1994, Bd. I, S. 96-102.
Rechtschreibung und Zeichensetzung entsprechen der Textquelle.
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Der vorliegende Auszug aus Heinrich von Kleists Trauerspiel Die Familie Schroffenstein aus dem Jahr 1803 entstammt der ersten Szene des dritten Aufzugs und zeigt ein entscheidendes Gespräch zwischen den Liebenden Ottokar und Agnes, deren Beziehung durch einen generationenübergreifenden Familienkonflikt massiv gefährdet ist.
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Das Stück thematisiert die zerstörerische Kraft von Misstrauen, insbesondere innerhalb von Familienstrukturen, und führt tragisch vor Augen, wie Vorurteile und blinde Rachsucht selbst die unschuldigsten Bindungen zerstören können.
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Die dargestellte Zerrissenheit zwischen Eltern und Partner weist eine zeitlose Aktualität auf, die in vielen Beziehungen und Familien bekannt sein dürfte und daher auch in der Literatur häufig als Stoff von Autor*innen herangezogen wird, wie etwa in Büchners Woyzeck, Brechts Der gute Mensch von Sezuan, Goethes Faust I, Fontanes Effi Briest oder Kleists Der zerbrochne Krug.
Hauptteil
Interpretation
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Der gemeinsame Familiennamen im Titel des Werkes vermittelt zunächst den Eindruck, dass es sich um eine geeinte Familie handelt. In Wirklichkeit ist das Geschlecht der Schroffensteiner jedoch in zwei verfeindete Linien gespalten: Rossitz und Warwand. Nachdem der Sohn des Rossitzer Grafen Rupert tot aufgefunden wurde, beschuldigt dieser die Warwander, das Kind getötet zu haben. Aus Rache lässt er seine Angehörigen schwören, Agnes, die Tochter der Warwander, zu ermorden. Sein älterer Sohn Ottokar kommt dadurch in einen inneren Konflikt, da er heimlich eine Liebesbeziehung zu Agnes führt. Die beiden treffen sich regelmäßig in den Bergen, wobei Agnes Ottokars Herkunft zunächst unbekannt ist. Als sie jedoch erfährt, dass Ottokar zu den Rossitzern gehört und an den Racheschwur gebunden ist, spitzt sich ihre Situation zu. Der vorliegende Textausschnitt schildert ein erneutes Aufeinandertreffen der Liebenden in der Gebirgslandschaft.
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Bereits zu Beginn ihres Wiedersehens (Vgl. Z. 1–15) fühlt sich Agnes unwohl, ihr wird übel. Diese körperliche Schwäche markiert nicht nur einen dramatischen Einstieg, sondern ist Ausdruck eines seelischen Konflikts: Agnes’ innere Bedrängnis angesichts der Enthüllung von Ottokars Identität und des Racheschwurs verwandelt sich in eine performative Probe.
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Ottokar reagiert besorgt und geht, um Wasser zu holen. Agnes jedoch interpretiert seine Fürsorge als Bedrohung: Sie vermutet, er wolle sie vergiften. Während Ottokar nicht anwesend ist, fasst Agnes den Entschluss, sich dem aus ihrer Sicht unausweichlichen Schicksal zu ergeben.
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Im weiteren Verlauf der Szene (Vgl. Z. 16–53) kehrt Ottokar mit dem Wasser zurück und bietet es Agnes an. Zwar zögert sie zunächst, nimmt jedoch auf seine Bitte hin einen Schluck. In der Erwartung, dass sich nun das vermeintliche Gift auswirkt, spricht Agnes in Andeutungen über ihren bevorstehenden Tod. Ottokar registriert ihr ungewöhnliches Verhalten erst nach und nach und kann es zunächst nicht einordnen.
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Die Gleichsetzung von Wasser und Gift (Vgl. Z. 13 f.) zeigt die innere Ausweglosigkeit von Agnes’ Konflikt. Sie trinkt, während sie Ottokar „unverwandt ansieht“ (Z. 32), wodurch eine hochgespannte Situation entsteht, in der das Wasser als Symbol ambivalenter Intention fungiert: Lebensspender und mögliche Todesursache zugleich.
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Im dritten Teil der Szene (Vgl. Z. 54–101) glaubt Agnes, ihrem Tod nahe zu sein, und drängt auf ein offenes Gespräch. Dabei gestehen beide, dass sie inzwischen über die wahre Herkunft des jeweils anderen Bescheid wissen. Agnes enthüllt zudem, dass ihr der Racheschwur der Rossitzer bekannt ist. Verzweifelt will sie den Rest des vermeintlichen Gifts austrinken. Ottokar begreift nun den Hintergrund ihres Verhaltens, nimmt ihr das Gefäß ab und trinkt selbst, um zu beweisen, dass das Wasser harmlos ist und um zu zeigen, dass er bereit wäre, sein Schicksal mit ihr zu teilen. Daraufhin fällt Agnes ihm gerührt um den Hals, ist jedoch peinlich berührt, weil sie fürchtet, durch ihr Misstrauen die Möglichkeit auf eine gemeinsame Zukunft verspielt zu haben. Ottokar hält jedoch an seiner Liebe fest, woraufhin Agnes verspricht, an seiner Seite bleiben zu wollen.
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Der Moment der Identitätsenthüllung bildet einen zentralen dramaturgischen Wendepunkt: Agnes’ Wissen um den Mordplan (Z. 69 f.) entlarvt die fragile Basis ihrer Liebesbeziehung, denn Ottokar erscheint plötzlich als potenzieller Mörder. Die Enthüllung führt nicht zu Distanz, sondern schlägt in verzweifelte Verbundenheit um, als Ottokar fassungslos die Wahrheit anerkennt und selbst aus dem vermeintlichen Gift trinkt: „Ich sterbe mit dir“ (Z. 78). Die Geste ist Ausdruck absoluter Liebe, aber auch eines impulsiven, fatalistischen Gestus, der typisch für Kleists Figuren ist.
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Agnes’ Wunsch, das Wasser wäre Gift, („und könnt ich mit dir sterben!“, Z. 82) bringt Kleists Tragik zur Darstellung. Leben erscheint ihr weniger denkbar als ein gemeinsamer Tod; doch die Liebenden versuchen trotz allem, ihr Bündnis aktiv gegen äußere Mächte zu behaupten: Ottokar beschwört Agnes, „fest an mir [zu] halten“ und dem „Gespenst des Mißtrauns“ (Z. 89 f.) zu widerstehen. Vertrauen wird gegen die Stimmen der Herkunftsfamilien gesetzt – ein klassisches Motiv tragischer Liebesbeziehungen.
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Im folgenden Abschnitt (Vgl. Z. 102–130) wird das wiedergewonnene Vertrauen der beiden unmittelbar erschüttert. Ottokar spricht den Tod seines Bruders an, von dem er überzeugt ist, dass Agnes’ Vater ihn ermorden ließ. Agnes widerspricht, da sie an die Rechtschaffenheit ihres Vaters glaubt und darauf verweist, dass die vermeintlichen Täter ihre Schuld unter Folter gestanden hätten. Beide halten unbeirrt an ihrer jeweiligen Sicht fest und sind nicht bereit, die Ehre der eigenen Familie infrage zu stellen.
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In dieser dialogischen Auseinandersetzung über Schuldfrage und Wahrheitsanmaßung tritt das zentrale Thema des Stückes offen zutage: Die Familienfehde gründet nicht auf objektiven Tatsachen, sondern auf wechselseitigen Projektionen und Vorurteilen. Agnes behauptet, das Gefühl stehe „über alles Wähnen, / Und Wissen hoch erhaben“ (Z. 111 f.), während Ottokar die subjektive Sichtweise anerkennt, aber nicht teilt. Der Dialog kippt zunehmend in ein fast sophistisch gefärbtes Argumentationsspiel, dessen Echtheit schwer zu bestimmen ist; beide Liebenden bewegen sich zwischen innerer Treue, Zweifel und dem Über-Ich ihrer Familien. Immer wieder versucht Ottokar, Agnes zur Identifikation mit ihm zu zwingen, doch Loyalität kann nicht exklusiv verteilt werden (Vgl. Z. 118–120).
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Im fünften Teil des Gesprächs (Vgl. Z. 131–191) schildert Agnes einen Überfall, den sie für einen gezielten Mordversuch hält. Ihrer Ansicht nach hat Graf Rupert Ottokars Halbbruder Johann dazu angestiftet, was Ottokar jedoch entschieden zurückweist. Er äußert Bedauern darüber, dass Johann sich momentan nicht entlasten kann, da Agnes’ Onkel ihn schwer verwundet hat, um seine Nichte zu schützen. Zugleich erkennen die beiden eine auffällige Parallele: Wie Johann konnte sich auch die Gruppe, die beschuldigt wurde, den jungen Sohn des Grafen getötet zu haben, nicht selbst verteidigen, da Rupert sie nach dem unter Folter erpressten Geständnis unmittelbar hinrichten ließ. Diese Erkenntnis führt dazu, dass Agnes und Ottokar langsam von ihren Überzeugungen abrücken und zunehmend alternative Deutungen des Geschehens in Betracht ziehen.
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Die dramatischen Pausen („Stillschweigen“, Z. 167, 174, 183) markieren Momente, in denen Worte an ihre Grenzen gelangen. Es zeigt sich die Unfähigkeit der Liebenden, den Konflikt rational zu lösen. Gleichzeitig symbolisieren die Pausen die Sprachlosigkeit zwischen den verfeindeten Familien, die ihre Söhne und Töchter in die Unmöglichkeit einer freien Entscheidung treiben.
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Im abschließenden Abschnitt des Dialogs (Vgl. Z. 192–210) erkennen die Liebenden, dass ihre Familien sich möglicherweise gegenseitig zu Unrecht beschuldigt haben. Ottokar äußert den Wunsch nach einem gemeinsamen Leben mit Agnes und ist überzeugt, dass sich auch ihre Väter verstehen könnten, sollten sie aufeinandertreffen. Zugleich gesteht er jedoch, dass ein solcher Schritt von Agnes’ Vater ausgehen müsste, da sein eigener niemals die Bereitschaft dafür aufbringen würde.
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Es ist Ottokars Idealismus, der in dem Gedanken gipfelt, man müsse die beiden Väter zusammenzuführen: „Denn einzeln denkt nur jeder seinen einen / Gedanken“ (Z. 204 f.). Die Hoffnung, es könne ein „dritter“ Gedanke entstehen, der Versöhnung hervorbringt (Z. 205 f.), macht den utopischen Kern des Auszugs aus. Gleichzeitig ist diese Hoffnung im Kleistschen Kosmos tragisch unterlaufen; sie zeigt zwar Entwicklungspotenzial, wird jedoch an der Realität scheitern. Das Ideal der direkten, unverstellten Kommunikation zwischen Menschen ist programmatisch für Kleists Werk.
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Der Auszug führt anhand des Enthüllungsdialogs also die Grundkonflikte des Stückes exemplarisch vor: das zerstörerische Misstrauen zwischen Familien, das konkurrenzierende Verhältnis von subjektiver Wahrnehmung und objektiver Wahrheit sowie die Aussichtslosigkeit eines individuellen Glücksanspruchs in einer von Vorurteilen geprägten Welt.
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Dramaturgisch entwickelt Kleist diese Katharsis vor allem durch rasche Sprecherwechsel, Ausrufe, Missverständnisse, Antithesen und Symbole wie Wasser bzw. Gift. Die Sprache ist affektiv, hastig, spitz formuliert und in ihrer performativen Energie geprägt von emotionalen Extremen.
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Die sprachlich-stilistische Gestaltung des Austauschs zeigt einen weitgehend ausgeglichenen Dialog, in dem beide Gesprächspartner auf derselben Ebene miteinander kommunizieren. Die Redeanteile sind annähernd gleich verteilt. Auffallend ist die knappe, meist parataktisch geprägte Sprache; kurze, teils elliptische Sätze und häufige, direkt aufeinander folgende Repliken erzeugen ein hohes Gesprächstempo. Dadurch wirkt der Dialog einerseits von Unsicherheit gekennzeichnet, andererseits von dem Bestreben, schnell, aber behutsam Zugang zum Gegenüber zu finden. Wiederkehrende Nachfragen (z. B. „Wie meinst du das“, Z. 49, vgl. Z. 87) machen deutlich, dass beide Figuren ernsthaft versuchen, einander zu verstehen.
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Bezogen auf die Liebesbeziehung der beiden erreicht der Text seinen emotionalen Höhepunkt als Agnes Ottokar in die Arme fällt (Vgl. Regieanweisung Z. 80). Auf Ottokars Wunsch, sie „ganz mein [zu] nennen“, reagiert sie, indem sie seine Formulierung aufgreift, wenn sie sagt: „[g]anz deine“ (Z. 97 f.).
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Am Ende des Gesprächs entwirft Ottokar die Vorstellung einer Aussöhnung zwischen den beiden Familien. Der Konjunktiv (Z. 201–210) verdeutlicht, dass diese friedliche Zukunft lediglich als Wunschbild erscheint und kaum realistisch wirkt.
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Ein genauer Blick auf Ottokars Gesprächsverhalten zeigt seinen inneren Zwiespalt. Zu Beginn wirkt er fürsorglich und liebevoll, erkundigt sich nach Agnes’ Befinden (Vgl. Z. 17, Z. 33) und bemüht sich um ihre Sicherheit. Nachdem die beiden jedoch ihr Vertrauen bekräftigt haben und über den Tod seines Bruders sprechen, verändert sich sein Auftreten: Er reagiert ungehalten auf Agnes’ Sichtweise und nimmt eine überlegene, bevormundende Rolle ein. Rhetorische Fragen wie „Muß ich dich / So früh schon mahnen?“ (Z. 122 f.) stellen ihr Urteilsvermögen infrage. Auffällig ist zudem, dass er wiederholt betont, die Wahrheit zu „wissen“ (Vgl. Z. 157 f.) und seine Aussagen – im Gegensatz zu Agnes – überwiegend im Indikativ formuliert. Für ihn besteht „kein Zweifel“ (Z. 106) an der Schuld ihrer Familie (Vgl. Z. 126 f.), was seine starre Haltung unterstreicht.
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Agnes bildet ein vielschichtiges Gegenstück zu Ottokar. Sie gewinnt bereits früh an Eigenständigkeit: Als Ottokar Wasser holen geht, entscheidet sie – gestützt durch die Regieanweisung „Agnes steht auf“ (Z. 10) – ihren vermeintlich nahen Tod gefasst anzunehmen. Diese Haltung verleiht ihr Würde und innere Stärke; sie beschreibt sich sogar als Fürstin, die trotz ihres Verlusts über ihr Leben bestimmen kann (Vgl. Z. 11 ff.). Gleichzeitig zeigt sich Agnes im Gespräch selbstbewusst und schlagfertig, gelegentlich sogar ironisch. So deutet sie Ottokars gut gemeinten Vergleich des Wassers mit „Arzenei“ (Z. 43) bitter um und unterstellt ihm, als „Arzt“ Gefallen an ihrem Tod zu finden (Vgl. Z. 47 f.). Trotz einzelner spitzer Bemerkungen ist sie es jedoch, die den Erkenntnisprozess vorantreibt: Sie fordert ein offenes Gespräch, zieht Parallelen zu den ungeklärten Gewaltfällen und stellt hypothetische Fragen (Vgl. Z. 189). Dadurch erleichtert sie Ottokar allmählich, seine festgefahrene Sicht aufzugeben.
Vergleich
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Die dargestellte Situation der Liebenden erinnert an zahlreiche Konstellationen in der Literatur, in denen äußere Umstände intime Bindungen zerstören.
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In Büchners Woyzeck scheitert die Beziehung zwischen Woyzeck und Marie an gesellschaftlicher Enge und moralischer Desorientierung. Im bürgerlichen Realismus zeigt Fontanes Effi Briest, wie gesellschaftliche Konventionen und Ehransprüche die Freiheit des Individuums limitieren und Liebe verunmöglichen.
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Die Liebessituation zwischen Agnes und Ottokar in Kleists Die Familie Schroffenstein lässt sich in zentralen Aspekten aber auch mit der Beziehung zwischen Faust und Gretchen in Goethes Faust I vergleichen. In beiden Werken entsteht Liebe in einem feindlichen Umfeld und wird durch äußere Mächte zerstört. Während bei Kleist ein ererbter Familienkonflikt die Beziehung bedroht, steht bei Goethe die bürgerliche Moral im Zentrum, die Gretchens Handlungsspielräume massiv einschränkt.
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Wie Agnes erfährt auch Gretchen die Wahrheit über ihren Geliebten spät und unter dramatischen Umständen. Agnes erkennt, Ottokar sei „Ottokar von Schroffenstein“ (Z. 65) und habe ihren Tod geschworen (Z. 69 f.), während Gretchen zunehmend ahnt, dass Fausts Verbindung zu Mephisto unheilvoll ist. In beiden Fällen wird Identität zum Auslöser existenzieller Angst.
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Ottokar bekräftigt seine Liebe, indem er das vermeintliche Gift teilt (Z. 78–82), und fordert gegenseitiges Vertrauen (Z. 89–101). Faust hingegen bleibt ambivalent; sein Begehren besitzt nicht dieselbe moralische Bindungskraft. Während Agnes und Ottokar versuchen, die äußeren Zwänge durch Treue zu überwinden, bleibt Gretchen letztlich schutzlos.
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Tragisch ist in beiden Fällen der Einfluss des sozialen Umfelds: Valentins Beschuldigung Gretchens als Hure spiegelt die zerstörerische Macht der Gesellschaft; bei Kleist zwingt die Fehde die Liebenden in eine Feindschaft. Während Agnes und Ottokar noch an die Möglichkeit einer Versöhnung der Väter glauben (Vgl. Z. 203–208), ist bei Goethe Verständigung ausgeschlossen und endet in Gretchens Vernichtung.
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Zwar erscheint der Tod in beiden Werken als letzter Ausweg der Liebenden, doch unterscheidet sich seine Funktion deutlich: Agnes denkt an gemeinsamen Tod als Erfüllung („O wär es Gift, und könnt ich mit dir sterben!“, Z. 82 f.), während Gretchen im Kerker scheitert, jedoch durch göttliche Gnade gerettet wird. Bei Kleist bleibt Erlösung weltlich und utopisch; bei Goethe erhält sie metaphysische Dimension.
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Damit zeigen beide Werke, dass Liebe an äußeren Ordnungen scheitert: bei Kleist an ererbtem Misstrauen, bei Goethe an bürgerlicher Moral und Fausts Verantwortungslosigkeit.
Schluss
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Insgesamt verdeutlicht der Auszug das Spannungsfeld von Misstrauen, Familienfehde und Identitätssuche und führt die Macht familiärer und gesellschaftlicher Strukturen über das Individuum eindringlich vor Augen.
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Die Beziehung von Ottokar und Agnes wirft außerdem die Frage auf, ob sich die Wahrheit überhaupt feststellen lässt und ob Vertrauen möglich ist – oder ob man doch lieber das vermeintlich Sichtbare, das „mit den eigenen Augen“ Wahrgenommene, glauben sollte.