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Inhaltsverzeichnis

Aufgabe 3 – Roman

Interpretation eines literarischen Textes

Thema

Thomas Willmann (* 1969): Das finstere Tal (2010)

Aufgabenstellung

a)

Interpretiere den vorliegenden Ausschnitt aus Thomas Willmanns Roman Das finstere Tal. (ca. 70 %)

b)

Zeige ausgehend von deinen Ergebnissen vergleichend auf, wie eine bedrohliche Situation in einem anderen literarischen Werk gestaltet wird. (ca. 30 %)

Vorbemerkung

Thomas Willmanns Roman spielt um 1900 und erzählt von einem Fremden der zu Fuß mit einem schwer beladenen Maultier ein abgeschiedenes Hochtal in den Alpen erreicht. Als er sich einem Dorf nähert, trifft er auf ein Kind, das ihn nur schweigend anstarrt und dann in das Dorf läuft. Der folgende Ausschnitt entstammt dem ersten Kapitel des Romans.

Material

Das finstere Tal

Thomas Willmann

[...]

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Das Dorf war eine Ansammlung von vielleicht zwei Dutzend dunklen Gebäuden,
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die jenen wenigen Bauernhöfen glichen, die versprengt im Tal lagen. Die Siedlung
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hatte etwas trutzig Gedrängtes, als hätten ihre Erbauer nur deswegen widerwillig die
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Nähe zueinander gesucht, weil die Abneigung gegen die übrige Welt in ihnen einen
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Druck aufbaute, der alles Auseinanderstrebende niederhielt. Das Dorf wirkte wie eine
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Art zweiter Festung inmitten des Schutzwalls des Bergkessels – aber man hätte nicht
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leicht entscheiden mögen, ob es eine weitere Verteidigungslinie gegen Eindringlinge
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von außen war oder ob es eine Wehrgemeinschaft war gegen den von der Natur ge-
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schaffenen Ort selbst, der sie duldete und umschloss.
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Jedenfalls spazierte der Fremde unbehelligt und allein in das Dorf hinein wie in eine
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aufgelassene Burg. Doch kaum war er auf dem engen Hauptplatz angelangt, endete
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auch diese Illusion. Dort waren, wie zufällig, mehrere kräftige Männer mit runden,
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schwarzen Hüten versammelt. Viel Anstalten machten sie nicht, vorzugeben, hier mit
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anderem beschäftigt zu sein als dem Warten auf seine Ankunft. Der Fremde grüßte sie
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freundlich, aber stumm mit einem Kopfnicken. Die Männer kamen näher, bildeten um
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den Eindringling, der auf der Mitte des Platzes mit seinem Maultier zum Stehen gekom-
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men war, einen Halbkreis, der nur wenig enger hätte werden müssen, um unverhohlen
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bedrohlich zu sein. Rundum öffneten sich allmählich Türen und Fenster, Menschen
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kamen aus den Gassen, so dass sich die Ränder des Platzes bald mit leise tuschelnden
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Zuschauern füllten. Die Männer, die dem Fremden gegenübertraten, ein halbes Dutzend
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an der Zahl, hatten zum Teil gerade erst die Jugend hinter sich gelassen, zum Teil waren
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sie gerade noch im besten Mannesalter. Der Jüngste hatte seine Wangen, die in der
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Kälte rosig leuchteten, glatt rasiert; zwei trugen Schnauzbärte, einer einen buschigen
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Backenbart, zwei sauber gestutzte, schwarze Vollbärte – aber nichts davon konnte die
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Ähnlichkeit ihrer Gesichter verbergen. Hätte man nur die zwei Männer gesehen, die
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sich am wenigsten glichen, so wären sie einem noch immer erkennbar als Typen einer
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Region erschienen. Durch die anderen vier aber waren ihre Gemeinsamkeiten wie die
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Unterschiede über so vielfältige, feine Stufen vermittelt – fand sich jeder Zug, der
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einen der Männer speziell auszuzeichnen schien, in wenigstens einem der anderen wie-
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der –, dass höchstens der Grad, nicht aber die Tatsache ihrer Verwandtschaft unter-
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einander zweifelhaft schien.
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Das erste Wort sprach einer der beiden Vollbärtigen, offenbar der Älteste in dem
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Halbkreis, in dessen Mitte er dem Fremden genau gegenüberstand
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„Grüß dich.“
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„Grüß euch“, antwortete der Neuankömmling, mit einem langsamen, unbeugsamen
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Blick durch das Halbrund.
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„Bist fremd hier.“
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Ob Frage oder Feststellung war nicht zu entscheiden. Der Mann nickte.
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„Wer bist du?“ Die Frage kam hart, gerade, in den kehligen Lauten des hiesigen
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Dialekts.
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„Greider“, antwortete der Fremde, noch knapper, grader heraus.
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„Und was willst?“
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„Quartier.“
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„Wirst net finden. Mir brauchen keine Fremden. Is kei guade Zeit, es kommt bald
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der Schnee. Dann kommst nimmer nunter. Schaug lieber, dass d’ glei umkehrst.“
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Greider stand still da, als seien die Worte nicht an ihn gerichtet. Ruhig und gleichmäßig
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dampfte sein Atem in der kühlen Luft, durch die – obwohl kaum Wolken zu sehen
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waren – zitternd vereinzelte Schneekörner tanzten.
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„Hast net g’hört? Umkehr’n sollst. Gibt für Fremde nix hier im Tal.“
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Wieder blieb Greider stumm, als hätten die Worte einem anderen gegolten und als
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wartete er darauf, endlich angesprochen zu werden.
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Die Stimme des anderen – bisher von einem nachsichtigen Ton, als spräche sie zu
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einem, der unwissentlich einen Fehler gemacht hatte – wurde eisiger.
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„Was willst überhaupt hier?“
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Nun endlich antwortete Greider, höflich, ganz selbstverständlich und indem er auf
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die langen, runden Lederfutterale und die seltsame, zusammengeklappte Holzkonstruk-
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tion zeigte, die auf dem Rücken seines Maultiers festgezurrt waren:
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„Malen.“
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Ein fast erschrockenes Tuscheln und Raunen brandete rings auf – ,Was hat er gesagt?
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Malen? Wirklich Malen?‘
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Einen kurzen Moment blickte auch der Bärtige verdutzt, aber dann, als er wusste,
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dass nun alle auf seine Antwort warteten – denn es schien völlig ohne Zweifel, dass er
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allein hier Wort zu führen hatte –, da fragte er, so laut, dass jeder es sicher hören
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konnte, und voll höhnisch gespielter Freundlichkeit:
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„Ah so, mahlen willst? Mir ham aber schon an Müller!“
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Das rief johlendes Gelächter im Rund hervor. Nur Greider verzog so wenig die
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Miene wie die sechs Männer, die um ihn standen.
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Ganz ernst und betont höflich, als hätte ihn der andere tatsächlich missverstanden,
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sagte er:
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„Net Müller. Maler. Bilder will ich malen.“
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Da war nun der Bärtige um eine Antwort verlegen. Greider nutzte den Moment, um
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erstmals ungefragt zu sprechen. Als hätte der andere nicht erklärt, dass es so etwas hier
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nicht gebe, sagte er:
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„Ich zahl’s Quartier auch gut.“
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Währenddessen machte er sich an einer seiner Satteltaschen zu schaffen, öffnete ihre
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Riemen, griff hinein. Sofort wurde der Halbring der Männer um ihn enger, ihre Körper
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spannten sich, schienen zum Sprung auf ihn bereit. Greider aber holte in aller Ruhe
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einen faustgroßen Lederbeutel aus der Tasche und warf ihn dem Bärtigen zu. Als jener
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ihn aus der Luft fing, hörte man das Scheppern und Klirren von Metall.
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Der Bärtige schien einen Moment unsicher, als traute er dem Säcklein nicht.
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Greider forderte ihn mit einem Nicken auf, es zu öffnen. Der Bärtige lockerte den
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Zugriemen, der den Beutel geschlossen hielt, weitete die Öffnung und griff hinein.
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Heraus zog er eine goldene Münze.
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Er hielt sie zwischen Daumen und Zeigefinger hoch, so dass alle rundum sie sehen
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konnten. Dann ließ er das Säckchen in der Linken klimpern, um ihnen wortlos einen
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Eindruck zu geben, welch handfesten Schatz er da hielt. Sofort wurde das Tuscheln
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wieder reger.
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Greider lächelte den Bärtigen an, der sichtlich ins Nachdenken gekommen war.
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Wägend blitzten die Augen unter der Hutkrempe hervor, huschten zwischen der Münze
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und Greider hin und her; zwei-, dreimal noch prüfte seine Hand das Gewicht des pral-
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len Beutels.
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„Wie lang hast g’sagt willst bleiben?“, fragte er den Fremden misstrauisch, keinen
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Zweifel lassend, dass lang noch nicht entschieden war, ob das Bleiben überhaupt mög-
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lich sein werde.
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„An Winter.“
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„Wird net reichen für an ganzen Winter, der Beutel“, sagte der Bärtige, aber man
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merkte ihm an, dass er nicht recht sicher war, ob ihn seine Gier da zu viel wagen ließ.
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„Hab schon noch“, meinte Greider – so, als wäre es ganz selbstverständlich, dass
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eine Summe, die er unten in einem der feinen Hotels der großen Städte für mehrere
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Wochen Logis bezahlt hätte, hier in diesem abgelegenen Tal eine Unterkunft nicht für
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ein Vierteljahr erkaufen konnte.
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Die Augen des Bärtigen wurden groß, er schaute seine Kumpane an, blickte sich
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nach den Umstehenden um. So viel Geld, das einem offensichtlichen Narren gehörte,
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der nur darum zu bitten schien, es ihm abzunehmen – das mochte wahrhaft ein Ge-
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schenk Gottes sein.
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„So?“, gab er Greider lauernd zurück. „Lass seh’n.“
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Greider schüttelte den Kopf. Er wusste wohl, dass er den Plan seiner Überwinterung
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in diesem Tal nur Wirklichkeit werden lassen konnte, indem er die Gier seiner Bewoh-
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ner weckte – einem anderen Argument würden sie nicht zugänglich sein. Aber er durfte
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sich nicht so leichtsinnig und naiv darstellen, dass die Gier dieser Leute den schnellsten
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Weg zu ihrer Befriedigung suchen würde: Greider für immer ein Quartier knapp unter
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der Scholle zu bereiten und als Gegenleistung dafür sein ganzes Hab und Gut in Besitz
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zu nehmen.
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„Des zeig ich, wenn ich’s Quartier hab.“
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Einen winzigen Ruck gab es dem Bärtigen, dass ihm dieser scheinbare Narr nun
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doch Schranken aufweisen wollte. Er schaute in Greiders Gesicht, auf die Satteltaschen
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und wieder auf Greider. Als wollte er sagen: ,Es kann das Geld nirgends sein als in
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deinen Taschen, und du bist allein hier oben. Aber gut, wir sind ja keine Wegelage-
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rer ... Solang einer die Versuchung nicht größer macht, als man einem gewöhnlichen
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Christenmenschen zumuten kann.‘
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„Mir müssen überlegen“, meinte er dann nach einer kleinen Weile. Dies fand hörbar
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allgemeine Zustimmung. „Am besten, du gehst vorerst zum Wirt. Trinkst was. Des
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kannst auch vertragen, wennsd’ dann wieder umkehrn musst.“
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Greider nickte, mit einem Lächeln, das sich sicher schien, dass Letzteres nun nicht
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mehr der Fall sein würde. [...]

Aus: Willmann, Thomas: Das finstere Tal, Ullstein Verlag: München, 3. Auflage 2011, S. 13-19.

Rechtschreibung und Zeichensetzung entsprechen der Textquelle.

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