Aufgabe 4
Textbezogenes Schreiben: Analyse pragmatischer Texte
Thema: Alan Posener (* 1949): Die Sprache als Fahne (Auszug; 2021) Aufgabenstellung:- Analysiere den Auszug aus dem Text Die Sprache als Fahne von Alan Posener. Berücksichtige dabei den Gedankengang, die sprachlich-stilistische Gestaltung sowie die Intention des Textes.
- Nimm – ausgehend von deinen Analyseergebnissen und vor dem Hintergrund deiner Kenntnisse aus dem Unterricht – Stellung zu Alan Poseners Position.
(70 %)
(30 %)
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„Amerika, du hast es besser/Als unser Kontinent, das alte,/Hast keine verfallene
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Schlösser/Und keine Basalte.“ So reimte Deutschlands Dichterfürst 1827, und man
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muss feststellen: Goethe, du hattest es besser: Um den Reim auf „Basalte“ zu ermög-
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lichen, veränderte er einfach das Geschlecht des Worts „Kontinent“. Es ist auch gar
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nicht einsichtig, warum eine Landmasse weiblich oder männlich sein sollte und nicht
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sächlich. Wer – wie ich – als Zuwanderer die Geschlechter deutscher Wörter – „der“
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Mond, obwohl die romanischen Sprachen unseren Trabanten als weiblich ansehen,
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„die“ Sonne, obwohl es bei den Nachbarn umgekehrt ist – lernen musste, beneidet
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Goethe um seine Nonchalance. Heutige Deutschlehrer*innen und Korrektor*innen
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würden außerdem – wie mein Word-Korrekturprogramm – „keine verfallene Schlös-
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ser“ als Fehler ankreiden. Unsere Sprache war schon mal flexibler.
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Wie Sie bemerkt haben, verwende ich oben das Gendersternchen, um männliche, weib-
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liche und im Hinblick auf ihre sexuelle Identität – oder „Gender“ – diverse Menschen
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einzubeziehen. Früher habe ich auch das – inzwischen als unzureichend inklusiv ver-
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worfene – „Binnen-I“ verwendet. Aber – ich gebe es zu – nicht eigentlich aus edlen
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Gründen, sondern oft, um Reaktionäre zu ärgern. Oder um Fortschrittlichen zu signa-
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lisieren, dass ich selbst nicht reaktionär bin. Jedenfalls nicht im Hinblick auf die gesell-
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schaftliche Inklusion. Und hier liegt ein Problem. Sprache wird allzu oft nicht als Ver-
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ständigungsmittel benutzt, sondern als Fahne: Seht her, ich gehöre zu dieser oder jener
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Gruppe! […]
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Amerika hat es auch in Bezug auf das Gendern leichter. Es hat nicht die „verfallene
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Schlösser“ der deutschen Grammatik, als da sind „der, die, das“ (übrigens werden die
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Artikel immer in der Reihenfolge aufgelistet: nie alphabetisch: „das, der, die“). Männ-
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lich zuerst: der Mann, die Frau, das – offensichtlich geschlechtslose – Kind. Dank
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„the“ kann die englische Sprache relativ leicht inklusiv werden. Ein paar Berufsbe-
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zeichnungen müssen geändert werden […] und ansonsten verlagert sich das ganze Pro-
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blem auf die Pronomina. Und wer nicht, wie es manche tun, einfach abwechselnd „he“
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oder „she“ benutzen will, kann auf die längst auch in der Alltagssprache übliche Varia-
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ante zurückgreifen, „they“ als ein Gender-inklusives Pronomen auch in der Einzahl zu
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verwenden […].
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Deutschland, du hast es schlechter. Hast Basalte und das grammatische Geschlecht.
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Und nur deshalb Binnen-I, Gendersternchen oder Genderdoppelpunkt und den entspre-
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chenden Schluckauf-Laut, wenn frau versucht, einen gestirnten oder gepunkteten Text
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zu lesen. Und, was schlimmer ist, einen Glaubenskrieg um das „Gendern“. Manche
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Universitäten legen inzwischen Wert auf die konsequente Verwendung von genderge-
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chter Sprache in Studien- und Prüfungsarbeiten. […] Auf der anderen Seite mobili-
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lisieren reaktionäre Kräfte für ein Verbot des Genderns. […] Damit ist der Sprachge-
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brauch zu einem Element des „virtue signalling“ der Linken und zu einer Fahne im
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Kulturkampf der Rechten geworden.
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Und das Problem damit eigentlich unlösbar. Das Problem nämlich, wie sich eine über
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Jahrhunderte entwickelte und sich immer noch entwickelnde Sprache mit grammati-
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schem Geschlecht so weiterentwickeln kann, dass sie die neuen Sensibilitäten des
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21. Jahrhunderts im Hinblick auf das „natürliche“ (ich weiß, ich weiß) Geschlecht
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reflektiert. Es ist ein bisschen wie beim Klimawandel. Den gab es immer, aber jetzt
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passiert er so rasend, dass wir uns vor die Notwendigkeit gestellt sehen, unsere gesamte
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Energieerzeugung und -nutzung sehr plötzlich umzustellen. Es sind übrigens fast im-
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mer dieselben Kräfte, die einerseits den Klimawandel oder die Dringlichkeit des
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gesellschaftlichen Wandels nicht wahrhaben, andererseits das „Gendern“ (gern mit
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hartem „G“ ausgesprochen) verbieten wollen.
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Und es sind auf der anderen Seite oft dieselben Kräfte, die einerseits mit dem Hinweis
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auf den „Klimanotstand“ tatsächlich möglichst viel – Inlandsflüge, Pkw in den Innen-
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städten, Eigenheime auf der Wiese, Steaks auf dem Teller – verbieten wollen, anderer-
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seits verbissen jedes vergessene Gendersternchen, jeden unterlassenen Schluckauf,
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jede unüberlegte Verwendung von „man“ verfolgen, die eine akademische Arbeit etwa
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über Sternenstaub oder Bodenqualität nur dann gelten lassen wollen, wenn die Autorin
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einen Kotau vor dem Stammessprachfetisch macht.
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Frankreich hat es in den Augen der Reaktionären besser, weil die Académie française
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einfach das Gendern verboten hat, angeblich weil es die Klarheit und Verständlichkeit
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der französischen Sprache unterminiere. […]
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Das deutsche Pendant zur Académie française ist die Deutsche Akademie für Sprache
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und Dichtung. Schon bei Vorlage ihres Berichts zur Lage der deutschen Sprache 2017
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sah ihr Mitglied Peter Eisenberg in den amtlichen Vorschriften zur Verwendung gen-
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dergerechter Sprache, wie sie etwa in Berlin gelten, „sprachpolizeiliche Allüren“. Im
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Interview mit dem Deutschlandfunk sagte Eisenberg: „Solche Eingriffe in die Sprache
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sind typisch für autoritäre Regimes, aber nicht für Demokratien.“ Für ihn bedeutet die
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Verwendung des Gendersternchens oder von Kunstbildungen wie „Geflüchtete“ statt
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„Flüchtling“ eine Vergewaltigung der Sprache. Die Politiker seien „gewählt worden,
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um den Willen ihrer Wähler zu verwirklichen. Und was machen sie als Erstes: Sie
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wollen die erziehen“.
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Hätte also die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung eine auch nur ähnliche
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Macht wie ihr Pendant in Paris, wäre es bald um die gendergerechte Sprache geschehen
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– jedenfalls in amtlichen Schriftstücken. Niemand könnte es einer Dichterin verweh-
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ren, sie dennoch zu benutzen. Da allerdings liegt die Häsin im Pfeffer: Gerade in amt-
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lichen Dokumenten stören der Genderstern und andere Versuche der Inklusion nicht
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wirklich; wir haben uns daran gewöhnt, dass solche Texte ohnehin schwer verständlich
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oder doch sehr umständlich sind. Dichter und Dichterinnen jedoch werden kaum von
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diesen sprachlichen Möglichkeiten oder Marotten Gebrauch machen.
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Die deutsche Sprache ist ohnehin dank ihrer Endungen äußerst silbenreich, was deut-
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sche Texte oft lang macht. In einem früheren Leben war ich hauptberuflicher Überset-
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zer, und bei der Übertragung englischer Texte ins Deutsche wurden sie um ein Viertel
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länger. Wolf Biermann schrieb über seine Nachdichtung der Sonette William Shake-
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speares: „Wie kriegt man einen breiten deutschen Hintern in die schmale englische
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Hose … Fünf Hebungen wie im Original sind zu wenig. Ich brauchte eigentlich Verse
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mit fast sieben Füßen, das entspräche in etwa dem quantitativen Unterschied der Spra-
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chen.“ (Übrigens nahm sich Biermann die Freiheit heraus, die ersten 77 Sonette, die
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nach Meinung der meisten Shakespeare-Expertinnen an einen jungen Mann gerichtet
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sind, an eine Frau zu richten. Er dürfe das, so Biermann, auch „weil das Englische so
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oft unklar ist in Bezug auf das Geschlecht …“)
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Wir wollen also – jenseits offizieller Dokumente – eine Sprache, die so „unklar in
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Bezug auf das Geschlecht“ und gleichzeitig so „schlank“ sei wie das Englische; jeden-
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falls wollen wir das, wenn wir uns nicht partout gegen jede Veränderung stemmen; ein
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Widerstand, der sich oft genug unter dem Deckmantel des Schutzes der Sprache in
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Wirklichkeit gegen die Sache wendet, die Gleichberechtigung und das Sichtbarwerden
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von Frauen, Schwulen, Lesben, queeren und trans Personen, und daher genauso „erzie-
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herisch“ und „sprachpolizeilich“ gemeint ist wie die von Eisenberg kritisierten Vor-
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schriften. Wenn die Grenzen meiner Sprache die Grenzen meiner Welt sind, wie Lud-
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wig Wittgenstein meinte, dann wollen Reaktionäre die Sprache eingrenzen, auf dass
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sich die Gedanken nicht entgrenzen. […]
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Die Aufgabe, eine zugleich elegante und inklusive Sprache zu entwickeln, bleibt.
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Einstweilen schadet es keiner und keinem, wenn in Verordnungen und Gesetzestexten
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das Gendersternchen und möglichst nur genderneutrale Formulierungen – „Lernende
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und Lehrende“ etwa statt „Schüler und Lehrer“ – benutzt werden. Den Gebrauch in
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akademischen und schulischen Arbeiten vorzuschreiben, geht allerdings zu weit. Ver-
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bote und Gebote schaffen kein Umdenken, sondern nur böses Blut.
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Die Weisheit der Menge wird Formulierungen finden, die jenseits von Stern und
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Schluckauf die Mängel der Sprache kompensieren; Dichter und Dichterinnen können
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dabei helfen. Und damit das Geschlecht, sollten Stern und Schluckauf als Stachel im
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Fleisch des Sprachkörpers bleiben. Sie werden aber, davon bin ich überzeugt, nicht das
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letzte Wort bleiben.
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Genau deshalb sollte sich aber der Kulturkampf wieder um die Sache selbst drehen,
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um die Rolle von Genderkonstruktionen und die Überwindung von Klischees in der
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Gesellschaft. Mein Enkelsohn ist kein halbes Jahr alt. Ich wäre froh, wenn er sich nicht
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wie ich mit Erwartungen an sein Männlichsein herumschlagen müsste, die aus einer
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anderen Welt stammen. Wie Ray Davies sang: „Boys will be girls and girls will be
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boys.“ Nur die Sprache dafür haben wir noch nicht. Kommt noch.
Anmerkungen zum Autor: Alan Posener ist ein britisch-deutscher Journalist und Autor. Aus: Alan Posener: Die Sprache als Fahne, Zeit Online, 03.06.2021.