Textbezogenes Schreiben: Interpretation literarischer Texte
Thema: Kim de l’Horizon (* 1992): Blutbuch (Auszug; 2022) Aufgabenstellung:- Interpretiere den Auszug aus dem Roman Blutbuch von Kim de l’Horizon.
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Prolog
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Beispielsweise habe ich „es“ dir nie offiziell gesagt. Ich kam einfach mal geschminkt
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zum Kaffee, mit einer Schachtel Lindt & Sprüngli (der mittelgrossen, nicht der kleinen
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wie üblich), oder dann später in einem Rock zum Weihnachtsessen. Ich wusste, oder
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nahm an, dass Mutter es dir gesagt hatte. „Es“. Sie hatte „es“ dir sagen müssen, weil
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ich „es“ dir nicht sagen konnte. Das gehörte zu den Dingen, die mensch sich nicht
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sagen konnte. Ich hatte „es“ Vater gesagt, Vater hatte „es“ Mutter gesagt, Mutter muss
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„es“ dir gesagt haben.
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Andere Dinge, über die wir nie sprachen: Mutters riesiges Muttermal auf dem linken
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Handrücken, die Schwere, die Vater – wenn er von der Arbeit heimkam – ins Haus
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schleppte; wie einen immensen, nassen, vermodernden toten Hirsch ins Haus
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schleppte; dein lautes Schmatzen, deinen Rassismus, deine Trauer, als Grossvater
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starb; deinen schlechten Geschmack, wenn es um Geschenke geht; die Liebhaberin,
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die Mutter hatte, als ich etwa sieben war, den silbrigen Ohrenring, den Mutter von ihrer
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Liebhaberin zum Abschied bekommen hatte, der wie eine lange Träne von Mutters
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Ohrläppchen bis fast an ihr Schlüsselbein reichte, als sie ihn noch anzog, um Vater zu
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provozieren; die unzähligen Stunden, die ich damit verbrachte – wenn ich mich unbe-
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obachtet fühlte –, den Ohrring von einer Hand in die andere gleiten zu lassen, den
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Ohrring so in die Sonne zu halten, dass er flammende Muster an die Wände warf,
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meine unendliche Lust, diesen Ohrring anzuziehen, meine unsägliche innere
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Stimme, die mir das verbot, meinen unendlichen Wunsch, einen Körper zu haben, Mut-
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ters unbändigen Wunsch, durch die Welt zu reisen. Wir sprachen nie über Politik oder
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Literatur oder die Klassengesellschaft oder Foucault oder darüber, dass Mutter die
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Matur auf dem zweiten Bildungsweg abbrach, als ich auf die Welt kam. Wir sprachen
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nie darüber, dass du einen Bart gekriegt hast, als du mit Mutter schwanger warst, dass
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das „Hirsutismus“ heisst, wir sprachen nie darüber, wie du das behandelt hast, ob du
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dich rasiert, gewachst oder die dunklen Haare mit der Pinzette ausgerissen hast, ob du
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Antiandrogene nimmst, um das Testosteron – das dein Körper „im Übermass produ-
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ziert“ – zu unterbinden, und wir sprachen nie darüber, wie du angeschaut wurdest, wie
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sehr du dich geschämt haben musst, wir sprachen sowieso nie über Scham, nie über
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den Tod, nie über deinen Tod, nie über deine wachsende Vergesslichkeit, wir sprachen
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sehr oft über die Familienalben und über jedes einzelne der Bilder darin, allerdings
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sprachen wir nie darüber, wie lächerlich Grossvater auf diesen Fotos aussieht, die er
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mit seiner Burschenschaft aufgenommen hat, wie komisch sie ihre Brust plustern und
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breitbeinig in die Kamera grinsen; wir haben nie über das Mädchen gesprochen, das
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bis zu einem gewissen Alter durch die Fotoalben geistert, meistens an deiner Hand,
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manchmal an einer der Hände deiner fünf Brüder, nein, wir haben nie darüber gespro-
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chen, wohin diese jüngste Schwester namens Irma verschwunden ist. Wir sprachen nie
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darüber, ob es für andere Familien auch so anstrengend ist, so zu tun, als wären sie wie
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die anderen Familien, wir sprachen nie über Normalität, nie über Heteronormativität,
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Queerness, wir sprachen nie über Klasse, die sogenannte „Dritte“ Welt und die gehei-
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men Geflechte der Pilze, die viel grösser und feiner sind als in unserer Vorstellung,
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wir sprachen nie über all die Wege, die diese Welt bereithält, die sie uns bereithält, um
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vor uns selbst davonzulaufen, die gewundenen Wege, die im Schatten grosser Pappeln
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liegenden Wege, die öden, endlosen Wege, die diese Welt umspinnen, wie ein Faden
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einen Fadenknäuel umspinnt, aber wir sprachen über die Wege, die alle zusammen
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„Jakobsweg“ heissen.
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Vor einigen Wochen sassen wir auf dem Sofa, du hast mir eines der Fotoalben gezeigt.
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Ich habe mich gezwungen, dasselbe Interesse vorzutäuschen wie die letzten zehn Male,
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als du mir dieselben Fotos mit denselben Kommentaren erläutert hast. Wir schauten
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uns ein Foto deiner Mutter an, auf dem sie schwanger mit dir ist, ein Foto, das mich
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die ersten Male überrascht hat, weil da einfach eine nackte Frau zu sehen ist, in einem
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kleinbürgerlichen Familienalbum von 1935. Plötzlich hast du deinen Redefluss unter-
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brochen, mich angeschaut und gefragt: „Warum bist du eigentlich nie da?“
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Ich sitze hier an meinem Schreibtisch in Zürich, ich bin sechsundzwanzig, es wird
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langsam dunkel, es ist einer dieser Abende, die noch Winterabende sind, während
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mensch schon eine Vorahnung von Frühling riecht, ein samtiger Geruch: von Bodnant-
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Schneeballblüten, übertrieben süss und weissrosa; von Menschen, die wieder beginnen
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zu joggen und ihren Schweiss durch die viel zu sauberen Strassen tragen.
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Ich jogge nicht. Ich sitze hier und kaue meine Fingernägel, trotz des Ecrinal-Bitterna-
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gellacks, ich kaue, bis der weisse Rand abgekaust ist und noch weiter, ich dränge den
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weissen Rand beständig nach hinten. Vor einem halben Jahr habe ich diesen ultralang-
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weiligen Job im Staatsarchiv angenommen, ich stecke den ganzen Tag zwischen Rega-
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len tief unter der Erde, katalogisiere Krankenakten längst verstorbener Patient*innen,
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ich spreche mit niemandem, bin zufrieden, bin unsichtbar, lasse meine Haare
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wachsen, gehe nach Hause und setze mich hierhin, an meinen Schreibtisch, von wo
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aus ich die Buche im Nachbargarten sehen kann, von wo aus mir die Erinnerungen an
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die Blutbuche kommen, unsere Blutbuche, die grosse, rotlaubige Buche in der Mitte
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unseres Gartens. Ich schreibe. Wenn meine Freund*innen Dina und Mo, die auch
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irgendwo sitzen und schreiben, mir schreiben: „Kommst du was trinken?“, dann
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schreibe ich nicht zurück. Ich versuche zu schreiben, und wenn ich nicht schreiben
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kann, wenn ich im Wattenmeer der Vergangenheit versinke, dann rasiere ich mich,
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dusche und fahre mit dem Fahrrad in die Aussenbereiche der Stadt, in die Aussenröcke,
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wie die Engländer*innen sagen, ich suche die Tankstellen und Fussballplätze ab, ich
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tigere vor den Gyms auf und ab, die Grindr-App ist meine bleiche Fackel in der Nacht
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der Agglomeration, sie weist mir den Weg zu den Männern, die ich suche, die ich
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brauche, die ich mich brauchen lasse, von denen ich mir hinter dem Fahrradhäuschen
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den Rock hochschieben lasse […], dann gehe ich nach Hause […]. Dann setze ich mich
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zurück an den Schreibtisch, in das Blickfeld der Buche, und ich merke erst jetzt, dass
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ich schon diese ganze Zeit an dich schreibe. Und wenn ich nicht schreibe, dann lese
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ich oder denke an die Möglichkeit, meinen Körper auf den Jakobsweg zu geben, ich
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denke an die Möglichkeit, zu gehen, bis ich an nichts mehr denke oder nach Santiago
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de Compostela gelange oder ans Meer, und ich denke an die Möglichkeit, das alles
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nicht zu tun.
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Wir sprachen nie darüber, dass du eines Nachmittags nicht mehr nach Hause fandest
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und Mutter einen Anruf von der Polizei erhielt. Wir sprachen nie darüber, dich in ein
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Heim zu geben, und als du einen schlimmen Schub hattest vor einem Monat und in
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einem Rehazentrum aufgewacht bist und gefragt hast, wo denn der Balkon hin sei mit
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der Aussicht über Bern, da hat Mutter gesagt: „Aber den haben sie doch abgenommen,
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der war nicht mehr sicher.“ Da hast du gesagt: „Ach ja, stimmt“, und hast etwas zu laut
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über dich selbst gelacht und dann von den Geranien auf dem Balkon gesprochen. Ich
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habe Mutter gehasst für ihre Feigheit, dir nicht die Wahrheit zu sagen, ich war erst
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gerührt und dann gerührt von ihrer plötzlichen Sorge um dich, als ich es sein wollte.
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Plötzlich ist sie die caring daughter, aber ich nicht, dachte ich, mich kriegst du nicht
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zur caring daughter, Mutti, und habe mich noch kälter von Mutter verabschiedet als
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sonst. Wir sprechen nicht über die hohe Wahrscheinlichkeit, dass du in den nächsten
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sechs Monaten einen weiteren Schub machen wirst („sie wird einen Schub machen“ –
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diese Ärzt*innenprache, als würdest du das bewusst machen), und wir sprechen nicht
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über die hohe Wahrscheinlichkeit, dass dieser Schub den Rest deines Erinnerungsver-
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mögens tilgen wird.
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Jetzt ist es Nacht, und ich stelle mir vor, wie auch du am Fenster des Zimmers in
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der Reha stehst und der Nacht ins Gesicht schaust. Ich spüre, wie du langsam ver-
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schwindest. Liebe Grossmutter, ich möchte dir noch schreiben, bevor du ganz aus dei-
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nem Körper verschwunden bist oder keinen Zugriff auf deine Erinnerungen mehr hast.
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Aus: Kim de l’Horizon: Blutbuch. Roman. Köln: Dumont 2022, S. 9–13. Rechtschreibung und Zeichensetzung entsprechen der Textquelle (Schweizer Orthografie).