Lerninhalte in Deutsch
Inhaltsverzeichnis

Leseverstehen

Material

Nina Himmer: Bin gleich da!

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(1) Kleines Experiment: Öffnen Sie die Stoppuhr auf Ihrem Handy. Starten Sie diese, schließen Sie
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die Augen und spüren Sie der Zeit nach. Sobald Sie glauben, dass eine Minute vergangen ist, stoppen
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Sie die Uhr. Wie schnell oder langsam ist die Minute für Sie vergangen? Um wie viel haben Sie sich
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verschätzt?
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Der Psychologe Jeff Conte von der Universität San Diego hat ähnliche Versuche mit seinen Probanden
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durchgeführt. Und dabei festgestellt, dass Menschen das Verstreichen von Zeit nicht nur unterschied-
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lich empfinden, sondern dass ihre Einschätzung auch etwas über ihre Persönlichkeit verrät. Eine
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Gruppe stoppte die Zeit im Schnitt nach 58 Sekunden, eine andere nach 77 Sekunden. Zeit vergeht
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für Menschen also auch unabhängig von äußeren Umständen unterschiedlich schnell. Personen mit
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präzisem Zeitgefühl waren dabei oft ehrgeizige, leistungsorientierte und durchorganisierte Typen,
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Spätstoppende hingegen eher entspannte und kreative Charaktere. Wenig überraschend: Menschen
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aus der ersten Gruppe hatten meist keine Probleme mit Pünktlichkeit, während sich viele aus der
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zweiten Gruppe als chronische Zuspätkommer entpuppten.
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(2) Wohl jeder kennt so jemanden, der andauernd zu spät kommt und damit die Nerven im Freundes-
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kreis strapaziert. Oder vielleicht sind Sie selbst die Person, die ständig entschuldigende Nachrichten
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verschickt, die Bahn verpasst oder abgehetzt in ein Meeting stolpert? Die entlastende Nachricht der
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Wissenschaft: Das liegt keineswegs nur an mieser Planung, sondern hat auch viel mit der Persönlich-
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keit zu tun – und ist deshalb gar nicht so leicht zu ändern.
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(3) Der Zeitforscher Marc Wittmann erforscht seit vielen Jahren das Phänomen der Zeitwahrnehmung
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– und kommt wie sein amerikanischer Kollege zu dem Schluss, dass es in Sachen innerer Taktung zwei
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Typen gibt: zeitorientierte und erlebnisorientierte. „Erstere sind strukturiert, haben die Uhr stets im
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Blick und planen realistisch, wohingegen erlebnisorientierte Menschen die Uhrzeit schnell vergessen,
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präsenter im Moment sind und den Zeitaufwand für Aufgaben eher unterschätzen“, erklärt Wittmann.
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Vor dem Arzttermin mal eben schnell noch die Freundin anrufen? Um dann etwas später den Huch
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schon-so-spät-Moment zu erleben und sich abzuhetzen? „Das ist typisch für erlebnisorientierte Men-
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schen“, so der Forscher. Ihre Unpünktlichkeit mag im Alltag anecken, ist aber nicht bloß ein Defizit.
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„Diese eigenzeitorientierten Menschen leben mehr im Hier und Jetzt“, sagt Wittmann. Und die Zeit
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zu vergessen ist in unserer durchgetakteten Welt fast schon ein Privileg.
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(4) Und doch ist da auch die andere Seite. Wenn einer zu spät kommt, muss ein anderer warten.
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„Jemanden warten zu lassen gilt als unhöflich, respektlos und nachlässig – und ist mit entsprechend
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negativen Gefühlen verknüpft“, sagt die Psychologin Isabell Winkler von der Technischen Univer-
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sität Chemnitz. Sie untersucht für eine Studie gerade beides: Wie sich Menschen beim Warten fühlen
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und wovon abhängt, wie pünktlich sie zu einem Termin kommen.
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Dabei haben sich klare Muster gezeigt. Etwa, dass Menschen bei digitalen Terminen tendenziell
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pünktlicher sind. Wer nur den Laptop aufklappen muss, kann nun mal keine U-Bahn verpassen oder
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im Stau stehen. Außerdem sind Menschen eher pünktlich, wenn sie einen Termin zum ersten Mal
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wahrnehmen, Routinen hingegen begünstigen Unpünktlichkeit. Daneben spielt die Erwartungshal-
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tung eine Rolle: „Wenn man davon ausgeht, dass alle anderen pünktlich sein werden, bemüht man
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sich selbst auch mehr darum“, sagt Winkler.
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(5) Sanktionen oder negative Konsequenzen trimmen ebenfalls auf Pünktlichkeit. So gibt es etwa
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Online-Sprachkurse, bei denen man sich schon bei wenigen Minuten Verspätung nicht mehr einloggen
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kann. Auch im Theater schließen sich die Türen bei Vorstellungsbeginn. Und dann ist da die Sache
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mit der Art des Termins. „Kurz gesagt: Je wichtiger eine Verabredung ist, desto pünktlicher sind die
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Menschen“, sagt Winkler. Das verdeutlicht, dass Zeit und der Umgang damit oft auch eine Frage von
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Macht und Hierarchien ist. Mitunter wird Unpünktlichkeit sogar inszeniert, etwa zwischen Staats-
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chefs. Wer kann wen warten lassen? Auch das Treffen mit dem Chef verbummelt man seltener als
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das Mittagessen mit der Kollegin oder den Kinoabend mit dem Partner.
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„Ha!“, mag da mancher ausrufen: „Die können also schon pünktlich sein, wenn sie nur wollen.“
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Zeitforscher Wittmann schüttelt den Kopf: „So einfach ist es nicht“, sagt er. Natürlich können es
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auch regelmäßige Zuspätkommer irgendwie schaffen, Termine einzuhalten. Aber es erfordert ungleich
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mehr Anstrengung und Aufwand.
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(6) Dass Menschen Zeit verzerrt wahrnehmen, wurde vielfach bestätigt. Wittmann etwa ließ Versuchs-
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personen 7,5 Minuten warten und befragte sie danach zur gefühlten Wartezeit – die Angaben variierten
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zwischen zwei und 20 Minuten. Zuspätkommer ticken also buchstäblich anders, ihr Hirn nimmt Zeit
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anders wahr. Auf jeden Fall ist es für Dauerverspätete tatsächlich oft herausfordernd, pünktlich zu
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sein. „Das kognitiv umzustrukturieren ist fast unmöglich“, sagt Wittmann. Er plädiert deshalb dafür,
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dass nicht nur Unpünktliche an sich arbeiten, sondern auch Wartende ihre Haltung verändern. „Für
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die ist das nämlich sehr viel leichter.“
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Quasi eine wissenschaftliche Entschuldigung zu haben, entbindet unpünktliche Menschen natürlich
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nicht von der Pflicht, es wenigstens zu versuchen. Sie können es zum Beispiel mit Selbstüberlistung
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probieren – etwa durch vorgestellte Uhren – oder weniger Termine vereinbaren.
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(7) Und zu guter Letzt hilft auch die Flucht nach vorne: sich entschuldigen. Vielleicht hilft das auch,
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mehr Wohlwollen bei den Wartenden zu schaffen. Leben ist mehr als ein Wettkampf gegen die Uhr.
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„Pünktlichkeit trägt zwar zum Erfolg unserer Gesellschaft bei, geht aber zulasten des persönlichen
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Erlebens. Man verliert das Gefühl für den Moment und hat das Gefühl, dass die Zeit immer schneller
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vergeht“, sagt Wittmann. Alle, ob Zuspätkommer oder nicht, sollten sich bewusst machen, was schon
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der Schriftsteller George Orwell einst formulierte: „Die Zeit läuft nicht schneller als früher, aber wir
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laufen eiliger an ihr vorbei.“

Aus: Bin gleich da! 17.06.2023 (Zugriff: 20.02.2025) (Text gekürzt und adaptiert)

Aufgabenstellung

1)

Kreuze die richtige Antwort an.

Der Psychologe Jeff Conte hat mit seinen Experimenten herausgefunden, dass (Abschnitt 1) …

a)

äußere Umstände für das Zeitgefühl eine große Rolle spielen.

b)

nur leistungsbereite Menschen ein exaktes Zeitgefühl haben.

c)

die meisten Menschen Zeit exakt einschätzen können.

d)

das Zeitgefühl der Menschen sehr variiert.

2)

Kreuze die richtige Antwort an.

Jeff Conte fand ebenfalls heraus, dass Menschen, in deren Wahrnehmung die Zeit langsamer

vergeht als die reale Zeit (Abschnitt 1), …

a)

nicht an Pünktlichkeit interessiert sind.

b)

keine Leistung bringen wollen.

c)

eher charakterschwach sind.

d)

häufig unpünktlich sind.

3)

Kreuze die richtige Antwort an.

In Abschnitt 2 spricht die Autorin die Lesenden direkt an. Welche Funktion ist damit verbunden?

Durch diese Anrede …

a)

werden die Lesenden dazu angeregt, ihre Persönlichkeit zu ändern.

b)

wird das Thema für die Lesenden besser nachvollziehbar.

c)

werden die Lesenden dazu aufgefordert, ihr Verhalten zu optimieren.

d)

wird das Thema als wissenschaftlich bedeutsam dargestellt.

4)

Erläutere den Zusammenhang zwischen der Abbildung und dem Text (Abschnitte 3 und 4).

Zweifeldiger Comic: Person schaut auf Uhr im Park; im nächsten Feld überrascht Skateboarder im Skatepark – "Was, so spät?!"Zweifeldiger Comic: Person schaut auf Uhr im Park; im nächsten Feld überrascht Skateboarder im Skatepark – "Was, so spät?!"

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5)

Kreuze die richtige Antwort an.

Der Zeitforscher Marc Wittmann fand heraus, dass zeitorientierte Menschen im Unterschied

zu erlebnisorientierten Menschen (Abschnitt 3) …

a)

niemals den Augenblick genießen können.

b)

in alltäglichen Momenten oft abgelenkt sind.

c)

für schöne Erlebnisse zu wenig Zeit einplanen.

d)

ihr Leben insgesamt an der Uhr ausrichten.

6)

Erläutere im Textzusammenhang (Abschnitt 3), warum Unpünktlichkeit von Menschen

nach Einschätzung von Marc Wittmann „nicht bloß ein Defizit“ (Z. 26) ist.

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7)

Kreuze die richtige Antwort an.

Die Psychologin Isabell Winkler untersucht unter anderem, welche (Abschnitt 4) …

a)

positiven Charakterzüge Pünktlichkeit garantieren.

b)

langfristigen Konsequenzen Unpünktlichkeit für die Verursacher hat.

c)

Faktoren ausschlaggebend für Unpünktlichkeit sind.

d)

Maßnahmen zur Steigerung der Pünktlichkeit besonders wirksam sind.

8)

Kreuze die richtige Antwort an.

Winklers Forschungsergebnisse zeigen, dass Menschen pünktlicher sind, wenn (Abschnitte 4 und 5) …

a)

sie regelmäßig wiederkehrende Veranstaltungstermine wahrnehmen.

b)

eine Verspätung unangenehme Auswirkungen für sie haben kann.

c)

sie eine digitale Einladung für eine Veranstaltung bekommen.

d)

unpünktliches Erscheinen sich auf andere negativ auswirkt.

9)

Kreuze die richtige Antwort an. Aus den Untersuchungen von Frau Winkler geht unter anderem hervor, dass Unpünktlichkeit (Abschnitt 5) …

a)

auch als Machtinstrument eingesetzt wird.

b)

ein großes Problem für das Theater darstellt.

c)

nicht durch Maßnahmen reguliert werden kann.

d)

zum Scheitern von Staatsbesuchen führen kann.

10)

Kreuze die richtige Antwort an.

Vor dem Hintergrund der Forschungsergebnisse von Marc Wittmann bleibt zu bedenken, dass Zuspätkommende (Abschnitte 5 und 6) …

a)

an ihrer verzerrten Zeitwahrnehmung arbeiten müssen.

b)

trotz ihrer besonderen Veranlagung pünktlich sein können.

c)

bei Verspätungen keine Entschuldigungen vorbringen sollten.

d)

nicht mit mehr Rücksicht vonseiten der Wartenden rechnen dürfen.

11)

Kreuze die richtige Antwort an.

Marc Wittmann meint, dass die Orientierung an Pünktlichkeit (Abschnitt 7) …

a)

das Wichtigste für eine funktionierende Gesellschaft ist.

b)

die Zeit im subjektiven Erleben langsamer verstreichen lässt.

c)

auf Kosten der bewussten Wahrnehmung des Augenblicks geht.

d)

ein wichtiges Lebensziel für alle unpünktlichen Menschen sein sollte.

12)

Kreuze die richtige Antwort an.

Der Text verfolgt insgesamt die Intention, …

a)

negative Konsequenzen von Unpünktlichkeit darzustellen.

b)

Forschungsergebnisse zu Unpünktlichkeit infrage zu stellen.

c)

einen neuen Erklärungsansatz für Unpünktlichkeit vorzustellen.

d)

den Umgang vieler Menschen mit Unpünktlichkeit zu kritisieren.

13)

Eine Schülerin sagt nach dem Lesen des Textes: „Wir sollten Menschen, die sich verspäten, Verständnis entgegenbringen, statt ihre Unpünktlichkeit negativ zu bewerten.“

Schreibe eine kurze Stellungnahme zu dieser Aussage.

Du kannst der Auffassung zustimmen oder nicht.

Wichtig ist, dass du deine Meinung begründest.

Beziehe dich dabei auf den Text.

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