Lerninhalte in Deutsch
Inhaltsverzeichnis

Aufgabe 1 – Interpretation & Werkvergleich

Thema

Katharina Hacker: Die Habenichtse (2017)

Wolfgang Koeppen: Tauben im Gras (1951)

Aufgabenstellung

1)

Interpretiere die Textstelle; beziehe das für das Verständnis Wesentliche aus der vorangehenden Handlung ein. (ca. 50 %)

2)

„Wir erleben Ohnmacht, wenn wir – gefühlt oder tatsächlich – keinen Einfluss darauf haben, eigene Wünsche zu verwirklichen, weil äußere oder innere Kräfte uns daran hindern.“ (Melanie Wolfers)

Quelle: www.einfachganzleben.de/leben-balance/ohnmachtsgefuehl-kontrollverlust-hilflosigkeit (letzter Zugriff am 1. 10. 2024).

Katharina Hacker, Die Habenichtse und Wolfgang Koeppen, Tauben im Gras: Erörtere in einer vergleichenden Betrachtung, inwieweit Jim aus Hackers Roman Die Habenichtse und Philipp aus Koeppens Roman Tauben im Gras Ohnmacht im Sinne der Aussage von Melanie Wolfers erleben. (ca. 50 %)

Material

Die Habenichtse

Katharina Hacker

1
Draußen eine nicht sehr hohe Mauer, Müll, Autos, eine Werkstatt anscheinend. Ein
2
paar Meter rannte er, ohne Überzeugung. Nasses Pflaster, Pfützen, aufspritzendes
3
Wasser, die Nacht dick und regenschwer, die Autos mühten sich voranzukommen. In
4
der Tasche seiner Jeansjacke spürte er das Geld. Das Poster mit Maes Foto hatte er
5
gesehen, Albert hatte es in Kentish Town Station aufhängen lassen, – damit du uns
6
nicht vergißt, hatte er gesagt, als Jim anrief, tobte. Ich wollte sicher sein, daß du anrufst,
7
hatte er Jim gesagt, so eine lange Zusammenarbeit gibt man doch nicht einfach auf?
8
Und Jim hatte sich gefügt. Bevor er Mae nicht gefunden hatte, würde er nicht wegge-
9
hen. Solange er in der Lady Margaret Road bleiben konnte. Bis Damian zurückkam,
10
dachte er. Solange ihn keiner dort aufspürte.
11
Nur mit dem Jungen, Dave, der mit seinen Eltern in der Nummer 47 wohnte, redete er
12
manchmal. Irgend etwas an ihm mochte er. Nebenan, in die Nummer 49 war ein jün-
13
geres Paar eingezogen, bestimmt keine Kunden, er jedenfalls nicht, aber die Frau war
14
Jim aufgefallen, obwohl er sie bisher nur von hinten gesehen hatte, in einem kleinen,
15
koketten Regenmantel, mit Turnschuhen, ungefähr so groß wie Mae, das hatte ihm
16
einen Stich gegeben. Ungefähr ihre Figur. Waren eingezogen mit allem Pomp, Mö-
17
beln und Kisten, in denen Geschirr und vielleicht Bücher waren. Es hatte Jim nie inte-
18
ressiert, wie andere das machten, einziehen, umziehen, sich einrichten, die ganzen Kis-
19
ten, die ganzen Sachen aus den Kisten um sich herum aufgetürmt, daß man in ihrer
20
Mitte sicher und gemütlich geborgen war, aber plötzlich sprang es ihm ins Auge. Sie
21
waren eingezogen, zu zweit, wie in einer Umarmung, die den Regen abhielt, und alles
22
andere auch. Jim hatte sich an die Lady Margaret Road gewöhnt, an den kleinen Gar-
23
ten, in dem die Eichhörnchen die Baumstämme hinaufrasten, wenn er die Tür öffnete,
24
und von oben kam abends der Geruch des Abendessens, das die Leute kochten, die ihn
25
nicht grüßten, vermutlich, weil sie mit Damian schlechte Erfahrungen gemacht hatten.
26
Als er sich zwei Tage später mit Albert am nördlichen Rand von Soho traf, ließ er sich
27
hinreißen, darüber zu reden. – In einer richtigen Wohnung – nicht so einer Bruchbude,
28
wie du sie immer für uns hast – bist du ein ganz anderer Mensch, nicht so ein Idiot,
29
nach dem man nur pfeifen muß. Du glaubst, wir warten nur darauf, daß jemand nach
30
uns pfeift, nicht wahr? Du pfeifst, und Ben versucht zu pfeifen, aber mit mir könnt ihr
31
das nicht mehr machen. Man kommt auf Sachen, die einem sonst nie eingefallen
32
wären, in einer Wohnung, meine ich, weil man immerhin ein Mensch ist, kapierst du?
33
Nicht bloß so ein gehetztes Kaninchen mit ängstlichen Augen, sondern ein Mensch,
34
der morgens aufsteht und sich wäscht oder so, und sogar daran denkt, in die Kirche zu
35
gehen, wie als Kind, weil er Gottes Segen haben möchte oder daß jemand für ihn betet.
36
Man erinnert sich plötzlich an Sachen, und all der Dreck ist wie eine dicke Kruste,
37
unter der etwas anderes ist, das du bloß vergessen hast. Du erinnerst dich plötzlich, daß
38
du als Kind einen kleinen Hund gehabt hast, also, nicht wirklich einen eigenen Hund,
39
aber so gut wie, weil er jeden Tag zu euch herübergelaufen ist und du etwas für ihn
40
aufgehoben hast.
41
– Wenn meine Restaurants richtig laufen, sagte Albert verlogen, dann stelle ich dich
42
ein, und du kannst bei mir als Küchenchef arbeiten.
43
– Klar doch, fauchte Jim, als Küchenchef, der Spiegeleier macht.
44
– Warum gönnst du mir nicht auch meinen kleinen Traum? fragte Albert weinerlich,
45
und Jim biß die Zähne zusammen, die verdammte Sentimentalität, Alberts und seine
46
eigene, dieses weinerliche Gehabe. Doch irgendwann würde Albert kriegen, was er
47
wollte, und Jim nicht. Mae, dachte er. Aber er haßte Albert nicht. Das dicke, gerötete
48
Gesicht weckte keinen Haß in ihm. – Vergiß nicht, setzte Albert an, – daß du mich von
49
der Straße weggeholt hast, ergänzte Jim angeekelt. Der gute Albert, immer so weich-
50
herzig. Und mich dann auf die Straße zurückgeschickt, damit ich den Arsch für deine
51
Freunde hinhalte.

Aus: Katharina Hacker, Die Habenichtse, Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuchverlag 22017, S. 124 – 127 (entspricht: Stuttgart: Reclam Verlag 2022, S. 145 –148).

Weiter lernen mit SchulLV-PLUS!

monatlich kündbarSchulLV-PLUS-Vorteile im ÜberblickDu hast bereits einen Account?