Aufgabe 1 – Interpretation & Werkvergleich
Thema
Katharina Hacker: Die Habenichtse (2017)
Wolfgang Koeppen: Tauben im Gras (1951)
Aufgabenstellung
Interpretiere die Textstelle; beziehe das für das Verständnis Wesentliche aus der vorangehenden Handlung ein. (ca. 50 %)
„Wir erleben Ohnmacht, wenn wir – gefühlt oder tatsächlich – keinen Einfluss darauf haben, eigene Wünsche zu verwirklichen, weil äußere oder innere Kräfte uns daran hindern.“ (Melanie Wolfers)
Quelle: www.einfachganzleben.de/leben-balance/ohnmachtsgefuehl-kontrollverlust-hilflosigkeit (letzter Zugriff am 1. 10. 2024).
Katharina Hacker, Die Habenichtse und Wolfgang Koeppen, Tauben im Gras: Erörtere in einer vergleichenden Betrachtung, inwieweit Jim aus Hackers Roman Die Habenichtse und Philipp aus Koeppens Roman Tauben im Gras Ohnmacht im Sinne der Aussage von Melanie Wolfers erleben. (ca. 50 %)
Material
Die Habenichtse
Katharina Hacker
Aus: Katharina Hacker, Die Habenichtse, Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuchverlag 2017, S. 124 – 127 (entspricht: Stuttgart: Reclam Verlag 2022, S. 145 –148).
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Katharina Hackers Roman Die Habenichtse (2006) erzählt von jungen Erwachsenen, die im London des frühen 21. Jahrhunderts mit sozialen, emotionalen und moralischen Herausforderungen konfrontiert sind. Die vorliegende Textstelle rückt die Figur Jim in den Mittelpunkt, die in einer Phase innerer Zerrissenheit und existenzieller Unsicherheit gezeigt wird. Im Folgenden soll herausgearbeitet werden, wie Hacker diese Konflikte erzählerisch gestaltet und welche Bedeutung sie für das Verständnis der Figur besitzen.
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Anschließend wird in einer vergleichenden Betrachtung geprüft, inwiefern Jim und Philipp aus Wolfgang Koeppens Tauben im Gras Ohnmacht im Sinne der Aussage von Melanie Wolfers erfahren und durch welche äußeren oder inneren Kräfte sie daran gehindert werden, ihre Wünsche und Lebensentwürfe umzusetzen.
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Eine Machtlosigkeit, die vielen jungen Menschen in Bezug auf ihren Alltag und ihre Zukunft in ähnlicher Weise bekannt sein dürfte.
Teilaufgabe 1
Handlung
Einordnung
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Die Textstelle entstammt Hackers Roman Die Habenichtse, der die Schicksale verschiedener Figuren im London der frühen 2000er Jahre verknüpft. Der hier relevante Handlungsstrang folgt Jim, einem jungen Mann am Rand der Gesellschaft, der als Drogendealer in kleinkriminelle Abhängigkeiten geraten ist.
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Im vorliegenden Textausschnitt, der aus dem 20. Kapitel stammt, flieht Jim gerade vor einer Polizeirazzia aus einem Club, in dem er Drogen verkauft hat. Auf dem Rückweg in Damians Wohnung reflektiert er über seine Nähe zum Nachbarjungen Dave, das neu eingezogene Paar nebenan und wie sich deren Leben von seinem unterscheidet.
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Jim lebt aktuell versteckt in Damians Wohnung in der Lady Margaret Road, weil er von seinen kriminellen Auftraggebern und Gegnern gleichermaßen bedroht wird.
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Mae, ein junges Mädchen mit emotionaler Bedeutung für Jim, ist verschwunden, nachdem er ihr gegenüber aggressiv geworden ist. Die Suche nach ihr gibt seinem Handeln Richtung und Rechtfertigung und spiegelt seine Sehnsucht nach Bindung.
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Albert, eine zwielichtige Figur, hat Jim in die Szene eingeführt. Zwischen beiden herrscht ein ambivalentes Verhältnis aus Abhängigkeit, Loyalität und unterschwelliger Manipulation. Obwohl sich Jim zuvor von ihm losgelöst hatte, arbeitet er wieder für Albert.
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Jims Identität ist zerrüttet: Er besitzt kein eigenes Zuhause, keine Familie und hat nur fragile Bindungen. Gerade deshalb wird die Idee einer „richtigen Wohnung“ und eines bodenständigen Lebens wie bei Isabelle und Jakob im Text so bedeutsam.
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Die Textstelle zeigt Jims psychische Verfassung zwischen Sehnsucht nach Normalität, Selbstreflexion und der Erkenntnis seiner sozialen Benachteiligung und Einsamkeit.
Analyse
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Orientierungslosigkeit: Der Texteinstieg (Vgl. Z. 1–4) zeichnet ein Bild der äußeren Welt, das Jims innere Situation widerspiegelt: Regen, Dunkelheit, Müll, nasses Pflaster und mühsam vorankommende Autos erzeugen eine Stimmung von Bedrängnis, Haltlosigkeit und innerer Dunkelheit. Jims „Rennen ohne Überzeugung“ (Vgl. Z. 2) deutet an, dass er zwar in Bewegung bleibt, aber keinen klaren Plan besitzt, wohin es gehen soll. Diese Planlosigkeit ist ein Leitmotiv seiner gesamten Lebenssituation.
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Bindung an Mae & Abhängigkeit von Albert: Die Erwähnung des Posters mit Maes Foto (Vgl. Z. 4–7) zeigt sowohl Jims verzweifelte Suche als auch Alberts manipulative Emotionalisierung („damit du uns nicht vergißt“, Z. 5 f.). Jims Versuch, Mae zu finden, wird zum einzigen stabilen Orientierungspunkt. Alberts Einfluss kann er sich trotz aller Anstrengung aber nicht entziehen. Der Satz „Jim hatte sich gefügt“ (Z. 8) zeigt seine Ohnmacht in diesem Verhältnis.
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Beobachtungen im Wohnviertel & Sehnsucht nach Normalität: Besonderes Gewicht erhält der Abschnitt über das junge Paar in Hausnummer 49 (Vgl. Z. 12–22). Jim erkennt in deren Einzug eine Art Symbol bürgerlicher Geborgenheit. Möbel, Geschirr, Bücher sieht er als Zeichen eines strukturierten Lebens; die Beschreibung „wie in einer Umarmung, die den Regen abhielt“ (Z. 21) evoziert Wärme, Zusammenhalt und Schutz; diese Beobachtungen lösen in Jim eine Mischung aus Neid, Sehnsucht und schmerzlicher Erinnerung aus. Die Frau erinnert ihn in ihrer Statur an Mae (Vgl. Z. 15–16), was seinen Verlust verstärkt. Jims Gewöhnung an die Umgebung der Lady Margaret Road (Vgl. Z. 22–25), an Eichhörnchen, Essensgerüche und alltägliche Routinen, zeigt, dass er sich nach einem Zuhause sehnt. Die anderen Bewohner ignorieren ihn, vermutlich wegen Damians Ruf. Jim bleibt trotz seiner Sehnsucht ein Außenseiter in dieser Gemeinschaft.
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Seltene Selbstbehauptung im Gespräch: Der anschließende Dialog mit Albert (Vgl. Z. 26–51) markiert einen Wendepunkt: Jim formuliert erstmals offen Kritik und äußert Gedanken über Würde und Menschlichkeit. Er beschreibt, wie eine „richtige Wohnung“ einen Menschen verändert (Vgl. Z. 27–33), dass sie Selbstachtung, Erinnerungsfähigkeit und sogar spirituelle Bedürfnisse wecken kann (Vgl. Z. 34–37), dass unter der „dicken Kruste“ (Z. 36) seines Lebens eine andere, alte Identität verborgen liege.
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Der Abschnitt ist zentral für das Verständnis der Figur Jim: Er erkennt intuitiv, dass seine soziale und räumliche Verwahrlosung sein Selbstbild zerstört hat. Die Erinnerung an den Hund seiner Kindheit (Vgl. Z. 38–40) symbolisiert einen Moment echter Zugehörigkeit, ein Gegenbild zu seinem gegenwärtigen Leben. Alberts Reaktion darauf folgt einem bekannten Muster: Er bietet Jim eine Zukunft („Küchenchef“, Z. 42), aber auf offensichtlich verlogene Weise. Jim durchschaut diese Sentimentalität („Warum gönnst du mir nicht auch meinen kleinen Traum?“, Z. 44) und sein bissiger Ton zeigt, dass das Machtgefälle zwar besteht, aber langsam brüchig wird.
Erzählperspektive
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Personale Erzählweise: Der Text wird personal mit fokaler Perspektive auf Jim geschildert.
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Der Leser erhält unmittelbare Einblicke in Jims Wahrnehmung.
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Ein Miterleben seiner Erinnerungen, Sehnsüchte und gedämpften Hoffnungen ist möglich.
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Die subtile Kritik an seiner Umgebung wirkt durch die Innenperspektive eindrucksvoll.
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Häufig erscheinen erlebte Rede sowie gedankliche Einschübe wodurch die Grenze zwischen Erzählertext und Figurengedanken verschwimmt („Bis Damian zurückkam, dachte er“, Z. 10; „solange ihn keiner dort aufspürte“, Z. 10). Dies schafft unmittelbare Nähe zur Figur und macht ihren inneren Konflikt sprachlich erfahrbar.
Stilistische Mittel
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Metaphern: „all der Dreck ist wie eine Kruste“ (Z. 36) verdeutlicht Jims Gefühl, sein wahres Selbst sei verschüttet.
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Bildhafte Vergleiche: „wie in einer Umarmung“ (Z. 21) oder „gehetztes Kaninchen“ (Z. 33) machen emotionale Zustände für den Leser verständlich und greifbar.
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Alliteration: „gemütlich geborgen“ (Z. 20) verdeutlicht seinen Wunsch nach Schutz und Nähe. Beides fehlt in Jims Leben.
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Alltagsszenen (Eichhörnchen, Essensgerüche, Vgl. Z. 23 f.) erzeugen Kontraste zwischen dem normalen Leben der anderen und Jims marginalisierter Existenz als „Fremdkörper“.
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Antithesen: Gegenüberstellungen wie „richtig[e] Wohnung“ (Z. 27) vs. „Bruchbude“ (Z. 27) oder „Mensch“ (Z. 28, 32) vs. „Idiot“ (Z. 28) und „gehetztes Kaninchen“ (Z. 33) verweisen auf den Kontrast zwischen seinem früheren Leben und dem Wandel, den er in Damians Wohnung erlebt.
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Umgangssprache mit Begriffen wie „Bruchbude“ (Z. 27), „Idioten“ (Z. 28), „fauchte“ (Z. 43) und „Arsch hinhalten“ (Z. 50 f.) zeigt soziale Milieuzugehörigkeit und emotionale Rohheit.
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Ellipsen und Interjektionen: Aussagen wie „klar doch“ (Z. 43) oder „nach dem man nur pfeifen muß“ (Z. 29) sind stilistisch reduziert und realitätsnah. Jims Sprache wird außerdem zu einem Ausdruck seiner Verletzbarkeit und seines Zorns.
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Sarkasmus: „als Küchenchef, der Spiegeleier macht“ (Z. 43) – Jim erkennt, dass Albert ihn mit seinem vermeintlichen Angebot wieder nur kontrollieren und an sich binden will.
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Die Sprache ist insgesamt knapp, präzise, unpathetisch und schafft dadurch eine Atmosphäre sozialer Kälte.
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Akkumulierende, parataktische Aufzählungen („Mauer, Müll, Autos, eine Werkstatt…“, Z. 1) charakterisieren die Außenwelt mit ihrem überfordernden Charakter.
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Die Reihung kurzer Nominalgruppen erzeugt ein Gefühl von Unübersichtlichkeit und Unruhe – ein Zustand, der Jims psychische Verfassung widerspiegelt.
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Der konsequente Einsatz von Adjektivhäufungen (z. B. „regenschwer“, Z. 3; „gehetztes Kaninchen“, Z. 33; „ängstliche Augen“, Z. 33) verstärkt die atmosphärische Beklemmung.
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Leitmotive, die immer wieder wiederholt werden: Wohnen als Symbol für Identität; Kindheit für das verschüttete Selbst; Regen und Dreck für die ausweglosen Lebensumstände; Tiere als Spiegel Jims emotionaler Lage
Interpretation
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Soziale Ausgrenzung und Verwahrlosung: Jims Leben ist geprägt von Instabilität, Angst und Abhängigkeit. Daran ändert sich auch in der Lady Margaret Road nichts. Er bleibt ein Außenseiter.
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Der Wunsch nach Zugehörigkeit: Das Paar in Nummer 49 wird zum idealisierten Gegenbild seines eigenen Lebens. Er sehnt sich nach bürgerlichem Alltag und vermisst Mae.
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Identität und Erinnerung: Die Idee einer „richtigen Wohnung“ steht metaphorisch für Selbstachtung, Verlässlichkeit und Menschlichkeit, die Jim unter den Bedingungen seiner jetzigen Existenz kaum bewahren kann. Sie steht für Selbstachtung, Sicherheit und Erinnerungsfähigkeit – all das, was er im Milieu der Abhängigkeit und Gewalt verloren hat.
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Abhängigkeit und Machtgefälle: Die Beziehung zu Albert bleibt ambivalent. Es ist eine Mischung aus emotionaler Manipulation, Abhängigkeit und einer Art pervertierter Fürsorge.
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Verlust und Sehnsucht: Mae ist emotionaler Fixpunkt und treibt Jim an, zugleich schmerzt der Verlust ihn fortwährend. Seine eigene Schuld an ihrem Verschwinden erkennt Jim allerdings nicht.
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Erkenntnisprozess: Insgesamt zeigt die Textstelle einen jungen Mann, der inmitten einer prekären Lebenssituation beginnt, eine Ahnung davon zu entwickeln, wer er sein könnte – und zugleich realisiert, wie weit er davon entfernt ist. Die Beobachtung des Paares und die Erinnerung an seine Kindheit fungieren dabei als kurze Momente der Hoffnung, aber zugleich auch als bittere Kontraste zu seiner Realität.
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Ohnmacht: „Doch irgendwann würde Albert kriegen, was er wollte, und Jim nicht.“ (Z. 46 f.) fasst Jims erlebte Machtlosigkeit zusammen. Er hat keine Kontrolle über sein Leben, ist wirtschaftlich, emotional und sozial anderen gegenüber hoffnungslos ausgeliefert.
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Frage nach Identität und Würde: Die Textstelle verdeutlicht exemplarisch, wie Katharina Hacker anhand einer von prekären Lebensbedingungen gezeichneten Figur zentrale Fragen nach Identität, Menschenwürde und sozialer Zugehörigkeit aufwirft und damit die gesellschaftliche Kälte des Großstadtlebens in vielschichtiger Weise sichtbar macht. Selbst einfache bürgerliche Routinen – ein Umzug, ein gemeinsames Abendessen, eine aufgeräumte Wohnung – werden für Jim zu unerreichbaren Symbolen eines besseren Lebens.
Teilaufgabe 2
Begriffsklärung
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Jims aktuelle Situation, in der er aufgrund seiner Vergangenheit und kleinkriminellen Verstrickungen ein Dasein als Außenseiter führt und seinen Wunsch nach einem normalen, bürgerlichen Leben nicht erfüllen kann, ist von Machtlosigkeit und Ohnmacht geprägt.
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Nach Melanie Wolfers bedeutet Ohnmacht ein Gefühl, keinerlei Einfluss auf die Verwirklichung eigener Wünsche zu haben.
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Es gibt verschiedene Ursachen, die die individuelle Einflussnahme verhindern. Als äußere Kräfte gelten soziale, ökonomische und politische Strukturen. Innere Kräfte sind Ängste, Traumata oder mangelnde Selbstwirksamkeit.
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Der Begriff Ohnmacht hat für Die Habenichtse und Tauben im Gras Relevanz. Die Figuren Jim und Philipp befinden sich in urbanen, anonymen und belasteten Lebensräumen und haben prekäre Identitäten.
Inhalt
Jim
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Jim erlebt eine innere Ohnmacht aufgrund einer Vielzahl an Punkten, die seine Einflussnahme verhindern:
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Kriminelle Abhängigkeit: Jim ist nach der Flucht vor seinem gewalttätigen Vater ins kriminelle Milieu abgerutscht, ist dadurch abhängig von Albert und kommt nicht von dessen Einfluss los; es besteht ein Machtgefälle zwischen den beiden Männern, das von emotionaler Manipulation („damit du uns nicht vergisst“, Z. 5 f.) geprägt ist.
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Gefährdung durch Albert und seine Leute: Jim kann nicht frei umherlaufen, weil er in Angst lebt, von Alberts Bande oder dessen Gegnern entdeckt zu werden; er muss in der Lady Margaret Road untertauchen („solange ihn keiner dort aufspürte“, Z. 10).
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Fehlende gesellschaftliche Einbindung: Die Nachbarn in der Lady Margaret Road grüßen Jim nicht, er lebt in sozialer Isolation. Seine Verstrickungen in dem prekären Milieu lassen ihm keine Perspektive für eine Integration in die Gesellschaft.
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Bedrohliche urbane Umgebung: Regen, Dunkelheit, Nässe und das Großstadtchaos sorgen für eine Atmosphäre der Orientierungslosigkeit.
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Fixierung auf Mae: „Bevor er Mae nicht gefunden hatte, würde er nicht weggehen.“ – diese Sehnsucht nach Mae lässt Jim unflexibel und handlungsunfähig werden. Er erkennt nicht, dass selbst bei einer Rückkehr Maes keine gemeinsame Zukunft möglich wäre. Sein frauenverachtendes Verhalten und die Bindungsunfähigkeit bleiben selbst in seinem komplizierten Verhältnis zu Isabelle, die ihn an Mae erinnert, bestehen.
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Geringes Selbstwertgefühl: Jim sieht sich selbst als „gehetztes Kaninchen mit ängstlichen Augen“ (Z. 33) und traut sich daher nichts zu. Er empfindet Scham über seine Lebensumstände und flüchtet lieber in Traumwelten, anstatt aktiv etwas zu ändern. Außerdem neigt er durch seine Selbstzweifel und Ängste in einer Art verzweifeltem Selbstschutz und Überforderung zu aggressivem Verhalten.
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Identitätsverlust: Seine Vergangenheit ist verschüttet unter einer „dicken Kruste“ (Z. 36), er erinnert sich kaum noch daran, wer er wirklich ist. Seine Hoffnung, in einer „richtigen Wohnung“ ein „Mensch“ (Vgl. Z. 32) zu sein, zeigt die gegenwärtige Entfremdung Jims. Er fällt immer wieder in die destruktiven Muster zurück.
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Ausdruck der Ohnmacht: Jim rennt ohne Ziel (Vgl. Z. 2), seine Handlungen haben also keine Wirksamkeit. Er kann das andere, bessere Leben nur bei seinen Nachbarn beobachten, es für sich aber nicht realisieren. Es bleibt bei der Konfrontation mit der unerreichbaren Normalität. Selbst im Gespräch mit Albert, in dem er kurz Kritik äußert, wird die Selbstbehauptung erneut im Keim erstickt. So steckt Jim ohnmächtig fest zwischen Abhängigkeiten, Angst und Selbstzweifeln.
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Fazit: Ohnmacht wird für Jim zur dauerhaften Existenzform, obwohl er Sehnsüchte nach einem besseren Leben hat und sich selbst reflektiert.
Philipp
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Auch Philipp aus dem Roman Tauben im Gras wird durch äußere und innere Kräfte in einen Zustand der Ohnmacht versetzt bzw. lebt in einer Art stillen Resignation vor sich her.
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Tauben im Gras handelt von verschiedenen Personen, die alle einen einzigen Tag in einer deutschen Großstadt der Nachkriegszeit erleben. Philipp ist ein an einer Schreibblockade leidender Schriftsteller, der mit einer alkoholsüchtigen Frau verheiratet ist und sich in seiner unglücklichen Ehe und in der Gesellschaft einsam fühlt.
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Nachkriegsgesellschaft: Philipp ist nach dem Krieg extrem mitgenommen. Er lebt in einem moralischen Chaos, seine Werte sind zerstört und er hat persönliche Enttäuschungen erlebt, die ihn in eine Isolation und innere Leere treiben.
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Ökonomische Unsicherheit: Der Schriftsteller sieht keinen Ausweg mehr für sich. Er leidet an einer Schreibblockade, will bzw. kann selbst Emilias Hilfe nicht annehmen und scheitert auch als Verkäufer beruflich. Ihm fehlt jegliches eigenes Einkommen sowie die Hoffnung auf eine bessere Zukunft.
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Psychische Labilität: Philipp kämpft mit innerer Unsicherheit. Er fühlt sich durch die Reize seiner Umwelt überfordert, empfindet große Ängste und hat keinen strukturierten Lebensentwurf, der ihm Halt geben könnte.
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Kommunikative Unfähigkeit: Die Figur ist geprägt von sozialen Hemmungen. Philipp findet kaum Anschluss in der sowieso schon anonymen Großstadt, kann nicht offen auf andere zugehen (z.B. Schriftstellerkollege Mr. Edwin) und seine Beziehungen (z.B. mit seiner Frau Emilia) scheitern. Dadurch empfindet er ein Gefühl der Isolation.
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Identitätskrise: Der Schriftsteller hat große Selbstzweifeln und sieht sich selbst als Versager. Er hat sich mit dieser Rolle komplett identifiziert und abgefunden, sodass er keinerlei Ansporn hat, etwas an dieser Situation zu ändern.
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Eheprobleme: Philipp steckt in seiner unglücklichen Ehe fest. Obwohl er sich in der Beziehung mit seiner alkoholkranken Frau gefangen fühlt, verharrt er wie eingefroren in der Situation. Gleichzeitig ist er nicht in der Lage, Emilia aus ihrer Sucht herauszuhelfen. Die beiden befinden sich in einem Teufelskreis, in dem sie sich gegenseitig nicht guttun und immer mehr Distanz aufbauen, anstatt zu kommunizieren.
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Ausdruck der Ohnmacht: Philipp irrt in München umher und hat kein Ziel; die missglückten Begegnungen im Alltag zeigen die große Isolation; die fehlenden Perspektiven – beruflich wie privat – sorgen für eine innere Blockade und Passivität, so nimmt er z.B das Angebot, ein Drehbuch zu schreiben, nicht an.
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Fazit: Philipp wird zum Symbol des modernen, entwurzelten Individuums. Ohnmacht ist bei ihm strukturell tief verankert. Die Gesellschaft zerstört seine Handlungsmöglichkeiten und er entscheidet sich für stille Resignation.
Vergleich
Gemeinsamkeiten
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Beider Leben ist geprägt von Orientierungslosigkeit (zielloses Umherirren im regnerischen London bzw. chaotischen München).
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Fehlende soziale Einbettung: Bei Jim und Philipp verstärkt die Isolation ihre Ohnmacht.
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Abhängigkeit von äußeren Umständen: Jim ist durch seine Verstrickungen ins kriminelle Milieu von Albert abhängig; Philipp kämpft in der Nachkriegsgesellschaft mit Trauer, Armut und ideologischen Problemen und ist finanziell an seine Frau gebunden.
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Innere Blockaden: Beide Männer sind von Ängsten und Selbstzweifel geplagt.
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Scheitern von Lebensentwürfen: Bei Jim scheitert der Wunsch nach einem normalen, bürgerlichen Leben voller Geborgenheit; bei Philipp fehlen Anerkennung und das Schaffen einer eigenen Identität
Unterschiede
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Jim: Seine Ohnmacht ist stark an konkrete Personen und Abhängigkeiten gebunden (z.B. zu Albert, Mae und Damian). Er erkennt zeitweise Auswege und schöpft Hoffnung, scheitert aber an der Umsetzung.
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Philipp: Hier ist die Ohnmacht überwiegend strukturell-gesellschaftlich bedingt; seine Situation wirkt unentrinnbar. Er hat kaum individuelle Gegenstrategien und verharrt einfach in einer passiven Haltung.
Intensität der Ohnmacht
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Bei Jim ist sie persönlich, emotional aufgeladen, impulsiv und die Intensität wechselt episodenhaft.
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Bei Philipp ist die Ohnmacht allumfassend, existenziell, von tiefer Traurigkeit geprägt und permanent spürbar; es liegt eine literarisch radikalisierte Form der moderner Entfremdung vor.
Fazit
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Beide Figuren erleben Ohnmacht im Sinne Wolfers Zitat als Scheitern von Selbstwirksamkeit und Gefühl des Kontrollverlusts.
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Ihre persönlichen Wünsche – Geborgenheit (Jim), Identität und Anerkennung (Philipp) – bleiben aufgrund eines Geflechts aus äußeren und inneren Kräften unerreichbar.
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Während Jim gelegentlich Momente der Hoffnung und Selbstreflexion hat, erscheint Philipps Ohnmacht tief in die gesellschaftlichen und psychischen Strukturen eingeschrieben.
Schluss
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Beide Figuren zeigen, wie moderne Städte zu Räumen werden, in denen Menschen trotz Sehnsüchten und Fähigkeiten scheitern und machen Wolfers Ohnmachtsbegriff literarisch anschaulich.
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Sowohl an Jim als auch an Philipp wird deutlich, wie sehr ein erlebter Kontrollverlust einen Menschen beeinflussen kann und wie weitreichend die Folgen für das komplette Leben sind.