Lerninhalte in Deutsch
Inhaltsverzeichnis

Aufgabe 4 – Essay

Thema

Dossier: Demokratie und Kommunikation

Aufgabenstellung

1)

Verfasse Abstracts zu den Materialien 1, 2 und 3. (ca. 30 Prozent)

2)

Verfasse einen Essay unter Berücksichtigung des Dossiers mit dem Titel Demokratie und Kommunikation. (ca. 70 Prozent)

Material 1

Zwischen Partizipationsversprechen und Algorithmenmacht. Wie soziale Medien politisches Handeln prägen

Jan-Hinrik Schmidt

1
Das vorherige Kapitel hat deutlich gemacht, dass soziale Medien die Mechanismen
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und Möglichkeiten erweitern, sich über gesellschaftlich relevante Themen zu infor-
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mieren und eine eigene Meinung zu bilden. Doch damit nicht genug: Bürgerinnen und
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Bürger können die sozialen Medien auch nutzen, um ihre eigenen Interessen und
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Ansichten zu äußern und andere Menschen zu aktivieren, sich ebenfalls zu engagieren.
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In dieser Hinsicht unterstützen soziale Medien also gesellschaftliche Teilhabe bzw.
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Partizipation [...]:
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1. Sich positionieren: Menschen können an Debatten zu gesellschaftlich relevanten
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Themen teilhaben, indem sie selbst in den sozialen Medien Stellung beziehen und
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bestimmte politische Haltungen offen nach außen signalisieren. Dies geschieht be-
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reits niedrigschwellig, etwa durch den Beitritt zu spezifischen Gruppen oder Foren,
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durch die Angabe der eigenen politischen Überzeugung im Nutzerprofil oder ein
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entsprechend gestaltetes Profilbild. Selbst das „Liken“ oder „Faven“ von entspre-
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chenden Inhalten kann solche Signale aussenden. Zum einen kann diese Handlung
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für die eigenen Kontakte sichtbar sein, zum anderen tauchen häufig „gelikede“
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Inhalte in den Nachrichtenströmen anderer Nutzer auf und ziehen weitere Auf-
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merksamkeit auf sich.
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2. Sich einbringen: Soziale Medien erlauben es auch, in vielfältiger Art und Weise
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die eigene Meinung in Debatten und Entscheidungen einfließen zu lassen. Diese
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Form der Teilhabe schließt die Bezugnahme auf andere und eine Auseinanderset-
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zung mit deren Positionen ein. Dies kann unterschiedlich ausführlich geschehen,
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etwa als kurze und möglicherweise unreflektierte Reaktion in einem Kommentar
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oder Tweet, in Form einer länger andauernden Diskussion mit anderen, bis hin zum
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ausführlichen Ausdrücken eigener Standpunkte in einem eigenen Blog-Eintrag,
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Thread oder Video.
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3. Andere aktivieren: Die beiden genannten Arten von Teilhabe können in manchen
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Fällen auch darin münden, dass man andere Nutzer gezielt anspricht und zum Han-
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deln bewegt.

Quelle: Jan-Hinrik Schmidt, Zwischen Partizipationsversprechen und Algorithmenmacht. Wie soziale Medien politisches Handeln prägen, hrsg. von der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen. Erfurt 2022, S. 49 f.

Jan-Hinrik Schmidt (* 1972) erforscht digitale interaktive Medien und politische Kommunikation am Leibniz-Institut für Medienforschung in Hamburg.

Material 2

Mir sind im letzten Monat im Internet begegnet:

Balkendiagramm: Anteil der Befragten, die im letzten Monat online Fake News, Beleidigungen, Verschwörungstheorien u.Ä. sahen (2022 vs 2023)

Hinweis: Die oberen Werte des Diagramms beziehen sich auf das Jahr 2022, die unteren auf das Jahr 2023.

Aus: Medienpädagogischen Forschungsverbund Südwest (mpfs): JIM-Studie 2023 – Jugend, Information, Medien, S. 52. JIM_2023_ Charts_final_PDF.pdf; Zugriff am 26.12.2023.

Material 3

Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik

Jürgen Habermas

1
Für die Medienstruktur der Öffentlichkeit ist dieser Plattformcharakter das eigentlich
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Neue an den neuen Medien. Denn damit entledigen sich die Plattformen jener produk-
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tiven Rolle der journalistischen Vermittlung und Gestaltung von Programmen, die die
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alten Medien wahrnehmen; insofern sind die neuen Medien keine „Medien“ im bishe-
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rigen Sinne. Sie verändern auf radikale Weise das bisher in der Öffentlichkeit vorherr-
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schende Kommunikationsmuster. Denn sie ermächtigen alle potentiellen Nutzer prin-
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zipiell zu selbständigen und gleichberechtigten Autoren. Die „neuen“ unterscheiden
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sich von den traditionellen Medien dadurch, dass sich digitale Unternehmen diese
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Technologie zunutze machen, um den potentiellen Nutzern die unbegrenzten digitalen
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Vernetzungsmöglichkeiten wie leere Schrifttafeln für eigene kommunikative Inhalte
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anzubieten. Sie sind nicht wie die klassischen Nachrichtendienste oder Verlage, wie
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Presse, Radio oder Fernsehen für eigene „Programme“ verantwortlich, also für kom-
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munikative Inhalte, die professionell hergestellt und redaktionell gefiltert sind. [...]
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Programmsendungen stellen eine lineare und einseitige Verbindung zwischen einem
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Sender und vielen potentiellen Empfängern her; beide Seiten begegnen sich in ver-
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schiedenen Rollen, nämlich als öffentlich identifizierbare oder bekannte, für ihre Ver-
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öffentlichungen verantwortliche Produzenten, Redakteure und Autoren auf der einen,
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als anonymes Publikum von Lesern, Hörern oder Zuschauern auf der anderen Seite.
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Demgegenüber stellen Plattformen eine vielseitig vernetzungsoffene kommunikative
20
Verbindung für den spontanen Austausch möglicher Inhalte zwischen potentiell vielen
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Nutzern her. Diese unterscheiden sich nicht schon aufgrund des Mediums in ihren Rol-
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len voneinander; sie begegnen sich vielmehr als prinzipiell gleiche und selbst verant-
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wortliche Teilnehmer am kommunikativen Austausch zu spontan gewählten Themen.
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Die dezentralisierte Verbindung zwischen diesen Mediennutzern ist im Unterschied zu
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der asymmetrischen Beziehung zwischen Programmsendern und Empfängern grund-
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sätzlich reziprok, aber wegen der fehlenden professionellen Schleusen inhaltlich
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ungeregelt. Der egalitäre und unregulierte Charakter der Beziehungen zwischen den
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Beteiligten und die gleichmäßige Autorisierung der Nutzer zu eigenen spontanen Bei-
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trägen bilden das Kommunikationsmuster, das die neuen Medien ursprünglich aus-
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zeichnen sollte. Dieses große emanzipatorische Versprechen wird heute von den wüs-
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ten Geräuschen in fragmentierten, in sich selbst kreisenden Echoräumen übertönt.
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Aus dem neuen Kommunikationsmuster haben sich zwei für die strukturelle Verände-
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rung der Öffentlichkeit bemerkenswerte Effekte ergeben. Zunächst schien sich der
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egalitär-universalistische Anspruch der bürgerlichen Öffentlichkeit auf gleichberech-
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tigte Inklusion aller Bürger in Gestalt der neuen Medien endlich zu erfüllen. Diese
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Medien würden allen Bürgern eine eigene öffentlich wahrnehmbare Stimme und dieser
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Stimme sogar mobilisierende Kraft verleihen. Sie würden die Nutzer aus der rezepti-
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ven Rolle von Adressaten, die zwischen einer begrenzten Anzahl von Programmen
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wählen, befreien und jedem Einzelnen die Chance geben, sich im anarchischen Aus-
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tausch spontaner Meinungen Gehör zu verschaffen. Aber die Lava dieses zugleich anti-
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autoritären und egalitären Potentials, die im kalifornischen Gründergeist der frühen
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Jahre noch zu spüren war, ist im Silicon Valley alsbald zur libertären Grimasse welt-
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beherrschender Digitalkonzerne erstarrt. Und das weltweite Organisationspotential,
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das die neuen Medien bieten, dient rechtsradikalen Netzwerken ebenso wie den tapfe-
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ren belarussischen Frauen in ihrem ausdauernden Protest gegen Lukaschenko . Die
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Selbstermächtigung der Mediennutzer ist der eine Effekt; der andere ist der Preis, den
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diese für die Entlassung aus der redaktionellen Vormundschaft der alten Medien
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bezahlen, solange sie den Umgang mit den neuen Medien noch nicht hinreichend
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gelernt haben. Wie der Buchdruck alle zu potentiellen Lesern gemacht hatte, so macht
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die Digitalisierung heute alle zu potentiellen Autoren. Aber wie lange hat es gedauert,
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bis alle lesen gelernt hatten?

Aus: Jürgen Habermas: Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik, Berlin: Suhrkamp 2022, S. 44 ff.

Jürgen Habermas (* 1929) ist ein bedeutender deutscher Philosoph.

Material 4

Die große Gereiztheit

Bernhard Pörksen

1
Aber tatsächlich belegen Befragungen, dass die Beleidigungen und Belästigungen im
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Netz weit verbreitet sind. 73 Prozent der erwachsenen Internetnutzer geben an, jeman-
3
den zu kennen, der online bedroht wurde. [...] Dass solche Erlebnisse im offenen
4
Kommunikationsraum der digitalen Welt einschüchtern, ist evident.
5
Vor diesem Hintergrund lohnt sich grundsätzlich und unabhängig von konkreten Reiz-
6
themen die Frage, was Auseinandersetzungen und Debatten entgleisen lässt. Was ver-
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giftet sie? Was treibt sie in eine ungesunde Überhitzung und Polarisierung hinein? Zum
8
einen ist es ein Gefühl der Anonymität, das enthemmt, wie der Psychologe John Suler
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gezeigt hat. Er unterscheidet zwei Formen der Enthemmung, die gutartige und die
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toxische. In positiver Hinsicht erlaubt die Kommunikation unter dem Deckmantel der
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Anonymität, sich vorsichtig, gleichsam tastend über eigene Sehnsüchte klar zu werden,
12
die sexuelle Identität, den Wunsch nach einem anderen Leben, was auch immer. Im
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Negativen senkt anonyme bzw. pseudonyme Kommunikation die Hemmschwellen bei
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der Verbalattacke, weil man – häufig irrtümlich – glaubt, man könne nicht verfolgt und
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auch nicht verantwortlich gemacht werden für das Gesagte; die Aggressionsabfuhr sei
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also risikolos möglich. Hinzu kommt, dass das Gegenüber zumeist nicht sichtbar ist
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und oft nonverbale, Empathie fördernde Signale und unmittelbare, zeitnahe Reaktio-
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nen fehlen, die greifbar werden lassen, welchen Schmerz man einem anderen gerade
19
zufügt. [...]
20
Zum anderen aber, auch das gehört zu den Bedingungen, die das Diskursklima beein-
21
trächtigen, taugt die Netzöffentlichkeit grundsätzlich als Instrument und Katalysator
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der aggressiven Polarisierung – frei nach dem Motto des Medientheoretikers Marshall
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McLuhan: Das Medium radikalisiert die Botschaft. Denn nun können sich auch die
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einst Marginalisierten mit Gleichgesinnten verbünden und eine hemmende Isolations-
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furcht überwinden, die sie zuvor noch blockiert und eingeschüchtert haben mag. Und
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wer will, bekommt in der Empörungsdemokratie der Gegenwart für jede Idee ein
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Forum bzw. schafft sich dieses selbst. Auch der gerade noch einsam vor sich hin
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rasende Wutbürger findet nun blitzschnell Bestätigung und scheinbar gute Gründe für
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die eigene Erregung – ohne dass diese Beweise und Bestätigungen notwendigerweise
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eine Art offiziellen Glaubwürdigkeits- und Realitätsfilter der klassischen Mediende-
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mokratie passiert haben müssten.

Aus: Bernhard Pörksen: Die große Gereiztheit. Wege aus der kollektiven Erregung, München: Hanser 2. Aufl. 2018, S. 76 f.

Bernhard Pörksen (* 1969) ist ein deutscher Medienwissenschaftler und Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen.

Material 5

„Dialog ist die Mutter der Demokratie“: Auszug aus einem Interview mit dem Politikwissenschaftler Roland Roth

Roland Roth

1
Dialog ist einer der Schlüsselbegriffe, wenn von Demokratie und Bürgerbeteiligung
2
die Rede ist. Was ist in diesem Kontext mit Dialog gemeint?
3
Roland Roth: Dialog ist der Austausch von Meinungen, von Ideen und Vorstellungen,
4
die sich im Gespräch entwickeln und verändern können. Dialog ist das Grundprinzip
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demokratischer Verständigung. Dialog setzt Empathie voraus, Dialog bedeutet, sich
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auf die Perspektiven des anderen einzulassen. Wenn das gelingt, kann es sein, dass
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man die eigenen Präferenzen und Vorstellungen verändert.
8
Wie steht es um die Dialogfähigkeit in der Gesellschaft?
9
Der Dialog ist zu einem knappen Gut geworden. Das hat auch mit veränderten Arbeits-
10
prozessen zu tun, die immer weniger auf Dialoge, auf Gespräche, auf Zusammenarbeit
11
mit anderen Menschen angewiesen sind. Eine weitere Quelle ist die Mediatisierung in
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dem Sinne, dass Dialoge und Gespräche immer stärker medienvermittelt sind. Das
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hängt auch mit der Ausbreitung der neuen sozialen Medien oder eher „unsozialen“
14
Medien zusammen. Heute ersetzen alle möglichen Formen der Internet-Kommunika-
15
tion zunehmend das direkte Gespräch von Angesicht zu Angesicht. Dadurch gehen
16
zentrale demokratische Qualitäten verloren, zum Beispiel der Aufbau von Vertrauen,
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das für politische Kontexte besonders wichtig ist. Ich kann Vertrauen nur mit Men-
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schen und zu Menschen entwickeln, wenn ich direkt mit ihnen kommuniziere. Ich kann
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das nicht abstrakt in irgendeinem medialen Zusammenhang tun, in dem Wut-Kommu-
20
nikation, Vorurteile oder Vorbehalte dominieren. Es ist zentral für die demokratische
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Qualität des Dialogs, gute Argumente für die eigene Perspektive, für die eigenen Vor-
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schläge zu liefern, aber auch die Bereitschaft mitzubringen, nicht nur Meinungen aus-
23
zutauschen und nicht nur ja oder nein zu irgendeiner Ansicht zu sagen, sondern sich
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genauer anzuhören: Weshalb ist die oder der Betreffende denn ganz anderer Ansicht
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als man selber? Dialog ist die Mutter der Demokratie. Je knapper diese Ressource im
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demokratischen Prozess ist, desto geringer ist die demokratische Qualität.
27
Was ist notwendig, um Dialoge führen zu können, welche Kompetenzen und Ressour-
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cen sind dafür nötig?
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Man muss den Dialog im Grunde genommen von klein auf lernen. Beteiligungspro-
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zesse, in Kitas, in Kinderstuben aller Art, in der Familie, sind dafür notwendige Lern-
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orte. Sich eine Meinung zu bilden, sie auch in der Auseinandersetzung begründen und
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andere überzeugen zu können, diese Grunderfahrung zu stärken, ist wesentlich. Weil
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sie auch bedeutet: Ich nehme mich selber ernst und werde ernstgenommen. Aber auch:
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Du bist mir wichtig genug, Dir zuzuhören und ich gehe davon aus, dass Du etwas zu
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sagen hast, was für mich Bedeutung hat. Und von daher ist es sehr wichtig, Orte zu
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schaffen, an denen das möglich ist. Und das umso mehr, je heterogener und vielfältiger
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unsere Gesellschaften werden.

Quelle: Dialog ist die Mutter der Demokratie, Interview mit Roland Roth, in: mitarbeiten, Informationen der Stiftung Mitarbeit 3 / 2019, S. 2 f., abgerufen am 26.12.2023.

Roland Roth (* 1949) ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft.

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