Lerninhalte in Deutsch
Inhaltsverzeichnis

Aufgabe 3 – Textanalyse

Thema

Sprache in politisch-gesellschaftlichen Verwendungszusammenhängen

Hendrik Munsberg (* 1961): Heute schon „gepitcht“? (2021)

Aufgabenstellung

1)

Analysiere den Text Heute schon „gepitcht“? von Hendrik Munsberg. Gehe dabei auf den Gedankengang, die sprachlich-stilistische Gestaltung und die Intention ein. (ca. 70 %)

2)

Nimm Stellung zur Position des Autors. Berücksichtige dabei deine Kenntnisse zur Sprache in politisch-gesellschaftlichen Verwendungszusammenhängen. (ca. 30 %)

Material

Heute schon „gepitcht“?

Hendrik Munsberg

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VW-Chef Herbert Diess hat das Auto neu erfunden. Damit das auch jeder merkt, nennt
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er Autos jetzt nicht mehr „Autos“, sondern „Mobile Devices“. Allerdings bleibt da für
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Diess, wie er selber sagt, noch eine „Challenge“: VW muss die Probleme mit Software
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und Elektronik in den Griff bekommen.
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Selbstverständlich steht auch Oliver Bäte, der Vorstandsvorsitzende des Allianz-Kon-
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zerns, an der Spitze des Fortschritts. Neuerdings ist er strikt darauf bedacht, dass in
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seinem global operierenden Unternehmen „Produkte und Prozesse“ nicht nur einfach
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und digital“ sind. Sondern – wichtig, wichtig – auch „skalierbar“.
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Klar, dass Deutsche-Bank-Chef Christian Sewing im Wettstreit um Deutungshoheit
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ganz vorne mitmischt. Jetzt, in der Corona-Krise, achtet Sewing akribisch auf die
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Bedürfnisse seiner Kunden, die wegen Infektionsgefahr ihre Finanzgeschäfte daheim
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am Computer oder per Tablet erledigen. Die Deutsche Bank schloss deshalb deutlich
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mehr Filialen als geplant. Nutzt Sewing etwa die Pandemie aus, um Kosten zu drü-
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cken? Mitnichten! Seine Erklärung: „Wir reagieren agil.“
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Agil, skalierbar, Mobile Devices und jeden Tag eine neue Challenge! Hallo? Versteht
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das da draußen noch jemand? Wohl kaum, aber meist ist das auch gar nicht die Absicht,
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schon eher geht es um verbales Blendwerk. Immer neue Modewörter geistern durch
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die deutsche Wirtschaft – vorzugsweise sind es Anglizismen, Anleihen aus dem
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Anglo-Amerikanischen, der weltweit dominierenden Wirtschaftssprache. Wer diesen
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Jargon benutzt, sagt der Wirtschaftspsychologe Dieter Frey, „will vor allem als modern
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und fortschrittlich gelten und dadurch anderen imponieren“. Gelingt das, so dauert es
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nicht lange, bis sich immer mehr Nachahmer finden.
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Das Leibniz-Institut für Deutsche Sprache in Mannheim (IDS) hat für die Süddeut-
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sche Zeitung erkundet, welche Begriffe und Phrasen seit 1990 in Firmen Karriere
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gemacht haben. Überaus populär sind demnach „Performance“ und „Portfolio“ (siehe
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Grafik), ähnlich beliebt ist das Verb „fokussieren“. Als Evergreens erweisen sich
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aber auch Redensarten und Plattitüden wie „gut aufgestellt“, „Sinn machen“ und-
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ebenfalls hitverdächtig – „am Ende des Tages“.
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Die Analyse des IDS stützt sich auf eine Auswertung deutschsprachiger Zeitungen und
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Zeitschriften in den Ressorts „Wirtschaft“, „Finanzen“ und „Beruf“. Die Grafik zeigt,
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welche Begriffe erst seit Kurzem in Mode sind: „agiles Arbeiten“, „agile Teams“ und
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„skalierbar“ [...]. Deutsche-Bank-Chef Sewing und Allianz-Lenker Bäte liegen also
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voll im Trend.
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Über Jahre und Jahrzehnte hinweg bilden sich immer neue Sedimentschichten aus
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Wörtern und Phrasen, die zu einer Art Wirtschaftskauderwelsch verschmelzen. Heute
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wird in den Firmen des Landes „supported“, „committed“ und „gepitcht“, was das
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Zeug hält. Na klar, die deutschen Entsprechungen – unterstützen, vereinbaren und aus-
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wählen – klingen irgendwie altbacken. Und was braucht heute jede Firma, die sich als
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„nachhaltig“ präsentieren will? Logisch, ein „Purpose“ muss her! Ein irgendwie höhe-
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rer Sinn und Zweck, der nach mehr klingt als nach schnöder Gewinnmaximierung.
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Fast noch wichtiger sind für moderne Manager aber die pseudo-philosophischen Zuta-
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ten. Beinahe jeder Arbeitnehmer in Deutschland bekommt es heute mit Vorgesetzten
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zu tun, die ihrem Redefluss in penetranter Häufigkeit ein „am Ende des Tages“ beimi-
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schen. Oder die daran erinnern, dass ein Projekt oder Geschäft „Sinn machen“ muss,
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worin das englische „to make sense“ durchscheint, im Deutschen müsste es aber
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eigentlich „Sinn ergeben“ oder „sinnvoll“ heißen.
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Und wozu dient solches Geschwätz? Offenkundig um klarzumachen, dass zumindest
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einer in der Firma zu Recht höher dafür bezahlt wird, Wichtiges von Unwichtigem zu
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unterscheiden. Und je mehr Mitarbeiter das glauben, desto mehr sind bereit, die Phra-
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sen nachzuplappern, sogar in der Freizeit, unter Freunden und in der Familie. Das Un-
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ternehmens-Kauderwelsch wird so zum Fortschrittsbekenntnis.
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Beste Chancen, Klassiker zu werden, haben auch Anleihen beim Sport: „Wir sind gut
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aufgestellt“, das gehört zum Standardrepertoire von Topmanagern und Firmenchefs.
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Die Politik kopiert das gern: Längst sind auch Union, SPD, Grüne und FDP „gut auf-
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gestellt“, jedenfalls behauptet das ihr Führungspersonal unablässig.
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IDS-Forscher Marc Kupietz betrachtet den Wandel der Sprache im Wirtschaftsleben
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nüchtern. Manche Begriffe, sagt er, seien „sogar nützlich, um Phänomene besser zu
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beschreiben. Die werden dann ausprobiert“. Und entpuppen sich „als erfolgreiche Neu-
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wortschöpfungen“ – oder enden als „Kurzzeitwörter“. „Skalierbar“ bezeichnet zum
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Beispiel einen ökonomischen Sachverhalt, der sich im Deutschen nicht mit einem ein-
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zigen Begriff erklären lässt [...]. Andererseits: Wer will oder muss wirklich wissen,
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was das ist?
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Angefacht wird die Wortschöpfung durch Leute, die damit Geld verdienen: Modewör-
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ter wie Purpose, sagt Frank Brettschneider, Professor für Kommunikationswissen-
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schaft an der Universität Hohenheim, „kommen von den Unternehmens- und Manage-
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mentberatern, die sich so profilieren wollen. Sobald bestimmte Begriffe abgenutzt
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sind, sucht man nach der nächsten Sau, die dann durchs Dorf getrieben wird.“ Am
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Inhalt, so Brettschneider, ändere sich dadurch nichts, „aber es klingt irgendwie gewich-
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tiger“.
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Viele Manager nutzen die Sprachkreationen gern für Umdeutungen oder Schönfärbe-
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reien. Wer würde heute zugeben, dass seine Firma „Probleme“ hat oder in „Schwie-
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rigkeiten“ steckt? Das klänge ja wie das Eingeständnis, die Lösung liege noch im
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Nebel. Darum sagt man lieber: „Wir haben da ein Thema.“ Darin schwingt schon mit
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– „Haken dran, erledigt“. Das wohl prominenteste Beispiel kommt aus Wolfsburg: In
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der Diktion des VW-Topmanagements gab es keinen „Abgas-Skandal“, sondern nur
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eine „Dieselthematik“.
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Und warum nennt VW-Chef Diess Autos, die sein Konzern produziert, nicht mehr
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Autos, sondern Mobile Devices? Na klar, das soll nach innovativen iPhones klingen,
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wie bei Apple-Chef Tim Cook. Verbindet Diess damit womöglich auch eine Verdrän-
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gungsabsicht? Tesla-Chef Elon Musk jedenfalls nennt seine Elektroflitzer schlicht cars
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– und nicht mobile devices. „Solche Umdeutung“, sagt der Autoexperte Ferdinand
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Dudenhöffer, habe Musk „auch gar nicht nötig“, schließlich gelte „Tesla, anders als
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VW, in puncto Software weltweit als Vorbild“.
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Aber gibt es unter den Spitzenmanagern keinen, der sich dem Kauderwelsch-Trend
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widersetzt? Doch, einer weigert sich, die Unternehmenswelt mit immer neuen Angli-
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zismen anzureichern: Telekom-Chef Tim Höttges. „Natürlich“, sagte er, „könnte ich
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durch Sprache Hierarchie oder Macht ausdrücken. Aber Kommunikation auf Augen-
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höhe erfordert Einfachheit.“ Höttges vermeidet bei öffentlichen Auftritten tunlichst
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Anglizismen und Fremdwörter. Statt „Cashflow“ oder „Ebitda“ sagt er „frei verfüg-
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bare Mittel“ und „operatives Ergebnis“. Auf Hauptversammlungen schafft es Höttges,
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länger als eine halbe Stunde in leicht verständlichem Deutsch über seinen Konzern zu
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sprechen. Seit Jahren wird er dafür von der Universität Hohenheim als Vorbild unter
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allen Dax-Konzernchefs ausgezeichnet.
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Warum ist Höttges das wichtig? Henrik Schmitz, verantwortlich für Kommunikation
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bei der Telekom, sagt: „Wirklich kompetent ist ja der, der in der Lage ist, einen kom-
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plexen Sachverhalt so zu erklären, dass ihn viele verstehen.“ Denn Kompetenz drücke
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sich „gerade nicht dadurch aus, dass ich Fachchinesisch raushaue“.
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Ganz leicht ist es aber nicht, dem Kauderwelsch-Virus zu trotzen. Eine Kollegin gab
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Schmitz kürzlich einen dezenten Hinweis: Er sage ständig „am Ende des Tages“.

Quelle: Heute schon „gepitcht“?, Hendrik Munsberg, SZ.de vom 02.02.2021.

Hendrik Munsberg (* 1961) ist Redakteur bei der Süddeutschen Zeitung.

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