Aufgabe 2 – Textinterpretation
Thema
Marie Holzer (* 1874 – † 1924): Die rote Perücke (1914)
Aufgabenstellung
Interpretiere die Erzählung Die rote Perücke von Marie Holzer und beziehe dabei deine Kenntnisse zu Umbrüchen in der Literatur um 1900 mit ein.
Material
Die rote Perücke (1914)
Marie Holzer
1
Sie schaut in das elegante, hellerleuchtete Glasfenster, hinter dem Frisuren stehen in
2
allen Formen und Farben. Auf leuchtenden Wachsbüsten mit rotgeschminkten Wan-
3
gen und tief umränderten blauen, seelenlosen Augen.
4
Die rote Perücke möcht’ ich haben! Plötzlich lebt der Wunsch auf in der kleinen Stu-
5
dentin, heiß und sengend, wie ein Schmerz, wie ein heilig Gebot. Die rote Perücke mit
6
den tiefen, breiten Wellen, den kleinen, schmiegsamen Ringelchen um die Schläfe und
7
der großen duftigen Lokke, die sich wie nach einer zärtlichen Bewegung zufällig los-
8
gelöst und einem hinter dem Ohr in den Nacken fällt.
9
Was sind die blonden, schwarzen, braunen Haare nichtssagend im Gegensatz zu der
10
roten Perücke, die wie Feuer glänzt. Hell ringeln sich die Löckchen zu züngelnden
11
Flammen, dunkel glüht der Scheitel, Sonnen sprühen, Leidenschaft glänzt im Flim-
12
mergold jeden Haares.
13
Ach, wär’ die rote Perücke mein! Könnt ich sie einmal tragen eine Nacht hindurch.
14
Auf einem glänzenden Ball. Lichtüberflutete Säle. Herren in Frack und Uniform,
15
Orden auf der Brust, Sterne, Kreuze. Damen in glitzerndem Schmuck und eleganten
16
Toiletten, und ich mitten drin mit dem roten Haar, das halbgelöst in den Nacken fällt,
17
dessen kleine Löckchen sich um meine klopfend warmjunge Stirne schmiegen, das
18
Ohr küssen, meine Wangen liebkosen, das Schwarz meiner Augenbrauen betonen,
19
meine Blicke leuchtend vertiefen.
20
Aller Augen sehen auf mich, hüllen mich ein in Glut und Licht. Und ein ander Leben
21
erwacht in meinem Blut, mein Denken, mein Fühlen wird heißer unter der Feuers-
22
brunst der roten Haare, meine Augen leuchteten anders, meine Blicke würden wärmer,
23
meine Worte trunken von seltsamer Fremdheit.
24
Stolz wie eine Siegesfahne trüg ich die rote Perücke durch den Saal – durch das Leben
25
dann, und es lacht und lockt, verspricht und schenkt, betört und beseligt ... Nicht wie
26
jetzt bei toten Büchern sitzen, bei Worten mit fremdem Klang, bei Längstgestorbenen,
27
deren Atem verweht, deren Gedanken bloß ein seltsam Leben führen, das man erwe-
28
cken kann oder daran vorübergehen, und ich will nicht mehr, ich will nicht mehr ...
29
Die toten Haare hier auf der kalten Wachsbüste, die will ich zum Leben wecken, sie
30
würden zu reden beginnen, wenn ich darunter lachte. Tausend Wünsche steigen empor
31
und umarmen mich. Gedanken haken sich fest, die mich umgarnen. Rote Sehnsucht
32
rinnt in meinen Adern, Verlangen klopft in den Gliedern, und um mich her, eine mir
33
fremde, kalte Grausamkeit lauert im Herzen, und die Seele horcht, die Seele wächst
34
und wächst ...
35
Gedanken einer Mänade steigen empor aus dem roten Haar, Wünsche einer Circe,
36
das Erinnern an tausend Erlebnisse, das Locken einer bleichen Nixe mit dem grün-
37
schimmernden Wunderleib. Sirenenlachen. Glutvolle Leidenschaft. Die Sehnsucht,
38
die Jahrtausende geklopft in Milliarden Frauenherzen, stünde auf. Lebendig. Riesen-
39
groß. Lachend. Märchenhaft tief.
40
Schön wär’ ich und begehrenswert. Eine Siegerin, die lächelnd über zertretene Herzen
41
geht, über kniend betende Seelen.
42
Ja, sie allein hat mir gefehlt zur Entfaltung meines Selbst, das fühl’ ich, das weiß ich.
43
Meines Herzens Lachen, meiner Sinne Flamme, meines Geistes Feuer, sie alle warte-
44
ten auf die rote Perücke, mit dem Haar aus Feuergold, auf die Vision der roten Perücke.
45
„Mein Fräulein!“
46
Ein Herr steht neben ihr mit suchenden Augen und einem leis-verlegenen Lächeln.
47
„Mein Herr.“ Sie lächelt, das erstemal, daß sie sich nicht empört fortwendet, sondern
48
lächelt, und sie fühlt die Kraft dieses Lächelns.
49
„Fräulein, was sind die leblosen Haare hier im Gegensatz zu Ihrer blonden Lieblich-
50
keit.“
51
Sie sieht ihn an.
52
„Darf ich ein Stückchen mitgehen. Es ist ein so schöner Abend heute, voll dunkler
53
Geheimnisse.“
54
Entschlossen richtet sie sich auf. „Kaufen Sie mir die rote Perücke.“
55
„Vielleicht – später“, meint er ausweichend.
56
Sie lacht höhnisch. „Für mich gibt es nur einen Kaufpreis, und der muß gleich erlegt
57
werden.“
58
Er wartet und rechnet. Dann sinkt er zusammen. Er hat nicht soviel und wird wohl
59
niemals soviel beisammen haben. Aber er mag nicht fort. Die kaltfunkelnden Augen
60
locken ihn, und er vertraut der Macht seiner jungen, bittend-demütigen Augen. Aber
61
sie sieht über ihn hinweg, bis er fortschleicht.
62
Ihre Augen umwerben wieder die rote Perücke, und sie weiß, sie wird sie tragen.
Aus: Hartmut Vollmer (Hrsg.), Prosa expressionistischer Dichterinnen, Hamburg: Verlag Literatur und Wissenschaft 2010, S. 22 – 24.
Weiter lernen mit SchulLV-PLUS!
monatlich kündbarSchulLV-PLUS-Vorteile im ÜberblickDu hast bereits einen Account?Die Lösungen befinden sich aktuell noch in der Entwicklung und werden bald verfügbar sein.