Aufgabe 2 – Textinterpretation
Hinweis: Aufgabe 1 wurde den Schülern in diesem Jahr nicht zur Auswahl gegeben. Daher starten wir mit Aufgabe 2.
Thema
Marie Holzer (* 1874 – † 1924): Die rote Perücke (1914)
Aufgabenstellung
Interpretiere die Erzählung Die rote Perücke von Marie Holzer und beziehe dabei deine Kenntnisse zu Umbrüchen in der Literatur um 1900 mit ein.
Material
Die rote Perücke (1914)
Marie Holzer
Aus: Hartmut Vollmer (Hrsg.), Prosa expressionistischer Dichterinnen, Hamburg: Verlag Literatur und Wissenschaft 2010, S. 22 – 24.
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Die 1914 veröffentlichte Erzählung Die rote Perücke von Marie Holzer thematisiert den psychischen Ausbruch einer jungen Studentin aus ihrem reglementierten Alltag. Ausgelöst durch den Anblick einer roten Perücke im Schaufenster steigert sie sich in eine Identitätskrise hinein, in der sie sich von einer unscheinbaren Frau zu einer triebgesteuerten, dominanten Verführerin wandelt.
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Der Text lässt sich als psychologische Studie verstehen, die typisch für die Literatur um 1900 ist: Ein Fetisch (die Perücke) dient als Katalysator, um unterdrückte sexuelle Begierden und Machtfantasien freizusetzen, was zu einer radikalen Umwertung der eigenen Moralvorstellungen führt.
Hauptteil
Erzählstruktur & Sprache
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Erzählperspektive (Rahmen vs. Kern): Die Erzählung ist durch einen Perspektivwechsel strukturiert: Ein auktorialer Erzähler führt in die Szene ein (Z. 1–8) und beschließt sie (Z. 45–62). Das Zentrum bildet jedoch die radikale Innensicht der Protagonistin (Z. 13–44) in Form eines inneren Monologs. Diese Technik ist essenziell, um die subjektive Binnensicht, ihre geheimsten Wünsche, die psychische Erregung und das assoziative, sprunghafte Denken der Protagonistin für den Leser unmittelbar erfahrbar zu machen.
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Tempus und Unmittelbarkeit: Das durchgängig verwendete Präsens („Sie schaut“, Z. 1; „Wünsche steigen empor“, Z. 30) erzeugt eine hohe Unmittelbarkeit. Der Leser wird distanzlos in das psychische Erleben der Figur hineingezogen, was die Intensität des Wahnzustands unterstreicht.
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Syntaktische Gestaltung: Die Syntax spiegelt den psychischen Zustand wider: Zu Beginn dominieren noch beschreibende Sätze, die jedoch zunehmend einem expressiven Stil weichen. Ellipsen (Vfl. Z. 14 ff.) und Ausrufe („Sirenenlachen. Glutvolle Leidenschaft.“, Z. 37) markieren die emotionale Erregung und das chaotische Überströmen der Gefühle. Asyndetische Reihungen („lachte und lockte, verspricht und schenkt“, Z. 25) erzeugen eine Dynamik, die den Leser förmlich in den Strudel der Gedanken hineinzieht.
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Bildsprache und Metaphorik: Das zentrale Leitmotiv ist das Feuer (Rot, Glut, Flamme), welches traditionell für Leidenschaft, aber auch für Gefahr und Zerstörung steht. Zudem wird die Perücke konsequent personifiziert: Sie „schmieg[t]“ (Z. 17) sich an und „küss[t]“ die Trägerin (Z. 18). Dies verdeutlicht, dass das Objekt in der Wahrnehmung der Frau ein Eigenleben entwickelt und zum eigentlichen Akteur wird, der Macht über sie ausübt.
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Wortwahl und Symbolik: Begriffe wie „warmjung“ (Neologismus, Z. 17) stehen im Kontrast zu den „toten Büchern“ (Z. 26) und „leblosen Haaren“ (Z. 49). Dies unterstreicht den Konflikt zwischen dem vitalen Leben, nach dem sie sich sehnt, und der starren, intellektuellen Welt, der sie entfliehen will.
Textanalyse
Erster Sinnabschnitt: Das Erwachen des Begehrens (Z. 1–8)
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Setting und Auslöser: Die Protagonistin betrachtet eine Auslage mit Perücken, die auf „Wachsbüsten“ mit „seelenlosen Augen“ (Z. 2 f.) präsentiert werden. Diese Betonung der künstlichen Leblosigkeit bildet einen scharfen Kontrast zur inneren Explosion, die in der Studentin ausgelöst wird.
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Existenzieller Mangel: Der Wunsch nach der Perücke ist keine bloße Laune, sondern bricht gewaltig hervor: „heiße und sengend, wie ein Schmerz, wie ein heilig Gebot“ (Z. 5). Diese religiöse und schmerzhafte Konnotation zeigt, dass die Perücke eine tiefere Leerstelle in ihrem Leben füllen soll und eine übermächtige Instanz darstellt.
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Fetischisierung: In einer detaillierten Beschreibung (Vgl. Z. 5–8) fokussiert sich der Blick der Frau auf sinnliche Details wie „schmiegsame Ringelchen“ (Z. 6) und eine „duftige Lokke“ (Z. 7). Die Perücke wird hier bereits erotisch aufgeladen und als Objekt der Begierde inszeniert.
Zweiter Sinnabschnitt: Die Kraft des Feuers (Z. 9–12)
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Licht- und Feuermetaphorik: Die rote Perücke wird durchgängig mit Feuer assoziiert („wie Feuer glänzt“, „züngelnde Flammen“, „sprühenden Sonnen“, Z. 10 f.). Dies symbolisiert nicht nur Leidenschaft und Vitalität, sondern auch eine zerstörerische Gefahr, die von dem Haarteil ausgeht.
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Abwertung der Normalität: Im Vergleich zur strahlenden Perücke erscheinen natürliche Haarfarben (blond, schwarz, braun) als „nichtssagend“ (Z. 9). Dies verdeutlicht die innere Abkehr der Studentin von der bürgerlichen Konformität und dem Unauffälligen hin zum Extravaganten.
Dritter Sinnabschnitt: Der Tagtraum / Innerer Monolog (Z. 13–44)
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Soziale Allmachtsfantasie: Zunächst träumt sich die Studentin in einen Ballsaal, wo sie im Mittelpunkt von „Herren in Frack“ (Z. 14) und „Damen in glitzerndem Schmuck“ (Z. 15) steht. Die Perücke dient hier als Mittel zur sozialen Aufwertung und sichtbaren Dominanz („Aller Augen sehen auf mich“, Z. 20).
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Erotisierung und Personifikation: Die Perücke wird zunehmend als aktives, liebkosendes Wesen dargestellt, das ihre „Wangen liebkos[t]“ und das „Ohr küss[t]“ (Z. 18). Sie ersetzt einen menschlichen Partner und interagiert zärtlich mit der „klopfend warmjungen Stirne“ (Z. 17) der Studentin.
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Ablehnung des Intellekts (Vitalismus): Die Protagonistin setzt ihr pulsierendes Leben („mein Blut“, Z. 21) in direkten Kontrast zu ihrem Studium, das sie als Beschäftigung mit „toten Büchern“ und „Längstgestorbenen“ (Z. 26) abwertet. Sie entscheidet sich radikal für das rauschhafte Leben und gegen den Geist („ich will nicht mehr“, Wiederholung, Z. 28).
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Dämonisierung und Kontrollverlust: Die Machtverhältnisse kehren sich um: Die Studentin „erweckt“ die Perücke nicht, sondern die Perücke übernimmt die Kontrolle über sie. „Rote Sehnsucht rinnt in meinen Adern“ (Z. 31 f.) und eine „fremde, kalte Grausamkeit“ (Z. 33) ergreifen Besitz von ihr, was den Einbruch des Triebhaften markiert.
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Mythologische Überhöhung: Um ihre neue Identität zu fassen, greift sie auf antike Mythen zurück: Sie sieht sich als „Mänade“ (Begleiterin des Dionysos), „Circe“ (Zauberin) oder „Nixe“ (Z. 35 ff.). Diese Femme-fatale-Figuren stehen für eine tödliche Verführungskraft, die Männer ins Verderben stürzt („zertretene Herzen“, Z. 40).
Vierter Sinnabschnitt: Konfrontation mit der Realität (Z. 45–62)
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Missverständnis im Dialog: Ein realer Mann spricht sie an, verkennt aber ihr Wesen komplett, indem er ihre „blonde Lieblichkeit“ (Z. 49) lobt. Er sieht in ihr noch das Unschuldige („Heilige“), während sie sich innerlich bereits zur „Hure“ bzw. zum Vamp gewandelt hat.
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Kälte und Berechnung: Die Wirkung der inneren Wandlung zeigt sich im Außen: Statt Schüchternheit zeigt sie „kaltfunkelnde Augen“ (Z. 59) und ein „höhnisches“ Lachen (Z. 56). Sie instrumentalisiert ihre Anziehungskraft und fordert die Perücke als Gegenleistung („Kaufpreis“, Z. 56), was Züge von Prostitution trägt.
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Triumph der Fantasie: Der Mann, der nur „bittend-demütige Augen“ (Z. 60) hat, kann ihren Anspruch nicht erfüllen und wird abgewiesen. Der Text endet nicht mit Ernüchterung, sondern mit der festen Überzeugung der Studentin, dass ihre Vision Realität wird: „sie weiß, sie wird sie tragen“ (Z. 62).
Literarische und historische Umbrüche um 1900
Psychoanalyse (Sigmund Freud)
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Strukturmodell der Psyche: Die Erzählung illustriert par excellence Freuds Instanzenmodell: Das Über-Ich (gesellschaftliche Normen, Studium, braves Benehmen) wird durch den Reiz der Perücke vom Es (unterdrückte sexuelle Triebe, Aggression, Machtwünsche) überwältigt.
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Das Unbewusste: Die Protagonistin erkennt, dass diese Triebe („Tausend Wünsche“, Z. 30) schon immer in ihr schlummerten und nur auf einen Auslöser warteten. Die Perücke fungiert als Fetisch, der das verdrängte Unterbewusste an die Oberfläche holt.
Geschlechterbilder
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Hure vs. Heilige: Der Text spielt mit der um 1900 verbreiteten Dichotomie des Frauenbildes. Die Protagonistin bricht aus der Rolle der sittsamen, intellektuellen Frau („Heilige/Blaustrumpf“) aus und stilisiert sich zur Femme fatale, die Männer durch Erotik beherrscht und vernichtet.
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Emanzipatorischer Aspekt: Auch wenn das Bild der „männerfressenden“ Frau ein Angstbild der Zeit war, deutet der Text es hier als subjektiven Befreiungsschlag der Frau: Sie wird vom passiven Objekt der Betrachtung zur aktiven, wenn auch grausamen Akteurin.
Philosophie und Epochenmerkmale
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Nietzsche & Dekadenz: Der Wille, „über zertretene Herzen“ (Z. 40) zu gehen und sich moralisch nicht zu rechtfertigen, erinnert an Nietzsches „Übermenschen“ und den „Willen zur Macht“. Gleichzeitig verweist der Ästhetizismus und die Flucht in künstliche Welten auf die Dekadenzdichtung.
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Expressionismus: Die aggressive Farbsymbolik (Rot/Feuer), der Bruch mit der Syntax, der Schrei nach Leben („ich will nicht mehr“, Z. 28) und die Thematisierung des Rausches weisen den Text als typisch expressionistisch aus.
Schluss
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Marie Holzers Erzählung demonstriert eindrucksvoll, wie brüchig die bürgerliche Identität zu Beginn des 20. Jahrhunderts wahrgenommen wurde. Ein simpler Reiz genügt, um die Fassade der Zivilisation zum Einsturz zu bringen.
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Die „rote Perücke“ wird somit zum Symbol für die Ambivalenz der Moderne: Sie verspricht Freiheit und Vitalität, führt aber gleichzeitig in eine neue Abhängigkeit von Trieben und Konsumgütern. Der Text ist eine psychologische Momentaufnahme der Umbrüche jener Epoche.