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Inhaltsverzeichnis

Aufgabe 3 – Texterörterung

Thema

Kerstin Bund (* 1982): Wie du wieder aussiehst (2023)

Aufgabenstellung

a)

Stelle den Argumentationsgang dar und erläutere die Intention des Textes. (ca. 40 Prozent)

b)

Erörtere textbezogen die Position der Autorin zur Bedeutung der Kleiderwahl in der Arbeitswelt. (ca. 60 Prozent)

Material

Wie du wieder aussiehst

Kerstin Bund

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Der Dresscode der Arbeitswelt befindet sich seit Jahren im Sinkflug des kollektiven
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down dressing. Krawatte trägt mit Ausnahme einiger hartgesottener Finanz- und Ver-
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sicherungsvertreter schon lange keiner mehr. Anzughose und Budapester sind abge-
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löst von Chinos und Sneakers oder gleich von Shorts und Flipflops. Die Pandemie hat
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dem Dresscode dann vollends den Rest gegeben. Seit unzählige Videos im Netz kur-
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sieren, auf denen Mitarbeitende in Schlafanzug oder Unterwäsche durchs Kamerabild
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schlurfen, sind auch die letzten anstandswahrenden Hüllen im Home-Office gefallen.
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Bequem ist das neue Chic.
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Der Trend des modischen Abtakelns macht auch vor den Chefetagen nicht halt. Hier-
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zulande wundert sich kaum einer mehr, wenn selbst Vorstandsvorsitzende von Dax-
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Konzernen mit Kapuzenpulli, verwaschenen Jeans und bunten Turnschuhen auftreten.
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Das Silicon Valley hat auch hier den Trend gesetzt und schon vor Jahren erst den
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schwarzen Rollkragenpullover (Steve Jobs), später das mausgraue T-Shirt (Mark
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Zuckerberg) CEO-tauglich gemacht. Und es hört beim Kleidungskodex ja nicht auf.
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Zur neuen Lockerheit im Büro passt auch das in Firmen weit verbreitete, fast zwang-
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hafte Duzen, das Vorgesetzte in E-Mail-Signaturen und Ansteckbuttons (#GernePer-
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Du) buchstäblich vor sich hertragen. Ist doch schön, dass sich die Arbeitswelt endlich
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mal locker macht.
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Gegen eine zwanglose Arbeitsatmosphäre wäre natürlich nichts einzuwenden, gäbe es
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da nicht ein kleines Problem. Die neue Lässigkeit ist nämlich selten so lässig, wie sie
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daherkommt. Bei den Beschäftigten führt sie mitunter sogar zu Missverständnissen
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und enttäuschten Erwartungen. Denn nur weil der Chef neuerdings in bunten Turn-
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schuhen aufläuft, heißt das nicht, dass er nun auch einen lockeren Führungsstil pflegt.
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Und auch wenn die Vorgesetzte gleich am ersten Arbeitstag das Du angeboten hat,
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darf man häufig nicht einfach so in ihr Büro marschieren, sondern sollte, so viel Hier-
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archie muss sein, vorher einen Termin mit ihrem Assistenten vereinbaren.
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Schon klar, im Kampf um junge Talente glauben viele Vorgesetzte, sie müssten sich
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besonders locker und leger geben, um beim begehrten Nachwuchs überhaupt eine
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Chance zu haben. Doch wenn die hart umkämpfte Nachwuchskraft merkt, dass ihre
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zündende Idee in der Post-it-bunten Brainstormingrunde untergeht, nur weil sie nicht
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vom Chef höchstpersönlich kam, dann macht sich Ernüchterung breit. Beim Karten-
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spiel der Konzernautoritäten gilt immer noch: ranghöher sticht rangnieder. In den
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meisten Unternehmen regieren auch im Jahr 2023 noch Status und Hierarchie. Daran
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ändern dann auch Duz-Zwang und offene Hemdkragen nichts. Sie machen es nur etwas
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schlechter erkennbar.
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Der Wegfall von Formalitäten birgt aber noch eine weitere Gefahr: Ein wie auch im-
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mer gearteter Kleiderkodex diente lange als Entscheidungshilfe im multioptionalen
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Alltag, als lebenserleichternde Leitplanke bei der täglichen Frage: Was ziehe ich an?
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Nun stehen Millionen von Beschäftigten morgens orientierungslos vorm Kleider-
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schrank. Wie viel Energie es spart, wenn man sich über das Outfit keine Gedanken
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machen muss, davon können Ärztinnen, Bestatter und Schornsteinfegerinnen berich-
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ten. Der Preis der kollektiven Uniformierung war zwar, dass sich etwa Außendienst-
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mitarbeiter jahrzehntelang in zu weit geschnittenen Hemden und schlecht sitzenden
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Anzügen um den Ausdruck ihrer Persönlichkeit gebracht fühlten. Aber fördert das
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selbstbestimmte Sichkleiden heute wirklich mehr Schönheit zutage?
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Wer früher ohne nachzudenken Jackett oder Blazer überwarf, muss sich heute anzie-
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hen. Das bedeutet: Viele sind gezwungen, sich vor der Arbeit erst mal mit der Klei-
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dungsfrage auseinanderzusetzen. Und da der Mensch aus den bekannten Gründen
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denkfaul ist, führt das mitunter dazu, dass er sich entweder in modische No go-Areas
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verirrt (wie sonst ist es zu erklären, dass unter Büroarbeitern auf einmal Engelbert
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Strauss als tragbar gilt?). Oder aber auf einen Kniff zurückgreift, der die nach sozialer
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Zugehörigkeit strebende menschliche Natur vor Ausgrenzung schützen soll: Er oder
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sie kleidet sich, ganz ohne formellen Dresscode, genau wie alle anderen.
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Das ließ sich zum Beispiel eindrücklich beim G-7-Gipfel in Elmau im vergangenen
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Jahr studieren. Sieben Staats- und Regierungschefs positionierten sich fürs Gruppen-
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foto vor traumhafter Alpenkulisse und sahen alle – gleich aus: dunkler Anzug (bis auf
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Justin Trudeau gewagt in hellgrau), weißes Hemd, das war’s. Dass es alles Männer
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waren, machte es nur eintöniger, ist aber ein anderes Thema. Auf jeden Fall galt: keine
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Krawatte weit und breit. Mit dem Schlips beraubten sich die Staatsmänner freiwillig
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ihres letzten Zipfels potenzieller Unterscheidbarkeit. Das Foto war vor allem eines-
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langweilig. Ähnliches ist auch in der sonst sehr auf Individualität bedachten Start-up-
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Szene zu beobachten: Ganz ohne jede Form von Dresscode hat sich dort ein ganz be-
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stimmter Casual-Einheitslook etabliert: eng anliegendes Shirt, eng sitzende Jeans,
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weiße Sneakers. Fertig ist die Gründeruniform. Fast schon amüsant, wie der Wunsch
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nach mehr Individualität einst die Abschaffung jeder Formalität beförderte, nur um
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dann in noch größerer Konformität zu enden.
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Die Bekleidungsindustrie lacht sich derweil ins Fäustchen. Die Modedesignerin und
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Imageberaterin Katharina Starlay sieht in der optischen Orientierungslosigkeit hiesiger
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Angestellter einen Katalysator für eine Mode, die immer günstiger, austauschbarer und
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kurzlebiger wird. [...]
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„Die Mode als Industrie hat kein Interesse daran, dass wir gut aussehen. Sie will nur,
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dass wir kaufen“ , sagt Starlay.
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Was folgt daraus nun? Vielleicht, dass wir alle nicht umhinkommen, uns mit der Klei-
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derfrage zu beschäftigen. „Kleidung ist immer auch eine Sprache, mit der ich Bot-
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schaften sende“, sagt Starlay, die auch Mitglied im Deutschen Knigge-Rat ist. Heißt:
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wie ich mich anziehe, drückt aus, welchen Wert ich meinem Gegenüber und dem An-
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lass beimesse. Wer sich zu lässig kleidet, signalisiert, er steht über der Sache, vielleicht
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sogar über allen anderen. Die Botschaft: Du bist es nicht wert, dass ich mir für dich
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etwas Anständiges anziehe. Kleidung hat immer auch mit Respekt und Wertschätzung
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zu tun, weshalb man zu einer Beerdigung eher nicht im bunten Flatterkleid erscheint.
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Man kann es so zusammenfassen: Gegen eine lockerere Kleiderordnung ist überhaupt
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nichts einzuwenden, solange sie authentisch ist. Wer autoritär führt, sollte das nicht
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mit einem Hoodie verschleiern. Wer seinem Team viele Freiheiten lässt, darf das ruhig
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mit einer locker sitzenden Hose mit Kordelzug unterstreichen.
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Überhaupt, der erste Eindruck. Wie wichtig das Erscheinungsbild für jene Millisekun-
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den ist, in denen wir unser Bild vom Gegenüber formen (das später nur noch schwer
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zu korrigieren ist), das wusste schon Gottfried Keller im 19. Jahrhundert. Der Schwei-
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zer Dichter beschrieb einen mittellosen Schneidergesellen, der aufgrund seiner guten
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Kleidung für einen Grafen gehalten wird, eine höhere Tochter ehelicht und es dann
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tatsächlich zu eigenem Wohlstand und Ansehen bringt. Der Name der Novelle wirkt
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hier wie eine selbsterfüllende Prophezeiung: „Kleider machen Leute“.
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Fallen die Deutschen, die im Ausland ohnehin nicht für ihr Stilempfinden bekannt sind,
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seit Corona und Home-Office optisch also noch weiter ab? Die Stilexpertin Starlay
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beobachtet bei den Jüngeren eine Trendumkehr, zumindest im Privaten. Die „Abiball-
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Generation“ würde sich heute zu bestimmten Anlässen freiwillig einem sogar beson-
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ders strikten Dresscode unterwerfen. Wer schon mal der Abschlussfeier einer Abitur-
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klasse beigewohnt hat, weiß, was Starlay meint: Nicht nur die Gewänder werden
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immer galanter, das ganze Styling folgt von der Frisur bis zu den Fingernägeln stren-
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gen ästhetischen Vorgaben.
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Vielleicht ist es mit dem Dresscode einfach so: Je bequemer der Alltag, je lockerer die
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Arbeitskleidung, desto festlicher wird der Freizeitanlass. Man muss in diesen Tagen
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nur einmal über die Münchner Theresienwiese schlendern, wo das Oktoberfest gerade
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zu Ende geht. Die kollektive Uniformierung im Trachtengewand, vor wenigen Jahr-
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zehnten unter jungen Leuten noch verpönt, wird gerade von der Jugend unter Beach-
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tung einer strikten Kleiderordnung zelebriert: Solange man die Dirndl-Schleife korrekt
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bindet, die richtige Lederhosenlänge beachtet oder das passende Schuhwerk trägt, ge-
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hört man dazu. [...] Der Dresscode ist tot? Lang lebe der Dresscode.

Quelle: Wie du wieder aussiehst, Kerstin Bund. SZ.de vom 01.10.2023.

Kerstin Bund (* 1982) ist Journalistin im Wirtschaftsressort der Süddeutschen Zeitung.

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