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Inhaltsverzeichnis

Aufgabe 4 – Textanalyse

Thema

David Hugendick (* 1980): Emojis. Kein Problem 😉 (2022)

Aufgabenstellung

a)

Analysiere den vorliegenden Text von David Hugendick. Berücksichtige dabei den Gedankengang, die sprachlich-stilistische Gestaltung und die Intention des Textes. (ca. 70 Prozent)

b)

Setze dich mit der Position des Autors auseinander. (ca. 30 Prozent)

10 BE

Material

Emojis. Kein Problem 😉

David Hugendick

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Irgendwann hing im durchschnittlichen Mietshaus, in dem ich seit Jahren recht unauf-
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fällig wohne, mal wieder ein Zettel an der Eingangstür. Es war ein DIN-A4-Blatt, von
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Hand beschrieben, darauf stand bloß: „Bitte die Tür immer zu machen! 😊“ Das meiste
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an diesem Satz leuchtete mir ein: Draußen war es wieder wärmer geworden, die Men-
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schen saßen auf der Straße, und eine offene Haustür lädt ja spätabends manch ungebe-
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tenen Gast ein, weshalb ich zunächst an dem Zettel vorbeiging und dachte: Wer auch
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immer das geschrieben hat, er hat ja eigentlich recht. Warum allerdings: 😊? Wollte
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der Verfasser vielleicht sagen, dass er diese Ermahnung nicht wütend geschrieben hat,
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sondern allen Bewohnern weiterhin großzügig freundlich zugeneigt ist, selbst wenn sie
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sich nicht an die Anweisung halten? Verdiente der Satz überhaupt noch die Bezeich-
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nung „Anweisung“? Oder bedeutete 😊 am Ende nicht eher, dass es lediglich ein netter
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Vorschlag war, den man so nachlässig behandeln konnte wie die meisten anderen net-
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ten Vorschläge, die man sonst so hört? Oder war 😊 sogar ironisch gemeint, und der
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Zettel war einfach eine Parodie auf alle Blockwarte, die unausgeglichen im Blaumann
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durch Mietshäuser stapfen und deren Bewohner erregt auf widrig abgeschlossene Fahr-
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räder im Innenhof hinweisen? Oder ist 😊 im schlimmsten Fall nicht der Ausdruck
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passiver Aggression, am Ende einer Kette ertragener, erduldeter Zumutungen, zu
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müde, um noch sauer zu sein, ein Aufbäumen des guten Willens, die ostentative
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Freundlichkeit als letzte Hinterlist, die nur noch vom Premiumsatz übertroffen wird,
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der in jedem Ikea hängt: „Danke, dass Du hier nicht rauchst.“ Ja, es ist nur ein 😊. Aber
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er macht alles komplizierter, seitdem Sätze offenbar nicht mehr aus Subjekt, Prädikat,
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Objekt bestehen, sondern ihnen andauernd auch noch ein angeklebtes Gefühl
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hinterhertrotteln muss, das geht ja schon eine Weile so. Ständig grinst am Ende irgend-
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wer. Es hört, das ist seit Jahren eine schlechte Nachricht, leider nicht auf. Auf anony-
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men, an die Gemeinschaft adressierten Hausflurzetteln ist das vermutlich noch egal.
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Aber dem 😊 entgeht man nicht. Und spätestens im Büro wird es kompliziert. Seit dort
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kaum noch telefoniert, aber haltlos gemailt und gechattet wird, verstopfen sie alles mit
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so viel vordergründig guter Laune und emotionaler Zutraulichkeit. Aus dem Control-
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ling fragt jemand argwöhnisch: „Sag mal, was ist denn mit dieser seltsamen Rech-
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nung? 😊“ Der Kollege meinliebert nicht nur aufdringlich, er schreibt: „Mein Lieber,
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Dein Text sollte längst fertig sein 😊.“ Und der Chef schreibt später noch: „Wäre gut,
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wenn Du Dir das bis heute Mittag ansiehst 😊.“ Und entweder bekommen sich alle vor
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Fröhlichkeit kaum noch ein, was nicht nur statistisch gesehen unwahrscheinlich ist,
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oder es geht um etwas ganz anderes. Um Angst, um Unsicherheit, um Verschleierung
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der eigentlichen Absicht. Als wollten all diese Sätze sagen: „Duuuuu, ich mein das
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echt nicht böse.“ Selbstredend: Nichts gegen ein aufrichtiges Lächeln. Aber ein
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sachgrundloses Grinsen als Kommunikationsnorm, na ja, lieber nicht. Doch ob Befehl,
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Kritik, zweifelndes Wort, pedantische Nachfrage, es geht meist nicht mehr ohne 😊,
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falls man nicht als Wüstling gelten will, als Flegel oder mindestens als Sonderling, was
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bekanntlich karrierehemmend ist, wo doch alle um einen herum so dringend etwas
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werden wollen, oft ohne zu wissen, was genau. Deshalb: 😊. Und es mag sein, dass die
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digitale Kommunikation immer ein wenig herzlicher ist als der tatsächliche
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Gemütszustand, allerdings ist der 😊 gerade aufgrund der Überhöflichkeit unhöflich,
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da er im Zweifel so tut, als sei man selbst, als Empfänger, ein emotional verunsicherter
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Zeitgenosse, der sofort alles übel nimmt, falls man ihm nicht hastig eine Gefühls-End-
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note hinterherschickt, und der sonst keine andere vegetative Reaktion kennt außer
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einen Nervenzusammenbruch, sofern einen niemand tätschelt und sagt: Alles okay,
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alles gut und voll lieb gemeint. Also: 😊. Wirklich: 😊. Wirklich, wirklich wertschät-
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zend: 😊.
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Kein Grund für: 😞 Echt nicht 😊. Man könnte es natürlich auch übertreiben und hinter
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jede Nachricht fürderhin ein rotes Herz kleben, nur käme man in den gerechtfertigten
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Verdacht, entweder ein schwülstiger Charakter zu sein oder aufdringlich verliebt, und
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das ist in den meisten denkbaren Situationen unpassend. Vielleicht ist der 😊
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inzwischen hilfloser Ausdruck einer Gesellschaft, die sich laufend selbst zur Emp-
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findsamkeit ermuntert, und im 😊 zeigt sich bloß der in Panik umgeschlagene Wille,
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nur keinem zu nahe zu treten, selbst wenn man es vielleicht gerade getan hat und es
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auch eigentlich so wollte.
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Und womöglich ist der 😊 auch nur die gerechte Strafe einer Bürokultur, in der pau-
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senlos im Cartoonjargon der Selbstbespiegelung gefragt wird, was dieses oder jenes
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„mit einem macht“ oder ob es „sich falsch anfühlt“, wo mit fragiler Grundeifrigkeit
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Dienstanweisungen „sehr gern“ erledigt werden und man sich hernach „über Feedback
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freut“, als hätte das jemals irgendjemand allen Ernstes aufrichtig getan. Man sollte ja
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generell misstrauisch werden, wenn Menschen ständig ihre Gefühle über einen kübeln.
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Und man sollte ja eigentlich misstrauisch werden, wenn Leute unentwegt in die Welt
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reinlächeln. Oder zwinkern. Die Steigerung des emotional zudringlichen 😊 ist ja seit
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einer Weile der 😉, von dem vor allem jene Zeitgenossen begeistert zu sein scheinen,
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die andere gern laufend belehren, aber hernach noch dringend gemocht werden wollen,
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zwinkerzwinker, wie so ein nervöser Tick oder eine Geste pseudoverschworener Ver-
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trautheit, „Du, das bleibt alles unser kleines Geheimnis“.
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Man kann es auch Gefallsucht nennen: „Du weißt schon, dass Du eine Stunde zu spät
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bist 😉“. – „Wer den letzten Kaffee trinkt, mag gern neuen kochen 😉“. Es ist vielleicht
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nur eine Frage der Zeit, bis ums Image besorgte Stadtverwaltungen auf die Idee
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kommen, einen 😉 auf Halteverbotsschilder zu drucken, „naaaaa, wir wissen ja beide,
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dass du hier nicht ...“ usw. Und wenn doch einer mal falsch parkt, steht auf dem Straf-
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zettel fortan das 😂, weil, höhöhöhö, da hat einer wohl, hahahaha, das Schild nicht
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gesehen, und man fühlt sich gleich, als sei man in einer Herrenumkleide mit Gelächter
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vermöbelt worden, das tief aus verklebten Bronchien kommt. Man kann jedenfalls
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nicht sagen, 😊 habe die Welt zu einem freundlicheren Ort gemacht. Wenn man sich
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schon aus der Affekt- und Bilderpalette bedienen muss, die einem moderne Kommu-
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nikationsmittel bieten, warum es nicht stattdessen mal mit einem Brokkoli versuchen,
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einer Schildkröte oder einem Dinosaurier? Dann wäre wenigstens die Verwirrung
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interessant, und vermutlich hätten am Ende alle die tatsächlich bessere Laune in der
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schlechten: „Könntet Ihr bitte leiser reden? 🥦“ – „Du solltest dringend die Sache mit
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Hartmut klären 🐢.“ – „Widerrechtlich geparkte Fahrzeuge werden kostenpflichtig
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abgeschleppt 🐐“, und all das würde einen auf andere Gedanken bringen, anstatt sich
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zu fragen, was es denn immer noch andauernd zu grinsen gibt. Aber wenn, echt, total
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lieb gemeint. 😊

Quelle: David Hugendick: Emojis. Kein Problem. DIE ZEIT 18/2022 (Veröffentlichung am 27. 4. 2022, Zugriff am 4.2.2023).

David Hugendick (* 1980) ist Journalist und Literaturkritiker bei ZEIT ONLINE.

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