Vorschlag A
Interpretation eines literarischen Textes
Thema: Johann Wolfgang von Goethe (* 1749 - † 1832): Faust I. (1808) Thea Dorn (* 1970): Die Unglückseligen (2016) Aufgabenstellung:- Analysiere den Auszug aus Thea Dorns Roman Die Unglückseligen auch unter Berücksichtigung des Natur- und Wissenschaftsverständnisses der Figuren Johanna Mawet und Johann Wilhelm Ritter. (Material)
- Vergleiche das Natur- und Wissenschaftsverständnis der Figur Faust aus Johann Wolfgang von Goethes gleichnamigem Drama mit den Vorstellungen von Johanna Mawet und denen von Johann Wilhelm Ritter.
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gen das Ziel, die Sterblichkeit abzuschaffen. Zufällig begegnet sie in einem amerikanischen Super-
markt Johann Wilhelm Ritter, einem Physiker der Goethezeit, der 1776 in Schlesien geboren wurde,
aber genetisch immer noch Anfang 30 ist, wie ein von Johanna durchgeführter DNA-Test ihr verrät.
Sie will mehr über ihn erfahren und lädt ihn ein, bei sich zu wohnen.
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„[…] Ich glaube einst, ich könnt ein frommer Physiker sein.“ Mit einem Mal war seine Stimme ruhig
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und klar. „Bildete mir ein, Naturerforschung sei Gottesdienst, sei Schöpfungsdienst. Dass der Herr den
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Menschen absichtlich unvollendet gelassen, damit dieser als einziges seiner Geschöpfe heraustrete aus
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der innigen Harmonie mit der Natur und – umso schmerzlicher er die Dissonanz empfände, umso
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dringlicher – danach strebe, sie in einem höhern Sinne wiederherzustellen. Wollte mir und der Welt
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einreden, die Vertreibung aus dem Paradiese sei nicht sowohl Strafe gewesen, als vielmehr der
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schmerzlich nötige Stoß dem fernen Himmel zu, dessen Glanz den alten Gottesgarten um ein Lichtfa-
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ches überstrahlte. […]
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O welch Vermessenheit! Zu glauben, Gott habe geduldet, dass der Mensch in den sauren Apfel der Er-
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kenntnis gebissen, weil es seinem ewigen Ratschluss! hätte entsprochen. Nicht Gott sehnte sich nach
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einem Geschöpf, das ihn verstände – indem es seine Schöpfung, anstatt sie blindlings zu genießen, in
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höchstem Bewusstsein Tag um Tag noch einmal neu vollzöge. Der eitle, verführte Mensch selbst
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war’s, der sich nach Gottesgleichheit sehnte – indem er einzig für köstlich wollt erachten, was mit eige-
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ner Hand erschaffen zu haben ihm dünkte …“
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„Aber das ist doch ein sehr schöner Gedanke.“ Endlich traute sich Johanna, ihn zu unterbrechen.
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„Dass Gott den Menschen zum zweiten Schöpfer bestimmt hat, als ihm klar wurde, dass er sich zu
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Tode langweilen würde, wenn er mit der besinnungslos vor sich hin vegetierenden Flora und Fauna
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allein bliebe.“
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Der Mann neben ihr machte eine unwirsche Handbewegung. Johanna war nicht sicher, ob er eine Mü-
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cke verscheuchte oder ob die Geste dem galt, was sie gesagt hatte.
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„Nimmer nicht wird Verstand den Weg zur Alleinheit sich zurück erklügeln. Ein Traum war’s, ein
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seliger zwar, doch weiter nichts als ein Traum, die letzte Absicht der Natur sei es, zur höchsten Gegen-
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wärtigkeit und Selbstempfindung sich durch den Menschen aufzuläutern. Die Wahrheit ist: Sie bedarf
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unser nicht. Ja, bittrer noch: Sie will uns nicht.“ Zum zweiten Mal in dieser Nacht fasste er Johanna an
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der Schulter. „Blicken Sie sich um auf der Welt! Wie mögen Sie da ernstlich noch behaupten, der
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Mensch sei fortgeschritten auf dem Wege der Natur- und Selbsterlösung? Botschaften jagt ihr von ei-
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nem Erdteil zum andern; ihr durchfliegt die Lüfte, durchmesst das Weltall, lasst die Nacht heller
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leuchten als den Tag – allein zu welchem Zwecke? Herrscht eine neue Harmonie, ein neues Glück?
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Nicht minder elend seh ich die Menschen denn zu meinen frühern Tagen. Nie zuvor nicht lag Natur so
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stumm, so leblos, so zergliedert da, und deine wackere Menschheit – gleich einer Horde Büffel tram-
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pelt sie dumpfwütig über alles hinweg. Dein Fortschritt: Hat einen einzigen Grashalm er zum Spre-
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chen gebracht? Wisst ihr dem Tautropfen zu lauschen, wenn er des Morgens sich vom Blatte löst?
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Darf eine einzige Naide sich freuen, weil der Mensch sie mit wissender Hand zu sich hätt emporgeho-
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ben, und beide nun, versöhnt in neuer Eintracht, einander ewig forterkennen?“
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„Aber das ist doch …“
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„Sag nicht Quatsch!“, fuhr er sie an, bevor sie das Wort ausgesprochen hatte. „Sag nicht Quatsch!“
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Eine Wolke hatte sich vor den Mond geschoben, doch trotz der Dunkelheit, die plötzlich herrschte, sah
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Johanna, wie er zitterte.
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„Ich wollte …“ Was wollte sie sagen, ohne ihn aufs Neue zu beleidigen? Das ist doch Humbug? Eso-
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terik? Spinnerei? Sie griff nach der leeren Flasche und begann, am Etikett herumzufingern.
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„Wenn ich im Labor stehe“, erklärte sie vorsichtig, „Wenn ich im Labor stehe, bringe ich Natur zum
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Sprechen. Ich sehe Dinge, von denen die Wissenschaftler zu Ihrer Zeit tatsächlich nur träumen konn-
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ten. Haben Sie jemals durch ein Mikroskop geschaut?“
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„Was denken Sie“, brummte er, „Gemeinsam mit Goethen habe ich Infusionstierchen beim Tanze zu-
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gesehen.“
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Infusionstierchen? Johanna hatte keinen Schimmer, wovon er redete. „Dann wissen Sie ja, was ich
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meine. Wir sind dabei, die Welt vollkommen neu zu entschlüsseln. Wir können Dinge sichtbar ma-
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chen, die kein Mensch vor uns gesehen hat – obwohl sie immer, seit der Urzelle, da gewesen sind!
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Wie lange ist die Biologie davon ausgegangen, dass die Zelle der kleinste Baustein alles Organischen
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ist! Sie hatte keine Ahnung, was für komplexe Wunderwerke sie in Wahrheit vor sich hatte. Wie auch!
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Bevor das Elektronenmikroskop erfunden wurde, konnte niemand etwas wissen von DNA und RNA,
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von Chromosomen und Telomeren, von Ribosomen und Mitochondrien. Die früheren Forscher waren
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blind für das Leben im Unsichtbaren. Glauben Sie nicht, dass die Natur sich freut, wenn der Mensch
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nun wirklich zu begreifen beginnt, wie kunstvoll sie im Innersten funktioniert?“
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„Funktioniert!“, äffte er sie nach. „An dies Wort habt ihr Professionisten euer Herz gehängt! Anstatt
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den Weltatem zu fühlen, der alles durchströmt, seht ihr Teile bloß und meint gar noch, ihr gewönnet
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etwas, wenn’s immer kleinere und kleinere Teile werden, die ihr sichtbar macht. Ich sage dir, was ihr
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gewinnt: Den Lebensnot vollendet ihr, der mit Descartes und Newton hat begonnen. Kein Klingen
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von Sphären hört ihr mehr, nur eines Uhrwerks Rattern und Klappern, und seid’s erst zufrieden, wenn
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ihr selbst das noch zum Verstummen gebracht.“
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„Sie verstehen mich falsch! Kein ernsthafter Biologe denkt heutzutage mehr materialistisch oder me-
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chanistisch. Die Zeiten, in denen davon gesprochen wurde, Zellen seien die Bausteine des Lebendigen,
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sind lange vorbei. Wir wissen, dass alles ein ständiger Prozess, ein dauerndes Sich-selbst-Teilen
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und -Vermehren ist. Kommen Sie mit ins Labor, ich zeige es Ihnen! In meiner Welt bedeutet das milli-
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ardenfach vergrößerte Bild einer Struktur nicht einfach das, was dieselbe Form im Alltag wäre: Ein
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Strang ist nicht ohne Weiteres ein Strang, eine flache, hohle Tasche nicht einfach die Wand einer
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Blase, die Flüssigkeit enthält. Wir sind in ein Land aufgebrochen, in dem die Gesetze, mit denen uns
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die klassische Physik vertraut gemacht hat, nicht mehr gelten.“
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„It’s life“, warf der Mann neben ihr ein. „But not as we know it.“
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Verwundert sah Johanna ihn an. War der Kerl ein heimlicher Trekkie, oder woher kannte er sonst
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diesen Spruch?
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„Richtig“, sagte sie und strich das Etikett wieder glatt, das sie von der Flasche gepult und zerknüllt
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hatte. „Es geht um die Kräfte, die Atome zusammenhalten oder verändern, die Moleküle zu Verbin-
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dungen bringen und diese lösen, sie stabil oder veränderlich machen. Das müsste Ihnen doch gefal-
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len.“
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Anstatt zu antworten, legte er den Kopf in den Nacken und starrte zum Himmel hinauf, an dem der
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Mond nun wieder unbedeckt leuchtete.
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„Wozu, Johanna“, fragte er leise. „Wozu?“
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„Am Anfang wird es vielleicht ein bisschen verwirrend für Sie sein. Aber ich verspreche Ihnen, nach
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zwei, drei Wochen sind Sie genauso fasziniert …“
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„Nicht das! Wozu Sie forschen, will ich wissen. Warum wollen Sie der Natur ins Allerheiligste bli-
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cken?“
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„Das habe ich Ihnen doch schon gesagt. Um zu verstehen!“
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„Verstehen“, wiederholte er. „Beherrschen wollen Sie.“
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Gereizt wandte sich Johanna von ihm ab. Auf was für eine absurde Diskussion hatte sie sich da einge-
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lassen? Mit diesem Verrückten. Diesem Betrüger. Diesem Hochstapler. […] … Und trotzdem … Mit
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beiden Händen rieb Johanna sich die übermüdeten Augen. Wann hatte sie zum letzten Mal mit einem
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ihrer Kollegen ein ähnlich leidenschaftliches Gespräch geführt? Hatte sie überhaupt jemals ein Ge-
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spräch geführt, bei dem sie den Eindruck hatte, dass ihr Gegenüber noch viel waghalsiger und radika-
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ler dachte als sie selbst?
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Die sonderbare Gestalt neben ihr stierte weiter in den Himmel, weshalb auch Johanna nun den Kopf in
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den Nacken legte. Sie kannte sich mit Astronomie nicht aus, dennoch war sie einigermaßen sicher,
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dass es Pegasus war, der über ihnen funkelte.
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„Wissen Sie, warum ich das Leben so liebe?“, fing sie nach einer Weile erneut an. „Weil es die ein-
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zige Kraft ist, die sich der Entropie widersetzt. Sterne verlöschen. Galaxien lösen sich auf. Und auch
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hier unten geht alles von Ordnung in Unordnung über. Nur das Leben schafft es, immer komplexere
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Ordnungssysteme hervorzubringen. Während alles andere zerfällt, ist es dem Leben gelungen, sich
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vom Urschlamm bis zum Homo sapiens hinauf zu entwickeln. Leben will nicht vertrocknen. Leben will
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nicht enden. Leben will vorwärts. Aber was sind Altern, Sterben und Tod anderes als der Sieg der Zer-
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setzung, der Sieg der Unordnung über die Ordnung? Deshalb ist es an uns, diese Unordnung ein für
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alle Mal zu überwinden.“
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Begeistert schaute Johanna den Mann an, der neben ihr saß – und musste feststellen, dass er ihr offen-
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sichtlich nicht zugehört hatte. Dabei hatte sie diesen Gedanken noch nie in einer solchen Schärfe und
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Klarheit formuliert! Enttäuscht ließ sie die Weinflasche fallen, die einige Stufen der Feuerleiter hinun-
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terschepperte, bevor sie am Boden zerschellte. […]
Anmerkungen zum Autor:
Thea Dorn (* 1970): deutsche Schriftstellerin und Fernsehmoderatorin, u. a. einer Literatursendung Aus: Thea Dorn: Die Unglückseligen. München 2017, S. 125–130.
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Einleitung
- Der vorliegende Auszug stammt aus Thea Dorns Roman Die Unglückseligen, der im Jahr 2016 erschienen ist. In Form eines modernen Prosatextes mit dialogischer Struktur thematisiert er ein ideologisch wie zeitlich überbrückendes Streitgespräch zwischen der Molekularbiologin Johanna Mawet aus dem 21. Jahrhundert und dem romantischen Physiker Johann Wilhelm Ritter, der als historische Figur ins Jetzt transponiert wird.
- Zentrales Thema ist der konträre Umgang der beiden Figuren mit Natur, Wissenschaft und Sterblichkeit, wobei sich ein fundamentaler Gegensatz zwischen einem naturwissenschaftlich-rationalen Weltbild und einem von Spiritualität, Ganzheitlichkeit und Fortschrittsskepsis geprägten Denken offenbart.
Hauptteil
Inhaltliche AnalyseZusammenfassung des Gesprächsverlaufs
- Das Streitgespräch entfaltet sich nachts auf einer Feuerleiter unter dem Sternenhimmel – ein symbolisch aufgeladener Ort für gedankliche Weite und Reflexion.
- Er beschreibt die Vertreibung aus dem Paradies nicht als „Strafe“ (Z. 6), sondern als notwendigen Anstoß zur spirituellen Höherentwicklung des Menschen (Vgl. Z. 5 ff.).
- Dabei offenbart er eine theologisch-idealisierte Perspektive auf den Fortschritt, die er allerdings zunehmend kritisch reflektiert: Der Mensch „als einziges seiner Geschöpfe“ (Z. 3) sei herausgetreten aus der Harmonie der Schöpfung, was „ein höher[er]Sinn“ (Z. 5) gewesen sei.
- Mawet antwortet zunächst zögerlich, dann mit wachsender Entschlossenheit: Sie glaubt an die modernen Naturwissenschaften, deren Ziel es sei, die Welt vollständig „zu entschlüsseln“ (Z. 47), um den Menschen von der Begrenzung durch den Tod zu befreien.
- Ihre Begeisterung ist spürbar in Aussagen wie: Wenn ich im Labor stehe, bringe ich Natur zum Sprechen. (Vgl. Z. 41 f.) oder „Ich sehe Dinge, von denen die Wissenschaftler zu Ihrer Zeit tatsächlich nur träumen konnten.“ (Z. 42).
- Am Ende erklärt sie fast verzweifelt ihre Überzeugung, dass nur das Leben selbst der Entropie trotze: Leben will nicht enden. Leben will vorwärts.(Z. 98). Ihre Argumentation kulminiert in einem leidenschaftlichen Plädoyer für Fortschritt als Antwort auf kosmischen Zerfall.
- Ritter ist ein über 200 Jahre alter Physiker, der mit einer tiefen Leidenschaft für Wissenschaft und Religion gezeichnet wird.
- Seine frühere Haltung beschreibt eine spirituell aufgeladene Naturforschung („Naturerforschung sei Gottesdienst“, Z. 2), die im Einklang mit einem göttlichen Schöpfungsplan stand.
- Doch im Verlauf des Gesprächs distanziert er sich davon: Die Vorstellung vom Menschen als „zweiten Schöpfer“ (Z. 16)nennt er „Vermessenheit“ (Z. 9).
- Er verurteilt den Drang zur totalen Erkenntnis als Hybris, als Ausdruck eines zerstörerischen Fortschrittsdenkens: „Da dies Wort habt ihr Professionisten euer Herz gehängt!“ (Z. 55).
- Besonders deutlich wird seine Kritik in der metaphorisch-poetischen Beschreibung des modernen Menschen, der wie eine „Horde Büffel“ (Z. 30) über die Natur hinwegtrampelt, ohne ihre feine Schönheit – etwa in Form eines Tautropfens (Z. 32) – zu erkennen.
- Ritter kritisiert nicht nur das naturwissenschaftliche Denken als reduktionistisch („seht ihr Teile bloß“, Z. 56), sondern beklagt auch die Entseelung der Welt durch Zergliederung und Rationalisierung: „Kein Klingen von Sphären hört ihr mehr“ (Z. 58 f.). Der Verlust von Sinnlichkeit und Transzendenz wird als geistiger Verfall inszeniert (Vgl. Z. 55–60).
- Mawet ist eine moderne, leidenschaftlich forschende Molekularbiologin. Sie verteidigt das rationale, empirische Wissenschaftsverständnis (Vgl. Z. 48–50) und betont ihre Fähigkeit, durch moderne Technik Dinge sichtbar zu machen: „Wir können Dinge sichtbar machen, die kein Mensch vor uns gesehen hat“ (Z. 47 f.).
- Trotz dieser rationalen Grundhaltung zeigt sich auch emotionale Tiefe: Mawet ist verunsichert durch Ritters Polemik („Was wollte sie sagen, ohne ihn aufs Neue zu beleidigen?“, Z. 39), zeigt aber Ausdauer und Respekt.
- Ihre Gedanken pendeln zwischen analytischem Denken und emotionaler Irritation (Vgl. Z. 86 f.). Sie sagt schließlich: „Wozu Sie forschen, will ich wissen. Warum wollen Sie der Natur ins Allerheiligste blicken?“ (Z. 81 f.), was ihr Bedürfnis nach Erkenntnis, aber auch Ehrfurcht ausdrückt.
- Mawets Wissenschaftsbild ist geprägt von einem unerschütterlichen Glauben an Entwicklung, Entdeckung und Menschlichkeit – nicht als Beherrschung, sondern als Verstehen: „Das habe ich Ihnen doch schon gesagt. Um zu verstehen!“ (Z. 83).
- Sie zeigt sich überzeugt, dass nur das Leben selbst der Entropie trotzt – „die einzige Kraft ist, die sich der Entropie widersetzt“ (Z. 94).
- Dieser Glaube an die Lebenskraft ist für sie ein ethischer Appell, gegen Zerfall und Tod anzuleben: „Deshalb ist es an uns, diese Unordnung ein für alle Mal zu überwinden“ (Z. 100).
- Die Erzähltechnik des Ausschnitts betont das dialogische Pingpong zwischen den konträren Figuren. Die Erzählweise ist personal und erlaubt tiefen Einblick in Johanna Mawets Gedanken („Johanna war nicht sicher, ob er eine Mücke verscheuchte oder ob die Geste dem galt, was sie gesagt hatte“, Z. 19 f.). Ihre Perspektive wird dadurch nahbar und menschlich vermittelt.
- Sprachlich kontrastieren sich beide Figuren stark: Ritters Sprache ist durch Pathos, Metaphorik und religiös-mythologische Bilder geprägt („Vertreibung aus dem Paradies“, Z. 6; „der eitle, verführte Mensch“, Z. 12).
- Seine Rede ist oft rhetorisch, voller Exklamationen („‚Sag nicht Quatsch!‘“, Z. 36), ironischer Spitzen und bildreicher Vergleiche („‚dein Fortschritt: Hat ein einziger Grashalm er zum Sprechen gebracht?‘“, Z. 31 f.).
- Mawets Sprache ist geprägt von moderner Wissenschaftsterminologie: „Chromosomen“ (Z. 52), „Ribosomen“ (Z. 52), „Mitochondrien“ (Z. 52) (Z. 52), „DNA und RNA“ (Z. 51), oder „Professionisten“ (Z. 55). Sie verwendet bildhafte Erklärungen („Ein Strang ist nicht ohne Weiteres ein Strang“, Z. 65 f.) und kontrastiert alte Denkweisen mit moderner Forschung.
- Ihre Argumentation ist oft logisch aufgebaut und verwendet rhetorische Fragen sowie Beispiele aus der Biologie und Physik (Vgl. Z. 49–54, Z. 66–70).
- Bemerkenswert ist der Wechsel zwischen direkter Rede und innerer Rede, wodurch emotionale Tiefe erzeugt wird. Johanna ringt mit sich (Vgl. Z. 85–88), schwankt zwischen wissenschaftlicher Argumentation und Irritation.
- Die Sternennacht bildet nicht nur die äußere Kulisse (Vgl. Z. 76–77), sondern symbolisiert den Denkraum zwischen Transzendenz und Rationalität.
Fazit
- Der Auszug aus Die Unglückseligen konfrontiert zwei gegensätzliche Auffassungen von Natur und Wissenschaft: das spiritualisierte, ganzheitlich-metaphysische Weltbild des romantischen Physikers Johann Wilhelm Ritter und das empirisch-rationale Fortschrittsdenken der Molekularbiologin Johanna Mawet.
- In ihrer Begegnung prallen nicht nur zwei Epochen, sondern auch zwei Weltverständnisse aufeinander, die einander jedoch in respektvoller Konfrontation bereichern. Thea Dorn gelingt es, diese Gegenüberstellung erzählerisch dicht, sprachlich vielschichtig und thematisch hochaktuell auszugestalten.
- Die Analyse zeigt, dass die Frage nach dem Sinn von Forschung, Fortschritt und Menschsein in einer Zeit existenzieller Krisen und wissenschaftlicher Allmacht neu verhandelt werden muss – im Dialog, nicht im Monolog.
Teilaufgabe 2
Überleitung
- In Thea Dorns Roman Die Unglückseligen treffen mit Johanna Mawet und Johann Wilhelm Ritter zwei grundverschiedene Figuren aufeinander, deren Vorstellungen von Wissenschaft, Natur und dem Sinn menschlicher Erkenntnis in starkem Kontrast zueinander stehen.
- Im Zentrum ihrer Auseinandersetzung steht die Frage, ob Wissenschaft dem Menschen Orientierung und Fortschritt bringt oder ob sie Ausdruck einer gefährlichen Hybris ist. Dieses Spannungsfeld findet sich auch in Johann Wolfgang von Goethes Faust. Der Tragödie erster Teil wieder, dessen Titelfigur zwischen Erkenntnisdrang, Selbstüberschätzung und existenzieller Verzweiflung schwankt.
- Der folgende Vergleich beleuchtet die Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Natur- und Wissenschaftsverständnis von Faust einerseits sowie Johanna Mawet und Johann Wilhelm Ritter andererseits und arbeitet zugleich die ideengeschichtlichen Parallelen und Abgrenzungen der Figuren heraus.
Hauptteil
Gemeinsamkeiten zwischen Faust und Johanna Mawet- Sowohl Faust als auch Johanna Mawet streben nach umfassender Erkenntnis und danach, die tiefsten Strukturen der Natur zu entschlüsseln. Fausts berühmtes Bekenntnis „Dass ich erkenne, was die Welt / Im Innersten zusammenhält“ (V. 382 f.) lässt sich inhaltlich mit Mawets Forschungsziel vergleichen, das Leben durch moderne Wissenschaft restlos zu erklären.
- Auch sie möchte sichtbar machen, „wie kunstvoll [die Natur] im Innersten funktioniert“. In diesem absoluten Erkenntnisstreben zeigt sich bei beiden Figuren eine Form der Grenzüberschreitung, die mit dem Wunsch nach Gottesgleichheit verbunden ist.
- Fausts mehrfacher Versuch, die Grenzen menschlicher Erkenntnis zu überschreiten – etwa durch die Beschwörung des Erdgeists oder den Teufelspakt – spiegelt sich in Mawets Wunsch, die Sterblichkeit durch Wissenschaft zu überwinden. Ihre Aussage, es gelte, „diese Unordnung ein für alle Mal zu überwinden“, verweist auf ein fast transzendentes Fortschrittsideal, das Ritter später als Hybris kritisiert.
- Auch in Fausts „Ich Ebenbild der Gottheit!“ (V. 614 f.) schwingt ein solches Übermaß mit. Beide Figuren verfolgen damit ein Ziel, das über die Begrenztheit des menschlichen Daseins hinausweist – bei Faust eher metaphysisch, bei Mawet biologisch-technisch.
- Trotz dieser Parallelen ist der Grundton beider Figuren sehr unterschiedlich. Faust durchläuft eine tiefe Erkenntniskrise und resigniert zunächst an der Begrenztheit menschlicher Erkenntnis („Und sehe, dass wir nichts wissen können“, V. 364). Diese Verzweiflung treibt ihn schließlich in den Pakt mit Mephisto.
- Mawet hingegen vertritt einen ungebrochenen Fortschrittsglauben. Ihre Aussage „Wir sind dabei, die Welt vollkommen neu zu entschlüsseln“ steht exemplarisch für ein modernes Wissenschaftsverständnis, das die Grenzen des bisher Denkbaren überschreiten will, ohne diese kritisch zu reflektieren.
- Ein weiterer Unterschied liegt im Wissenschaftsbegriff: Faust kritisiert den reduktionistischen Zugang seines Famulus Wagner, der allein auf empirisches Wissen vertraut („Wer vieles liest, weiß vieles zu sagen“, V. 1969 f.), und betont die Bedeutung sinnlicher, intuitiver Weltwahrnehmung („Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust“, V. 1112).
- Mawet dagegen fokussiert sich ganz auf empirisch belegbare Erkenntnisse. Sie argumentiert mit Sichtbarkeit und Nachweisbarkeit: „Wir können Dinge sichtbar machen, die kein Mensch vor uns gesehen hat.“ Der emotionale Zugang zur Welt, der für Faust zentral ist, bleibt bei Mawet weitgehend ausgeklammert.
- Auch stellt Faust – zumindest implizit – die Folgen wissenschaftlicher Hybris infrage. Mawet hingegen reflektiert nur selten kritisch, dass ihre Forschung zur Unsterblichkeit mögliche ethische Konsequenzen wie Überbevölkerung mit sich bringen könnte. Hier zeigt sich ein weiterer Kontrast zwischen Fausts skeptischem Selbstzweifel und Mawets Fortschrittsoptimismus.
- Faust und Ritter verbindet eine ähnliche intellektuelle Biografie: Beide durchlaufen eine Krise ihres Welt- und Wissenschaftsverständnisses. Fausts Erkenntnis, dass er trotz jahrelangen Studiums nichts wirklich weiß („Da steh ich nun, ich armer Tor“, V. 354), erinnert an Ritters rückblickende Kritik an seiner früheren Vorstellung, Naturforschung sei ein „Gottesdienst“. Beide Figuren erkennen letztlich die Begrenztheit menschlichen Wissens und reagieren mit Skepsis gegenüber rein rationaler Erkenntnis.
- Hinzu kommt, dass sowohl Faust als auch Ritter die Natur nicht als mechanischen Gegenstand, sondern als spirituelle, ganzheitliche Instanz begreifen. Faust spricht etwa von der „herrlichen Natur zum Königreich“ (V. 3215), Ritter schwärmt davon, dass der Mensch aus der „innigen Harmonie mit der Natur“ herausgetreten sei. In beiden Fällen wird die Natur als lebendige, bedeutungstragende Kraft dargestellt, die dem Menschen Orientierung geben kann – wenn er sich ihr mit Respekt nähert.
- Beide Figuren äußern zudem Fortschrittsskepsis: Faust kritisiert das medizinische Scheitern seines Vaters während der Pest („Hier war die Arzenei, die Patienten starben“, V. 1847 f.), Ritter bezeichnet Johanna Mawets Fortschrittsglauben als naiv und fragt provokant: „Hat dein Fortschritt einen einzigen Grashalm zum Sprechen gebracht?“ Diese tiefe Skepsis gegenüber dem Nutzen wissenschaftlicher Errungenschaften verbindet beide in einer grundsätzlich kritischen Haltung gegenüber einem einseitig rationalen Weltzugang.
- Trotz aller Nähe in der Naturauffassung unterscheiden sich Faust und Ritter in zentralen Aspekten. Fausts Streben nach Gottgleichheit ist aus einer tiefen Unzufriedenheit und dem Drang zur Selbstüberwindung motiviert („Ich Ebenbild der Gottheit!“), während Ritter diese Haltung als Hybris verurteilt. Für ihn war es „der eitle, verführte Mensch selbst“, der sich aus der göttlichen Ordnung erhob, nicht weil Gott es wollte, sondern weil der Mensch sich selbst erhöhen wollte. In dieser Deutung wird klar, dass Ritter nicht nur die Hybris verurteilt, sondern auch die Vorstellung eines vom Menschen gesteuerten Fortschritts zurückweist.
- Ein weiterer Unterschied liegt in der Art, wie beide Figuren mit der Überschreitung menschlicher Grenzen umgehen. Faust sucht bewusst nach Wegen, um diese Grenzen mithilfe von Magie oder Wissenschaft zu durchbrechen („Drum hab’ ich mich der Magie ergeben“), Ritter hingegen weist darauf hin, dass der Mensch sich durch diese Grenzüberschreitung weiter von der Natur entfremdet hat. Seine Aussage, dass „Verstand den Weg zur Alleinheit nicht zurück erklügeln“ könne, ist ein Plädoyer gegen den rein rationalen Zugriff auf die Welt und zugleich ein Ausdruck seiner tiefen Sehnsucht nach einem ursprünglichen Einklang mit der Schöpfung.
Schluss
- Insgesamt zeigt sich, dass sowohl Johanna Mawet als auch Johann Wilhelm Ritter jeweils Aspekte von Goethes Faust verkörpern, aber auf gegensätzliche Weise. Mawet teilt mit Faust die Sehnsucht nach Erkenntnis und die Bereitschaft zur Grenzüberschreitung, ohne jedoch dessen kritisches Reflexionsvermögen zu besitzen.
- Ritter wiederum entspricht dem späten Faust, der sich von der Hybris seiner Jugend abgewandt hat und in der Rückbesinnung auf Natur, Demut und Spiritualität eine neue Form des Wissens sucht.
- Thea Dorns Text inszeniert diese Konstellation als ideengeschichtliches Streitgespräch, das zentrale Fragen über Wissenschaft, Fortschritt, Sinn und Maß des Menschlichen verhandelt – Fragen, die auch heute nichts von ihrer Aktualität verloren haben.