Vorschlag A

Interpretation eines literarischen Textes

Thema:
Johann Wolfgang von Goethe (* 1749 - † 1832): Faust I. (1808)
Thea Dorn (* 1970): Die Unglückseligen (2016)
Aufgabenstellung:
  • Analysiere den Auszug aus Thea Dorns Roman Die Unglückseligen auch unter Berücksichtigung des Natur- und Wissenschaftsverständnisses der Figuren Johanna Mawet und Johann Wilhelm Ritter. (Material)
  • (60 BE)
  • Vergleiche das Natur- und Wissenschaftsverständnis der Figur Faust aus Johann Wolfgang von Goethes gleichnamigem Drama mit den Vorstellungen von Johanna Mawet und denen von Johann Wilhelm Ritter.
  • (40 BE)
Material
Die Unglückseligen (2016)
Thea Dorn
Die erfolgreiche Molekularbiologin Johanna Mawet verfolgt im 21. Jahrhundert mit ihren Forschun-
gen das Ziel, die Sterblichkeit abzuschaffen. Zufällig begegnet sie in einem amerikanischen Super-
markt Johann Wilhelm Ritter, einem Physiker der Goethezeit, der 1776 in Schlesien geboren wurde,
aber genetisch immer noch Anfang 30 ist, wie ein von Johanna durchgeführter DNA-Test ihr verrät.
Sie will mehr über ihn erfahren und lädt ihn ein, bei sich zu wohnen.
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„[…] Ich glaube einst, ich könnt ein frommer Physiker sein.“ Mit einem Mal war seine Stimme ruhig
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und klar. „Bildete mir ein, Naturerforschung sei Gottesdienst, sei Schöpfungsdienst. Dass der Herr den
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Menschen absichtlich unvollendet gelassen, damit dieser als einziges seiner Geschöpfe heraustrete aus
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der innigen Harmonie mit der Natur und – umso schmerzlicher er die Dissonanz empfände, umso
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dringlicher – danach strebe, sie in einem höhern Sinne wiederherzustellen. Wollte mir und der Welt
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einreden, die Vertreibung aus dem Paradiese sei nicht sowohl Strafe gewesen, als vielmehr der
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schmerzlich nötige Stoß dem fernen Himmel zu, dessen Glanz den alten Gottesgarten um ein Lichtfa-
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ches überstrahlte. […]
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O welch Vermessenheit! Zu glauben, Gott habe geduldet, dass der Mensch in den sauren Apfel der Er-
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kenntnis gebissen, weil es seinem ewigen Ratschluss! hätte entsprochen. Nicht Gott sehnte sich nach
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einem Geschöpf, das ihn verstände – indem es seine Schöpfung, anstatt sie blindlings zu genießen, in
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höchstem Bewusstsein Tag um Tag noch einmal neu vollzöge. Der eitle, verführte Mensch selbst
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war’s, der sich nach Gottesgleichheit sehnte – indem er einzig für köstlich wollt erachten, was mit eige-
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ner Hand erschaffen zu haben ihm dünkte …“
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„Aber das ist doch ein sehr schöner Gedanke.“ Endlich traute sich Johanna, ihn zu unterbrechen.
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„Dass Gott den Menschen zum zweiten Schöpfer bestimmt hat, als ihm klar wurde, dass er sich zu
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Tode langweilen würde, wenn er mit der besinnungslos vor sich hin vegetierenden Flora und Fauna
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allein bliebe.“
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Der Mann neben ihr machte eine unwirsche Handbewegung. Johanna war nicht sicher, ob er eine Mü-
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cke verscheuchte oder ob die Geste dem galt, was sie gesagt hatte.
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„Nimmer nicht wird Verstand den Weg zur Alleinheit sich zurück erklügeln. Ein Traum war’s, ein
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seliger zwar, doch weiter nichts als ein Traum, die letzte Absicht der Natur sei es, zur höchsten Gegen-
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wärtigkeit und Selbstempfindung sich durch den Menschen aufzuläutern. Die Wahrheit ist: Sie bedarf
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unser nicht. Ja, bittrer noch: Sie will uns nicht.“ Zum zweiten Mal in dieser Nacht fasste er Johanna an
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der Schulter. „Blicken Sie sich um auf der Welt! Wie mögen Sie da ernstlich noch behaupten, der
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Mensch sei fortgeschritten auf dem Wege der Natur- und Selbsterlösung? Botschaften jagt ihr von ei-
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nem Erdteil zum andern; ihr durchfliegt die Lüfte, durchmesst das Weltall, lasst die Nacht heller
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leuchten als den Tag – allein zu welchem Zwecke? Herrscht eine neue Harmonie, ein neues Glück?
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Nicht minder elend seh ich die Menschen denn zu meinen frühern Tagen. Nie zuvor nicht lag Natur so
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stumm, so leblos, so zergliedert da, und deine wackere Menschheit – gleich einer Horde Büffel tram-
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pelt sie dumpfwütig über alles hinweg. Dein Fortschritt: Hat einen einzigen Grashalm er zum Spre-
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chen gebracht? Wisst ihr dem Tautropfen zu lauschen, wenn er des Morgens sich vom Blatte löst?
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Darf eine einzige Naide sich freuen, weil der Mensch sie mit wissender Hand zu sich hätt emporgeho-
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ben, und beide nun, versöhnt in neuer Eintracht, einander ewig forterkennen?“
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„Aber das ist doch …“
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„Sag nicht Quatsch!“, fuhr er sie an, bevor sie das Wort ausgesprochen hatte. „Sag nicht Quatsch!“
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Eine Wolke hatte sich vor den Mond geschoben, doch trotz der Dunkelheit, die plötzlich herrschte, sah
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Johanna, wie er zitterte.
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„Ich wollte …“ Was wollte sie sagen, ohne ihn aufs Neue zu beleidigen? Das ist doch Humbug? Eso-
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terik? Spinnerei? Sie griff nach der leeren Flasche und begann, am Etikett herumzufingern.
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„Wenn ich im Labor stehe“, erklärte sie vorsichtig, „Wenn ich im Labor stehe, bringe ich Natur zum
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Sprechen. Ich sehe Dinge, von denen die Wissenschaftler zu Ihrer Zeit tatsächlich nur träumen konn-
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ten. Haben Sie jemals durch ein Mikroskop geschaut?“
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„Was denken Sie“, brummte er, „Gemeinsam mit Goethen habe ich Infusionstierchen beim Tanze zu-
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gesehen.“
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Infusionstierchen? Johanna hatte keinen Schimmer, wovon er redete. „Dann wissen Sie ja, was ich
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meine. Wir sind dabei, die Welt vollkommen neu zu entschlüsseln. Wir können Dinge sichtbar ma-
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chen, die kein Mensch vor uns gesehen hat – obwohl sie immer, seit der Urzelle, da gewesen sind!
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Wie lange ist die Biologie davon ausgegangen, dass die Zelle der kleinste Baustein alles Organischen
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ist! Sie hatte keine Ahnung, was für komplexe Wunderwerke sie in Wahrheit vor sich hatte. Wie auch!
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Bevor das Elektronenmikroskop erfunden wurde, konnte niemand etwas wissen von DNA und RNA,
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von Chromosomen und Telomeren, von Ribosomen und Mitochondrien. Die früheren Forscher waren
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blind für das Leben im Unsichtbaren. Glauben Sie nicht, dass die Natur sich freut, wenn der Mensch
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nun wirklich zu begreifen beginnt, wie kunstvoll sie im Innersten funktioniert?“
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„Funktioniert!“, äffte er sie nach. „An dies Wort habt ihr Professionisten euer Herz gehängt! Anstatt
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den Weltatem zu fühlen, der alles durchströmt, seht ihr Teile bloß und meint gar noch, ihr gewönnet
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etwas, wenn’s immer kleinere und kleinere Teile werden, die ihr sichtbar macht. Ich sage dir, was ihr
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gewinnt: Den Lebensnot vollendet ihr, der mit Descartes und Newton hat begonnen. Kein Klingen
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von Sphären hört ihr mehr, nur eines Uhrwerks Rattern und Klappern, und seid’s erst zufrieden, wenn
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ihr selbst das noch zum Verstummen gebracht.“
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„Sie verstehen mich falsch! Kein ernsthafter Biologe denkt heutzutage mehr materialistisch oder me-
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chanistisch. Die Zeiten, in denen davon gesprochen wurde, Zellen seien die Bausteine des Lebendigen,
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sind lange vorbei. Wir wissen, dass alles ein ständiger Prozess, ein dauerndes Sich-selbst-Teilen
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und -Vermehren ist. Kommen Sie mit ins Labor, ich zeige es Ihnen! In meiner Welt bedeutet das milli-
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ardenfach vergrößerte Bild einer Struktur nicht einfach das, was dieselbe Form im Alltag wäre: Ein
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Strang ist nicht ohne Weiteres ein Strang, eine flache, hohle Tasche nicht einfach die Wand einer
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Blase, die Flüssigkeit enthält. Wir sind in ein Land aufgebrochen, in dem die Gesetze, mit denen uns
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die klassische Physik vertraut gemacht hat, nicht mehr gelten.“
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„It’s life“, warf der Mann neben ihr ein. „But not as we know it.
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Verwundert sah Johanna ihn an. War der Kerl ein heimlicher Trekkie, oder woher kannte er sonst
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diesen Spruch?
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„Richtig“, sagte sie und strich das Etikett wieder glatt, das sie von der Flasche gepult und zerknüllt
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hatte. „Es geht um die Kräfte, die Atome zusammenhalten oder verändern, die Moleküle zu Verbin-
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dungen bringen und diese lösen, sie stabil oder veränderlich machen. Das müsste Ihnen doch gefal-
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len.“
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Anstatt zu antworten, legte er den Kopf in den Nacken und starrte zum Himmel hinauf, an dem der
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Mond nun wieder unbedeckt leuchtete.
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„Wozu, Johanna“, fragte er leise. „Wozu?“
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„Am Anfang wird es vielleicht ein bisschen verwirrend für Sie sein. Aber ich verspreche Ihnen, nach
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zwei, drei Wochen sind Sie genauso fasziniert …“
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„Nicht das! Wozu Sie forschen, will ich wissen. Warum wollen Sie der Natur ins Allerheiligste bli-
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cken?“
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„Das habe ich Ihnen doch schon gesagt. Um zu verstehen!“
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„Verstehen“, wiederholte er. „Beherrschen wollen Sie.“
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Gereizt wandte sich Johanna von ihm ab. Auf was für eine absurde Diskussion hatte sie sich da einge-
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lassen? Mit diesem Verrückten. Diesem Betrüger. Diesem Hochstapler. […] … Und trotzdem … Mit
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beiden Händen rieb Johanna sich die übermüdeten Augen. Wann hatte sie zum letzten Mal mit einem
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ihrer Kollegen ein ähnlich leidenschaftliches Gespräch geführt? Hatte sie überhaupt jemals ein Ge-
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spräch geführt, bei dem sie den Eindruck hatte, dass ihr Gegenüber noch viel waghalsiger und radika-
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ler dachte als sie selbst?
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Die sonderbare Gestalt neben ihr stierte weiter in den Himmel, weshalb auch Johanna nun den Kopf in
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den Nacken legte. Sie kannte sich mit Astronomie nicht aus, dennoch war sie einigermaßen sicher,
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dass es Pegasus war, der über ihnen funkelte.
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„Wissen Sie, warum ich das Leben so liebe?“, fing sie nach einer Weile erneut an. „Weil es die ein-
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zige Kraft ist, die sich der Entropie widersetzt. Sterne verlöschen. Galaxien lösen sich auf. Und auch
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hier unten geht alles von Ordnung in Unordnung über. Nur das Leben schafft es, immer komplexere
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Ordnungssysteme hervorzubringen. Während alles andere zerfällt, ist es dem Leben gelungen, sich
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vom Urschlamm bis zum Homo sapiens hinauf zu entwickeln. Leben will nicht vertrocknen. Leben will
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nicht enden. Leben will vorwärts. Aber was sind Altern, Sterben und Tod anderes als der Sieg der Zer-
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setzung, der Sieg der Unordnung über die Ordnung? Deshalb ist es an uns, diese Unordnung ein für
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alle Mal zu überwinden.“
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Begeistert schaute Johanna den Mann an, der neben ihr saß – und musste feststellen, dass er ihr offen-
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sichtlich nicht zugehört hatte. Dabei hatte sie diesen Gedanken noch nie in einer solchen Schärfe und
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Klarheit formuliert! Enttäuscht ließ sie die Weinflasche fallen, die einige Stufen der Feuerleiter hinun-
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terschepperte, bevor sie am Boden zerschellte. […]

Anmerkungen zum Autor:
Thea Dorn (* 1970): deutsche Schriftstellerin und Fernsehmoderatorin, u. a. einer Literatursendung
Aus: Thea Dorn: Die Unglückseligen. München 2017, S. 125–130.

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