Vorschlag B

Interpretation eines literarischen Textes

Thema: Homoerotisches Begehren?
E. T. A. Hoffmann (* 1776 - † 1822): Der Sandmann (1816)
Carola Hilmes (* 1956): Geheime Praktiken – entstellende Konfigurationen. Verstecktes homoerotisches Begehren im Nachtstück Der Sandmann (2016)
Aufgabenstellung:
  • Stelle die zentralen Aussagen sowie resümierend den Interpretationsansatz von Carola Hilmes zu E. T. A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann dar. (Material). (Material)
  • (35 BE)
  • Erörtere den Interpretationsansatz von Carola Hilmes (Material) in Bezug auf die Erzählung Der Sandmann von E. T. A. Hoffmann.
  • (65 BE)
Material
Geheime Praktiken – entstellende Konfigurationen. Verstecktes homoerotisches Begehren im Nachtstück Der Sandmann (2016)
Carola Hilmes
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[...] Nathanaels psychopathologischer Bekenntnisbrief, mit dem die Erzählung unvermittelt beginnt,
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wird – aus Versehen – an einen falschen Empfänger geschickt. Bei der Adressierung unterläuft Natha-
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nael ein vielsagender Lapsus. Er schreibt an seinen Freund Lothar, schickt den Brief aber an dessen
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Schwester, seine Braut Clara. Seine Botschaft ist also nicht an die zukünftige Ehefrau gerichtet, son-
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dern der Freund wird als der eigentliche Empfänger der Botschaft etabliert. Hinter (evtl. auch in) der
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Liebe zu Clara verbirgt sich also die Freundschaft zu Lothar. Dadurch wird von Beginn an eine zweite,
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der Heteronormativität zuwiderlaufende Lektüreebene eingezogen, auch wenn Claras Antwortbrief
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das Missverständnis sofort zurückrückt und für Nathanaels traumatisches Kindheitserlebnis eine ver-
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nünftige, also normalisierende Interpretation anbietet.
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Zwei weitere Begegnungen mit Lothar an wichtigen Stellen der folgenden Erzählung bestätigen je-
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doch, dass im Sandmann auch eine „Geschichte zwischen Männern“ verhandelt wird. In dem Zwei-
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kampf, den die beiden Freunde um die Ehre Claras führen wollen, findet das homoerotische Begehren
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der beiden jungen Männer einen gesellschaftlich akzeptierten Ausdruck. Dieser Kampf um Clara ist
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auch Zeichen der Rivalität der Freunde um ihre Liebe, die im Namen der Ehre verhandelt wird, also
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entsexualisiert erscheint. Zugleich dient Clara als Dritte im Bunde, die das aggressive Begehren der
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Männer verdeckt und in freundschaftliche Bahnen lenkt. Der hochemotionale Streit der jungen Män-
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ner hatte sich an der Herabsetzung Claras als „leblose[n], verdammten Automat[s]“ entzündet; erst
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durch ihr Einschreiten kann verhindert werden, dass sich die Männer körperlich aufopfern. Schluch-
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zend interveniert Clara mit dem Ausruf: „Ihr wilden entsetzlichen Menschen!“ Ihr von echter Empa-
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thie getragenes Verhalten normalisiert die Verhältnisse. Die Humanität siegt: „unter tausend Tränen
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umarmten sich die drei versöhnten Menschen und schwuren, nicht voneinander zu lassen in steter
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Liebe und Treue“. Die Geschichte selbst spricht dann jedoch eine andere Sprache.
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Lothar verschwindet aus der weiteren Erzählung, die von Nathanaels Liebe zu Olimpia bis zu deren
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Zerstörung durch ihre „Väter“ handelt. Die durch technische Hilfsmittel (das Taschenperspektiv) her-
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beigeführte, also aufgesetzte, mithin unaufrichtige Auseinandersetzung mit der eigenen Weiblichkeit
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endet mit der brutalen Zerreißung des eigenen erotischen Ideals – die Puppe wird buchstäblich in Stü-
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cke gerissen, ähnlich wie sich Nathanael als Kind schon von Coppelius misshandelt fühlte – und führt
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zu krankhafter Verzweiflung, einer Bewusstseinsspaltung, von der sich Nathanael nur vorübergehend
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erholen kann. Bei einem erneuten Wahnsinnsanfall ist er es dann selbst, der die erwählte Frau in den
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Abgrund stürzen will und damit seine Zukunft als Familienvater entschieden verabschiedet. Doch
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noch einmal greift Lothar ins Geschehen ein. Diesmal rettet er die von ihrem Bräutigam mit dem Tode
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bedrohte Schwester. Der Versuch eines radikalen Ausschlusses der Frau wird also durch eine Solidari-
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sierung der Geschwister verhindert, was Nathanael seinerseits endgültig aus jeglicher familiären Ge-
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meinschaft verbannt und damit letztlich auch sein homosoziales Begehren negiert: Von Liebe und
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Treue zu dritt kann nicht mehr die Rede sein. Mit seinem Sprung in den Abgrund des Nichts zieht der
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Protagonist einen Schlussstrich. Die Bilanz seines kurzen Lebens lautet: unmöglich. Ein solch verstö-
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render Befund verlangt nach weiteren Erklärungen. [...]
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Die unheimliche Szene, in der Nathanael nachts die geheimen Machenschaften des Vaters und der be-
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drohlichen Figur des Nachbarn, des Advokaten Coppelius, beobachtet, kann [...] als erotisches Drei-
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eck zwischen dem guten Hausvater, dem als unheimlich empfundenen Nachbarn Coppelius und dem
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neugierigen versteckten Sohn [gelesen werden]. In der entsprechenden voyeuristischen Szene ist die
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Mutter ausgeschlossen; auch die kleine Schwester ist schon im Bett. [...] Was die Männer des Nachts
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heimlich und unter Ausschluss der Familie treiben, sind alchemistische Experimente. Dieser Versuch,
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gemeinsam einen Menschen zu schaffen, kann als Chiffre für homosexuelles Begehren gelesen wer-
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den, von dessen stark im Verborgenen wirkender Triebkraft und dessen Scheitern die Geschichte er-
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zählt. Die anscheinend negativ besetzte homosoziale Energie wird dabei der Figur des Coppelius zuge-
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schrieben. Sie erscheint als die düstere, geheime Macht, die die familiäre Normalität bedroht. Das Dia-
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bolische als die andere Seite des Vaters [...] verweist sexualpolitisch gesehen auf die andere Seite der
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Heteronormativität. Das durch die ambivalente Vaterfigur repräsentierte homosoziale Begehren [...]
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erweist sich in der Geschichte als durchaus (selbst-)zerstörerisch, wie der Tod des Vaters als Folge der
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alchemistischen Experimente oder auch Nathanaels Zerstückelungsphantasie belegen. Sie gipfelt in
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der Angst, die Augen zu verlieren. [...]

Anmerkungen zum Autor:
Carola Hilmes (* 1956): Professorin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.
Aus: Carola Hilmes: Geheime Praktiken – entstellende Konfigurationen. Verstecktes homoerotisches Begehren im Nachtstück Der Sandmann, in: Oliver Jahraus (Hg.): Zugänge zur Literaturtheorie. 17 Modellanalysen zu E. T. A. Hoffmanns Der Sandmann, 2. Aufl. Stuttgart 2019, S. 228 ff.

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