Lerninhalte in Deutsch
Inhaltsverzeichnis

Aufgabenstellung C

Erörterung literarischer Texte

Thema:

Brigitte Kronauer: Dankrede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises (2005)

Aufgabenstellung:

  • Stelle die wesentlichen Aussagen des Textauszugs von Brigitte Kronauer dar und formuliere, wie Kronauer die Figur des Woyzeck interpretiert. (ca. 30 %)

  • Erörtere den Interpretationsansatz. Beziehe dabei Ihre Kenntnisse zu Büchners Dramentext ein. (ca. 70 %)

Material

Dankrede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises (2005) (Auszug)

Brigitte Kronauer

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Warum bloß, frage ich Sie, sehr geehrte Damen und Herren, und nicht weniger mich, hat Georg
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Büchner die hier gleich folgenden Worte von jemandem sprechen lassen, aus dessen Mund
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sie dermaßen unnatürlich, ja unglaubwürdig klingen: „... so ein schöner, fester, grauer Himmel,
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man könnte Lust bekommen, einen Kloben hineinzuschlagen und sich dran zu hängen, nur
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wegen des Gedankenstrichels zwischen Ja und Nein und wieder Ja – und Nein. Ja und Nein?
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Ist das Nein am Ja oder das Ja am Nein schuld?“
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Nicht der eloquent müde Revolutionär Danton sagt die verblüffenden Sätze, nicht der graziös
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ennuyierte Prinz Leonce, nicht der in den Wahnsinn kippende Schriftsteller Lenz. Ihnen
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allen wäre solch spitzfindig formulierter Tief- oder Unsinn ohne weiteres zuzutrauen. Aber
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Woyzeck? Ihm doch wohl eigentlich nicht, nicht Woyzeck, dem vierten Protagonisten von
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Büchners in fundamentaler Unterschiedlichkeit und notgedrungener Eile errichteten
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Universen. Trotzdem, er, das arme Stück Mensch, wahlweise tauglich für erniedrigend
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idiotische Experimente oder, in tödlicher Variante, als Kanonenfutter, er hat’s geäußert.
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Jedoch: Darf er das?
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Nicht seine Überlegung an sich ist das mögliche Ärgernis, nur der Umstand, daß er, Woyzeck,
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sie anstellt. Obwohl er uns allerdings vorwarnte mit der ebenfalls für einen wie ihn
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befremdlichen Bemerkung, manchmal habe man „so ’nen Charakter, so ’ne Struktur“. Ein hier
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von mir unterschlagenes, von Büchner zwischengeschobenes „Herr Hauptmann“ und ein paar,
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je nach Ausgabe, volksnah stimmend und in dialektnaher Manier weggelassene n’s am Ende,
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ein „schlage“ und „hänge“ tun dabei kaum was zur Sache. Was Woyzeck da in großer Not
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entschlüpft, ist richtiggehend intellektuell, klingt keineswegs nach urtümlich schlichtem Gemüt,
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hört sich unpassend akrobatisch, ja, um Himmels willen, heraus mit dem bösen Wort, artifiziell
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an!
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Liegt aber der literaturhistorische Ruhm Büchners nicht zu einem großen Teil darin begründet,
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daß er, ungeschönt und Mitgefühl weckend, einen jener Rechtlosen zum ersten Mal auf die
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Bühne brachte als das, was er war und ist: ein von der relevanten Gesellschaft allenfalls als
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Dreiviertelmensch angesehenes und benutztes Wesen, ohne Bildung und daher fast
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unzivilisiert, das sein vermutlich ungeschlachtes Innenleben lieber, wenn’s schon sein muß,
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leihweise in sogenannten Volksliedern oder Bibelversen artikulieren und eventuell goutierbar
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machen sollte?
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Gilt Büchner nicht jedem Schulkind als Revolutionär auch deshalb, weil er, im Gegensatz zum
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ungeliebten Schiller, die Wirklichkeit nicht idealisiert, sondern endlich in ihrer realen
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Erscheinung darstellte?
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Und dann ausgerechnet bei unserem Woyzeck, dem uns inzwischen so teuren Pracht
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exemplar des Geringen, des leidend Anspruchslosen derart komplizierte Gedanken und
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Gedankenstrichel! […]
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Woyzeck […] konstatiert zu seiner Verzweiflung, jedoch ab sofort zu unserem Trost: „Jeder
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Mensch ist ein Abgrund.“
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Wir atmen auf! Ist das nicht plötzlich in unseren Ohren Engelsmusik? […] Auch Hinz und
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Kunz , oder, wie der Dichter Ror Wolf sagen würde, Noll, Lemm, Sapp und Klomm, sind:
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vielfältig? Sind jeder für sich: unergründlich, gerade so wie Sie und ich? […]
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Das ist die Revolution, eine Binsenweisheit, aber eine dauerhaft revolutionäre:
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Nicht die Erkenntnis, daß, recht unverbindlich, alle Menschen Menschen und irgendwie auch
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Brüder sind. Vielmehr, daß kein Mensch, ob Überflieger oder nicht, flach ist, simpel ist! Keiner,
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was er an Floskeln auch daherredet, gedankenlos, hilflos, Einverständnis heischend, ist, egal
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was Augenschein und Verabredung behaupten mögen, nur mit dieser einen, von ihm
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verbalisierten Dimension ausgestattet. […]

Anmerkungen zur Autorin: Brigitte Kronauer (* 1920 - † 2019) war Schriftstellerin.

Aus: Kronauer, Brigitte (2005): Dankrede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung (Zugriff: 05.02.2024)

(Rechtschreibung und Zeichensetzung entsprechen der Textquelle.)

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