Lerninhalte in Deutsch
Inhaltsverzeichnis

Aufgabenstellung A

Hinweis: Von den vier vorgelegten Aufgabenstellungen ist eine zur Bearbeitung auszuwählen.

Analyse pragmatischer Texte

Thema:

Theo Stemmler: Osteoporose im Sprachskelett (2020)

Aufgabenstellung:

  • Analysiere Theo Stemmlers Text Osteoporose im Sprachskelett. Berücksichtige dabei den Gedankengang, die sprachlich-stilistische Gestaltung und die Intention des Textes. (ca. 80 %)

  • Beurteile die Überzeugungskraft des Textes. (ca. 20%)

Material

Osteoporose im Sprachskelett (2020)

Theo Stemmler

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Nur tote Sprachen verändern sich nicht. Der Wandel, dem das Deutsche gerade heute
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unterliegt, ist ein Lebenszeichen. In fast allen Bereichen der Sprache ist vieles längst nicht
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mehr wie früher. Der Wortschatz, die Schreibung, die Satzbildung, der Stil sind für die älteren
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Sprachbenutzer anders, als sie es in der Schule gelernt haben. Sie stellen sich eher widerwillig
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den Neuerungen, während dies den Jüngeren leichtfällt, denen die historische Dimension des
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Lernens fehlt. Die Zurückweisung des Neuen ist eine Altersfrage: Die Jungen zwitschern eben
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nicht, wie die Alten sungen, sondern sprechen und schreiben provokant anders.
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Doch in den einzelnen Bereichen der Sprache gibt es unterschiedliche Härtegrade der Abwehr
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sprachlicher Neuerungen, die sich ohnehin nicht mit gleicher Geschwindigkeit ankündigen. Im
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Wortschatz finden Veränderungen weit schneller statt als in der Grammatik mit ihren festen
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Flexionsformen und syntaktischen Regeln. Im Unterschied zum robusten System der
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Grammatik, das über lange Zeit stabil bleibt, erweist sich der Wortschatz immer wieder als
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volatil.
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Hier herrscht ein ständiges Kommen und Gehen, das keinen festen Regeln folgt, sondern
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jeweils aktuellen Trends: im achtzehnten Jahrhundert französischem Vorbild, heute
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angloamerikanischem. Ganz verschiedenartige Einflüsse – aus der Jugendsprache, dem
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politischen Diskurs oder der Welt der Technik – machen sich geltend.
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Wörter verschwinden und werden durch neue ersetzt, die oft zunächst Missfallen erregen,
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schließlich aber geduldet werden: Der den braven Lehrling ersetzende grässliche Azubi ist ein
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bekanntes Beispiel. Über das nützliche Handy hat man sich zunächst aufgeregt, dann aber
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eingesehen, dass es handlicher ist als das Mobiltelefon. Dem exotisch klingenden Schupo
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folgte der Polizist, dem französischen Mannequin das amerikanische Model, der langatmigen
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Eintrittskarte das simple Ticket, und der umständliche Sommerschlussverkauf ist dem kurzen
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und bündigen Sale gewichen.
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All diese Neuzugänge stellen keine existentielle Bedrohung des Deutschen dar – ebenso
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wenig wie die Bedeutungsveränderungen in vielen Wörtern, auch wenn sie nicht jedem
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gefallen. Ein „heißer Typ“ existiert mittlerweile seit Jahren, und „geil“ als zustimmende
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Bewertung ohne sexuelle Konnotation ist inzwischen auch den älteren Sprachbenutzern
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geläufig, die allerdings immer noch über relative Neulinge wie „daddeln“ oder „Tanke“ die Nase
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rümpfen und mit dem Satz „Er hat einen Lauf“ zunächst nichts anfangen können.
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Manche einheimischen Wörter und Wendungen verlieren allmählich ihre alte vertraute
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Bedeutung und werden klammheimlich akzeptiert. „Ganze hundert Euro“ bedeutet neuerdings
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„nicht weniger als“ – und nicht, wie bisher, „nicht mehr als“. Und längst wird „scheinbar“
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semantisch nicht mehr von „anscheinend“ unterschieden. Doch auch davon geht die Welt der
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deutschen Sprache nicht unter. Derartige Veränderungen und Neuerungen betreffen die
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Weichteile der Sprache, nicht deren Skelett.
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Im stilistischen Bereich geht man immer öfter durchlässig – eigentlich: fahrlässig – mit den
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verfügbaren Registern um. Dies sind im Grunde beifallheischende Saloppheiten, die sich viele
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Benutzer eines gehobenen Stils heutzutage gestatten. Sie weisen sich so als mit der Zeit
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gehend aus. Da hat auch ein ansonsten sehr erwachsener Manager „null Bock“ auf weitere
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Umstrukturierungen, und ein kurz vor der Pensionierung stehender Gymnasialdirektor „steht
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nicht auf“ den Stundenplanentwurf seines Stellvertreters.
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Während dies stilistische Albernheiten sind, ist die verrohte Sprache in der politischen Rede
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ernst zu nehmen. Vielen ist der politische Gegner zum Feind geworden – schlimmer noch:
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zum Jagdopfer. „Wir werden sie jagen“ war denn auch nach der Bundestagswahl 2017 von
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einem prominenten Politiker zu hören. Und auch die Drohung „Ab morgen bekommen sie in
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die Fresse“ zeigte die Brutalisierung des politischen Stils. Das ist neu. Beleidigt wurde schon
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zu Zeiten von Herbert Wehner und Franz Josef Strauß, doch nicht mit einer Aktion gedroht.
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Entlarvend ist das angstmachende Futur in den beiden Zitaten: „wir werden …“ und „ab
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morgen bekommen sie …“.
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Der deutschen Sprache allgemein drohen jedoch Beschädigungen vor allem in ihrem
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systematischen Kernbereich: der Grammatik. Der grammatische Wandel unterscheidet sich
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grundlegend von jenem des Wortschatzes und der Bedeutung. Für ihn nämlich gibt es kein
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chaotisches Hin und Her, kein Vor oder Zurück, keine modischen Novitäten, die man nach
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Belieben einführen oder auch wieder abschaffen kann. Die Veränderung grammatischer
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Formen erfolgt stets in einer Richtung: zur Vereinfachung hin. Der gemeine Sprachbenutzer
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ist faul und will es so.
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Hinzu kommt – auch in ansonsten qualitätsbeflissenen Medien – ein schlampiger Umgang mit
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den seit langem etablierten syntaktischen Regeln, der auf jene sprachliche Logik verzichtet,
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die lateinischen Texten – man traut sich dies heute kaum zu sagen – kristallklare Transparenz
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verlieh. Dieser Kombination von sprachlicher Faulheit mit fahrlässiger Ungenauigkeit
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verdanken wir einen Sprachzustand, der von manchem Beobachter auch als Verrohung des
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Deutschen bewertet wird.
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Der Formenbestand unserer Sprache sinkt kontinuierlich, wenngleich er längst noch nicht die
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Spärlichkeit des Englischen (zwölf Morpheme) erreicht hat. Bekanntlich ist der Dativ auf -e
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obsolet, der Genitiv auf -s stark gefährdet. Mehr noch: Viele Wörter, vor allem Fremdwörter,
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werden im Singular überhaupt nicht mehr flektiert – gängig sind allmählich „dem oder den
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Agent, Präsident, Kandidat, Journalist, Komponist, Student“.
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Solche Vereinfachungen erleichtern dem trägen Sprachbenutzer das Leben, verringern jedoch
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die grammatische Eindeutigkeit und die Zahl möglicher syntaktischer und damit auch
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stilistischer Varianten. Dass übrigens manch einer nicht mehr zwischen „das“ und „dass“
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unterscheiden kann, ist eigentlich kein orthographisches Problem, sondern auch ein Zeichen
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grammatischer Verrohung: Es zeigt das Unvermögen, zwischen dem Pronomen „das“ und der
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Konjunktion „dass“ unterscheiden zu können.
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Ebenso hapert es an der Rektion und Kongruenz – sprich: der korrekten Zuweisung
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bestimmter Kasus durch Verben, Adjektive, Präpositionen sowie der Übereinstimmung
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zusammengehörender Teile im Satz. Die „richtige“ Zuweisung eines im alltäglichen
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Sprachgebrauch üblichen Kasus ist nicht einfach, da sie – wie Sprache überhaupt – arbiträr
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(willkürlich) ist, jedoch einer allgemeinverbindlichen Konvention folgen muss, damit
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Kommunikation möglich wird. Ein daraus resultierendes Unbehagen lässt sich in Dialekten und
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in der Umgangssprache deutlich erkennen.
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Volkstümliches Paradebeispiel, das inzwischen Kultstatus erlangt hat, ist der Wortwechsel
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zwischen einem bekannten Fußballspieler und dem amtierenden Schiedsrichter aus dem Jahr
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1965. „Herr Lippens, ich verwarne Ihnen!“ – so der Schiedsrichter. „Ich danke Sie!“ – so der
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Fußballspieler in seiner ironischen Antwort. Doch nicht nur in sportlichen Freizeitmilieus findet
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derartiger Kasuswechsel statt. Auch in qualitätsbewussten Medien begegnen wir solch
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morphologischem Drunter und Drüber. So klagt ein bekannter Autor: „Mir fror“, ein anderer
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verspricht „ein weltoffenes Deutschland, basierend auf christlichen Werte“.
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Mit fast gesetzmäßiger Häufigkeit wird in festen Fügungen der Genitiv durch den Dativ ersetzt:
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Man „wird einem Problem Herr“, „gedenkt vielen Toten“, „nimmt sich einem Thema an“ und
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„bedient sich einem Trick“. Die Versuchung solchen Kasuswechsels ist umso größer, wenn
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man auf diese Weise das lästige Genitiv-s vermeiden kann.
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Unsere Toleranzbereitschaft für derartige sprachliche Marscherleichterungen erlischt vollends,
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wenn ein bekannter Schriftsteller mitteilt: „Als Freundin wusste sie, wo ihren Freunden der
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Schuh drückt.“ Und gar Ratlosigkeit stellt sich ein, wenn man liest: „Statt der Fassaden, die
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doch nur vorgeben, eine Universität als Ganzen bewerten zu können…“
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Während manche Sprachbeobachter für solche Kasuswechsel doch noch ein gewisses
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Verständnis äußern, dürfte solche Duldung bei schludriger Kongruenz nicht mehr möglich sein.
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Denn Kongruenz, die Übereinstimmung zugehöriger Teile im Satz, ist nichts anderes als
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grammatische Logik. Und die ist – wie jede Art von Logik – unentbehrlich. Kongruenzfehler
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tragen zu Beschädigungen der Sprache bei.
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Kongruenz kann alle grammatischen Kategorien betreffen: Kasus, Numerus, Apposition,
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Genus. Jeweils ein Beispiel möge hier genügen. Nicht der erforderliche Dativ, sondern der
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Akkusativ wird verwendet: „Die New York Times meint zum Tod Epsteins und die daraus
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resultierenden Gerüchte …“ Statt des Plurals kommt der Singular zum Zug: „Die Bevölkerung
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und auch die Beschäftigtenzahl wächst deutlich schneller.“ Besonders häufig werden Beisätze
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inkongruent formuliert: „Die Reise in der Transsib führt von Moskau nach Ulan Bator, die
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Hauptstadt der Mongolei.“ Und im Reigen der misshandelten Kongruenz darf auch das
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grammatische Geschlecht nicht fehlen: „Der Baustofffachhandel hat auch neue Hallen für ihre
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Waren gebaut.“
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Mein Vorschlag: sich weniger über Anglizismen und Jugendsprache zu entrüsten und mehr
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auf politisch und grammatisch korrekte Sprache zu achten. Auf diese Weise könnte man
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Schaden von der deutschen Sprache abwenden.
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Allerdings stoßen Sprachkritiker seit langem solche Kassandrarufe aus – mit mäßigem
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Erfolg. Bereits im neunten Jahrhundert bemängelte der Mönch Otfrid von Weißenburg, dass
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die grammatischen Regeln nicht befolgt werden. Und tausend Jahre später, aber nun auch
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schon wieder vor mehr als einem Jahrhundert, lamentierte der Gymnasiallehrer Gustav
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Wustmann: „Wohin man blickt, sieht man jetzt eine immer ärger werdende grammatische
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Fehlerhaftigkeit.“ Dennoch: Die Hoffnung stirbt zuletzt.

Anmerkungen zum Autor: Theo Stemmler (* 1936) ist emeritierter Professor der Anglistik.

Aus: Stemmler, Theo (27.04.2020): Osteoporose im Sprachskelett (Zugriff: 26.02.2024)

(Sprachliche Fehler in der Textvorlage wurden entsprechend der geltenden Norm korrigiert.)

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