Aufgabenstellung D
Materialgestütztes Verfassen argumentierender Texte
Thema:
Juli Zeh: Corpus Delicti
Aufgabenstellung:
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An deiner Schule werden im Rahmen eines fächerübergreifenden Projekts (Kunst, Psychologie, Deutsch) zu fantastischen Begleitern im Lebensalltag die Deutsch-Leistungskurse gebeten, Beiträge zeitgenössischer literarischer Werke zu diesem Thema zu untersuchen.
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Verfasse einen argumentierenden Beitrag, in dem du Stellung zur Bedeutung der „idealen Geliebten“ in Juli Zehs Corpus Delicti nehmen.
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Beantworte dabei die Frage, ob bzw. inwiefern die Figur der idealen Geliebten der Protagonistin Mia hilft, ihre innere Zerrissenheit zu überwinden.
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Nutze dazu die folgenden Materialien (1-6) sowie dein im Unterricht erworbenes Wissen.
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Wähle eine geeignete Überschrift.
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Zitate aus den Materialien werden ohne Zeilenangabe unter Nennung der Autorinnen und Autoren und ggf. des Titels angeführt.
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Der Beitrag sollte ca. 1000 Wörter umfassen.
Material 1
Phantastische Wesen. Begleiter im Geiste (2012)
Hubertus Breuer
Anmerkungen zum Autor: Hubertus Breuer (geb. o. A.) ist studierter Germanist, Philosoph und Wissenschaftsjournalist.
Aus: Breuer, Hubertus: Phantastische Wesen. Begleiter im Geiste (2012) (Zugriff: 22.11.2022)
Material 2
„Die ideale Geliebte“ – Utopische Erzählformen im Spiegel neuer Dystopien (2015)
Anja Gerigk
Anmerkungen zur Autorin: Anja Gerigk (geb. o. A.) ist Literaturwissenschaftlerin und Rezensentin.
Aus: Gerigk, Anja: „Die ideale Geliebte“ – Utopische Erzählformen im Spiegel neuer Dystopien (Zeh, Dath, Kracht). In: Studien zur deutschen Sprache und Literatur (2015), S. 5 f. (Zugriff: 22.11.2022)
Material 3
Die Gesundheitsdiktatur. Rezension der Theaterfassung von Juli Zehs Corpus Delicti in der Münchner Schauburg (2020)
Donaukurier
Aus: Unbekannte Autorschaft. Die Rezension bezieht sich auf eine Inszenierung der Bühnenfassung von Juli Zehs Corpus Delicti an der Schauburg München unter der Regie von Ulrike Günther, die am 10.01.2020 Premiere feierte.
Material 4
Corpus Delicti. (2009)
Juli Zeh
Die ideale Geliebte (S. 25 f.)
Die Zaunreiterin (S. 144 f.)
Keine verstiegenen Ideologien (S. 38 f.)
Aus: Zeh, Juli: Corpus Delicti. Ein Prozess. München 2009, S. 25 f.
Material 5
Szenenfoto aus Corpus Delicti (2018)
Björn Hickmann
Szenenfoto aus der Inszenierung von Corpus Delicti am Rheinischen Landestheater Neuss. Dargestellt ist die „ideale Geliebte“ hinter Mia Holl.
Aus: Hickmann, Björn: Corpus Delicti. In: Ortmann, P.: Zweifel an der Zukunft. Corpus Delicti in Neuß (2016) (Zugriff: 28.12.2022)
Material 6
Fragen zu Corpus Delicti (2020)
Juli Zeh
Juli Zeh veröffentlichte im Nachgang zahlreicher Interviews und Fragen an sie ein fiktives Interview mit sich selbst, in dem sie diese Fragen aufgreift und beantwortet.
Aus: Zeh, Juli: Fragen zu Corpus Delicti. München 2020, S. 66.
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Zwischen Halt und Phantom: Die Funktion der idealen Geliebten in Juli Zehs Roman Corpus Delicti
Einleitung
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In Juli Zehs Roman Corpus Delicti – Ein Prozess steht die Biologin Mia Holl im Mittelpunkt, die an einem totalitären Gesundheitssystem zerbricht, das individuelle Freiheit dem gesellschaftlichen Nutzen opfert. Nach dem Tod ihres Bruders Moritz befindet sie sich in einer tiefen inneren Krise, die sie zunehmend in Isolation und Zweifel führt. Eine besondere Rolle in dieser Situation spielt die sogenannte „ideale Geliebte“.
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Diese Figur, deren Realität zwischen Traum und Vorstellung verschwimmt, begleitet Mia über weite Strecken des Romans und beeinflusst ihr Denken und Handeln. In der Forschung wird sie sowohl als solidarische, helfende Begleiterin (M1–M3) als auch als phantomhafte, ästhetische Erscheinung ohne tatsächliche Wirksamkeit (M4–M6) beschrieben.
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Im Folgenden wird untersucht, inwiefern die ideale Geliebte Mia tatsächlich hilft, ihre Zerrissenheit zu überwinden, und welche Bedeutung sie für Mias Entwicklung und die thematische Struktur des Romans besitzt.
Hauptteil
1. Die ideale Geliebte als verlässliche Hilfe und emotionale Stütze
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Zu Beginn des Romans erscheint die ideale Geliebte als grundsätzlich solidarische und helfende Figur für die innerlich zerrissene Mia. (M1) Sie fungiert als verlässliche Hilfe zur Konfliktbewältigung in Momenten von Verzweiflung und Orientierungslosigkeit. Trotz Mias Schuldgefühlen und Selbstzweifeln ist sie jemand, „dem man sich anvertrauen kann“, bei der „immer Liebe und Zuspruch“ zu finden ist. (M1, M6) Diese unbedingte emotionale Verlässlichkeit verleiht der idealen Geliebten eine fast therapeutische Funktion.
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Darüber hinaus ist sie als beste Freundin und pädagogische Begleiterin zu verstehen (Vgl. M3). Sie wirkt wie eine therapeutische Instanz, die Mia unterstützt, ihre Zerrissenheit zu ordnen und sich in einer von Kontrolle und Misstrauen geprägten Welt selbst zu behaupten. Ihre kontinuierliche Anwesenheit im Text kann dabei als Symbol für innere Stabilität und Selbstgespräch gelesen werden.
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Die ideale Geliebte bietet Mia nicht nur Trost, sondern dient auch als kritischer Spiegel. In ihrer „kontinuierlichen Anwesenheit“ kommentiert sie Mias Verhalten und regt sie zu Reflexion an (M4, Die Zaunreiterin). Sie steht für eine Form von Nähe und Verständnis, die Mia von keinem anderen Menschen erfährt. Insofern übernimmt sie zunächst die Funktion einer inneren Stimme, die Mia hilft, die zerstörerische Trauer um Moritz in produktive Gedanken und Widerstand zu verwandeln.
2. Die ideale Geliebte als moralische und geistige Orientierung
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Die Figur der idealen Geliebten erfüllt im weiteren Verlauf auch eine moralische und geistige Helferrolle. Laut Material (M2, M3) weist sie Mia auf ihre ursprüngliche Solidarität mit den Idealen der Menschlichkeit hin und hilft ihr, sich von der totalitären METHODIK der Gesellschaft zu distanzieren. Sie zeigt Mia Wege auf, ihre innere Zerrissenheit zu überwinden, indem sie die Auseinandersetzung mit der METHODIK im „Horizont humaner Werte“ führt (M3, Die Zaunreiterin).
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Diese moralische Funktion zeigt sich insbesondere darin, dass die ideale Geliebte Mia hilft, ihre Beziehung zu Moritz neu zu deuten. Während Mias Bruder für Freiheit, Individualität und moralische Integrität steht, verkörpert die ideale Geliebte eine Art Bindeglied zwischen Mia und Moritz’ Vermächtnis. Sie verkörpert dessen Auftrag, die Werte der Humanität und Freiheit weiterzutragen, indem sie Mia daran erinnert, „seine Werte zu erhalten und zu leben“ (CD, S. 45; M2).
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Auf diese Weise ist die ideale Geliebte zugleich Vertraute, Gewissen und moralische Instanz. Sie stabilisiert Mia, indem sie sie zu einer bewussten Auseinandersetzung mit Schuld und Verantwortung anregt. So trägt sie entscheidend dazu bei, dass Mia ihre Trauer in eine aktive Haltung des Widerstands überführen kann.
3. Die ideale Geliebte als Motor der Entwicklung und kommunikative Begleiterin
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Neben Trost und Reflexion erfüllt die ideale Geliebte auch eine erzählerische und kommunikative Funktion. Sie ist „die wichtigste und zuverlässigste Kommunikationspartnerin“ Mias (M2, M3, M4, M5, M6). In einer Welt, in der Kommunikation vom System überwacht und standardisiert ist, bietet sie Mia einen Raum des authentischen Sprechens. Das Gespräch mit ihr ersetzt die fehlende Freiheit, sich offen zu äußern – eine Art innerer Dialog, der Mia ihre Autonomie bewahrt.
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Zudem fungiert sie als Motor der Handlung und der Figurenentwicklung (M5). Durch die Gespräche mit der idealen Geliebten gewinnt Mia Klarheit über ihre Lage, ihre Schuld und ihren Widerstand. Ihr Einfluss wird vor allem in den ersten beiden Dritteln des Romans spürbar, wo Mia, durch diese Beziehung stabilisiert, den Mut aufbringt, sich gegen das System zu stellen.
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In dieser Phase lässt sich die ideale Geliebte also als wichtiger Impulsgeber für Mias Entwicklung deuten – eine Instanz, die sie intellektuell fordert und emotional schützt.
4. Die ambivalente Funktion: Halt oder Illusion?
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Mit fortschreitender Handlung verändert sich jedoch die Wirkung der idealen Geliebten. Immer stärker wird sichtbar, dass sie auch ein Phantom oder eine Projektion sein könnte (M4, Die ideale Geliebte). In M4 wird sie als „Phantom, substanzlose Figur, ästhetisches Beiwerk“ bezeichnet, deren Rolle „zwischen Traum und Realität“ schwankt. Auch Mia selbst scheint sich unsicher zu sein, ob die Geliebte „überhaupt in einer anderen Dimension existiert oder nur in ihrem Kopf“ (M4).
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Hier zeigt sich eine entscheidende Ambivalenz: Die ideale Geliebte kann sowohl als Ausdruck von Mias psychischer Spaltung verstanden werden als auch als Symbol ihrer letzten inneren Autonomie. Sie ist zugleich ein Heilmittel gegen Vereinsamung – und ein Symptom dieser Vereinsamung.
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Im späteren Verlauf tritt sie zunehmend als Stör- und Irritationsfaktor auf, der Mia zu schmerzhaften Erkenntnissen zwingt (M4, Keine versteigerten Ideologien). Indem sie Mia zu klarer Haltung gegenüber dem System herausfordert, wird sie nicht nur zur Trösterin, sondern auch zur Katalysatorin des Konflikts. Sie „verstärkt Mias Zerrissenheit“ und treibt sie so zur Entscheidung zwischen Anpassung und Auflehnung (M4).
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Diese Spannung zeigt sich auch in der zunehmenden Abwesenheit der Geliebten im letzten Drittel des Romans (CD, S. 25 f.). Während Mias seelische Zerrissenheit wächst, „weicht die Geliebte als helfende Instanz“ immer mehr zurück. Dadurch verliert sie ihre ordnende und stützende Funktion. Am Ende steht sie, laut Material, als „machtlose Hintergrundfigur“, die „nicht in der Lage ist, die Handlung oder die Entwicklung der Figur Mia noch zu beeinflussen“ (M5).
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So bleibt die Frage offen, ob die ideale Geliebte tatsächlich eine real wirksame Hilfe oder lediglich ein ästhetisches Konzept ist – ein inneres Selbstgespräch, das Mia zeitweise stützt, aber sie letztlich nicht retten kann.
5. Wertung: Zwischen Helferfigur und ästhetischem Symbol
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Die unterschiedlichen Deutungen lassen sich zu einem differenzierten Gesamtbild zusammenführen. Die ideale Geliebte ist zweifellos eine zentrale Projektionsfigur: Sie steht für Mias Sehnsucht nach Nähe, Orientierung und moralischer Reinheit. Ihre dialogische Präsenz ermöglicht Mia, sich zu reflektieren und in Auseinandersetzung mit sich selbst zu überleben. Damit besitzt sie eine klare Helferfunktion, indem sie Mia „durch merkbare Unterstützung, ideenreiche Ironie und Wärme“ (M6) aus Verzweiflung und Trauer zu einer kämpferischen Haltung führt.
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Gleichzeitig darf man ihre Grenzen nicht übersehen. Ihre zunehmende Passivität und ihr Verschwinden im letzten Romandrittel zeigen, dass sie keine dauerhafte Rettung bietet. Am Ende wird sie selbst Teil von Mias innerer Spaltung – ein Spiegel ihrer Hoffnung, aber kein tatsächlicher Befreiungsfaktor.
Schluss
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Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die ideale Geliebte in Corpus Delicti eine vielschichtige Funktion erfüllt. Sie ist emotionale Stütze, moralische Instanz, Bindeglied zu Moritz und kommunikative Begleiterin – und damit in den ersten zwei Dritteln des Romans eine zentrale Kraft, die Mia hilft, ihre Zerrissenheit zeitweise zu ordnen und Widerstandskraft zu entwickeln.
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Zugleich aber entzieht sich die Figur einer eindeutigen Zuordnung: Als Phantom oder ästhetisches Konstrukt bleibt sie schillernd zwischen realer und eingebildeter Existenz. Ihr Verschwinden am Ende verweist darauf, dass die Überwindung von Zerrissenheit letztlich nicht durch imaginierte Helferfiguren gelingt, sondern durch Mias eigene bewusste Entscheidung für Menschlichkeit und Freiheit.
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Insofern steht die ideale Geliebte symbolisch für den inneren Dialog der Menschlichkeit im Angesicht totalitärer Systeme – ein Ideal, das Mias Denken lenkt, aber ihr Handeln am Ende nicht mehr ersetzen kann.