Lerninhalte in Deutsch
Inhaltsverzeichnis

Aufgabenstellung D

Materialgestütztes Verfassen argumentierender Texte

Thema:

Juli Zeh: Corpus Delicti

Aufgabenstellung:

  • An deiner Schule werden im Rahmen eines fächerübergreifenden Projekts (Kunst, Psychologie, Deutsch) zu fantastischen Begleitern im Lebensalltag die Deutsch-Leistungskurse gebeten, Beiträge zeitgenössischer literarischer Werke zu diesem Thema zu untersuchen.

  • Verfasse einen argumentierenden Beitrag, in dem du Stellung zur Bedeutung der „idealen Geliebten“ in Juli Zehs Corpus Delicti nehmen.

  • Beantworte dabei die Frage, ob bzw. inwiefern die Figur der idealen Geliebten der Protagonistin Mia hilft, ihre innere Zerrissenheit zu überwinden.

  • Nutze dazu die folgenden Materialien (1-6) sowie dein im Unterricht erworbenes Wissen.

  • Wähle eine geeignete Überschrift.

  • Zitate aus den Materialien werden ohne Zeilenangabe unter Nennung der Autorinnen und Autoren und ggf. des Titels angeführt.

  • Der Beitrag sollte ca. 1000 Wörter umfassen.

Material 1

Phantastische Wesen. Begleiter im Geiste (2012)

Hubertus Breuer

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[…]
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Phantastische Wesen bevölkern seit jeher als Kobolde, Geister und Engel das kollektive
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Bewusstsein der Menschheit. Sie manifestieren sich in Fabeln, Kinderbüchern ebenso wie in
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phantastischen Filmen. Aber eben nicht nur dort.
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Auch im Kopf von Kindern, Jugendlichen und manchmal sogar Erwachsenen können erdachte
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Wesen zu erstaunlicher Realität heranreifen. Die irrsten Figuren, geboren aus nichts anderem
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als dem eigenen Geist sind für viele, meist junge Menschen ein enger Begleiter im Alltag.
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„Imaginäre Gefährten“ nennt die Psychologie jene Phantasiegestalten, die sich dadurch
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auszeichnen, dass ein Mensch sie so beschreibt, ja sogar mit ihnen lebt, als würden sie
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wahrhaft existieren. Dabei sind sie für andere Personen alles andere als real.
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Diese Phantasiefiguren sind keineswegs Zeichen eines kranken Geistes. Sie sind gerade bei
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Kindern Ausdruck einer lebendigen Einbildungskraft, die ihnen hilft, ihren Platz in der Welt zu
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finden. […] Auch bei Jugendlichen kommen imaginäre Charaktere vor. Diese spielen aber eine
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andere Rolle als bei Kindern. Während die Kleinen vor allem Spielkameraden für gemeinsame
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Aktivitäten suchen, ist es für Jugendliche wichtig, einen Ansprechpartner zu haben, dem sie
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sich anvertrauen können - ein zentrales Merkmal von Freundschaften während der
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Adoleszenz. Der imaginäre Gefährte hilft ihnen, das sich entwickelnde Verhältnis von Selbst,
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Welt und sozialem Umfeld auszubalancieren.

Anmerkungen zum Autor: Hubertus Breuer (geb. o. A.) ist studierter Germanist, Philosoph und Wissenschaftsjournalist.

Aus: Breuer, Hubertus: Phantastische Wesen. Begleiter im Geiste (2012) (Zugriff: 22.11.2022)

Material 2

„Die ideale Geliebte“ – Utopische Erzählformen im Spiegel neuer Dystopien (2015)

Anja Gerigk

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[…] die „ideale Geliebte“. So lautet der Name einer erfundenen, fiktiven Figur; trotzdem
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übernimmt sie eine Rolle für die Handlung und besitzt zudem größeres ästhetisches Potenzial.
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In der Hauptsache von der Protagonistin Mia Holl wahrgenommen, geht die außergewöhnliche
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Gestalt ursprünglich auf deren Bruder Moritz zurück. Der Systemgegner Holl hinterlässt seiner
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Schwester das „weibliche[ ] Hirngespinst“ (Zeh 2009:46). […] Der Schlüssel [ihrer Deutung]
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liegt sowohl im Namen der Figur als auch im Prinzip ihres Denkens, Redens und Handelns.
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Die Tatsache, dass die perfekte Gefährtin in Form eines möglichen Kunstwerks eingeführt
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wird, erlaubt etymologisch die Anspielung auf das ‚Gemachte‘, somit auf die Wortherkunft der
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Fiktion. Diese Grundbedingung steht im Zusammenhang mit dem festen Attribut, in dem sich
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das Phantasma des Querdenkers Moritz Holl ausdrückt: ‚ideal‘, das Kennwort der utopischen
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Literatur. „Was dich von innen vergiftet, ist die faule Stelle in der Mitte des Systems.“ (Zeh
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2009: 81). Der Satz ihrer unwirklichen Gesprächspartnerin bringt Holls inneren Konflikt zum
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Ausdruck, er verdichtet die sozialdiagnostische Botschaft des Romans: Mias persönlicher
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„Riss“, so begründet es die ideale Geliebte, entstand „an dem Tag, als dieses Land auf die
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Idee kam, sich den Luxus von individuellen Krankheitsgeschichten nicht mehr leisten zu
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können“ (ebd.: 81). Auf [der] Erzählebene folgt daraus, dass die ideale Geliebte zum
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ausführenden Organ der dystopischen Gegenwartskritik wird, indem sie „die faule Stelle in der
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Mitte des Systems“ beim Namen nennt.

Anmerkungen zur Autorin: Anja Gerigk (geb. o. A.) ist Literaturwissenschaftlerin und Rezensentin.

Aus: Gerigk, Anja: „Die ideale Geliebte“ – Utopische Erzählformen im Spiegel neuer Dystopien (Zeh, Dath, Kracht). In: Studien zur deutschen Sprache und Literatur (2015), S. 5 f. (Zugriff: 22.11.2022)

Material 3

Die Gesundheitsdiktatur. Rezension der Theaterfassung von Juli Zehs Corpus Delicti in der Münchner Schauburg (2020)

Donaukurier

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[…] Eine unbeugsame Kämpferin für die individuelle Freiheit und Selbstbestimmung ist diese
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Mia, überlegt unangepasst, die sich trotz aller Drohungen, Schikanen und Repressalien nicht
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unterkriegen lassen will. Rhetorisch brillant und stark in der Argumentation vertritt sie
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überzeugend und mit der Power einer von ihrer Mission restlos überzeugten jungen Frau ihre
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Meinung und fordert hartnäckig die freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit und all ihrer
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Mitmenschen. [...] Ihr zur Seite „Die ideale Geliebte“, die Mia in ihrer Trauer um ihren Bruder
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auffängt und sie im Kampf gegen den staatlichen Terror mit Empathie unterstützt: Wahrlich
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die beste Freundin. [...]

Aus: Unbekannte Autorschaft. Die Rezension bezieht sich auf eine Inszenierung der Bühnenfassung von Juli Zehs Corpus Delicti an der Schauburg München unter der Regie von Ulrike Günther, die am 10.01.2020 Premiere feierte.

Material 4

Corpus Delicti. (2009)

Juli Zeh

Die ideale Geliebte (S. 25 f.)

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„Weil das Leben so sinnlos ist“, sagt Mia, „und man es trotzdem irgendwie aushalten muss,
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bekomme ich manchmal Lust, Kupferrohre beliebig miteinander zu verschweißen. Bis sie
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vielleicht einem Kranich ähneln. Oder einfach nur ineinandergewickelt sind wie ein Nest aus
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Würmern. Dann würde ich das Gebilde auf einem Sockel montieren und ihm einen Namen
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geben: Fliegende Bauten, oder auch: die ideale Geliebte.“
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Während Mia mit dem Rücken zum Zimmer am Schreibtisch sitzt, vor sich ein paar Zettel, auf
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denen sie gelegentlich etwas notiert, liegt die ideale Geliebte auf der Couch, gekleidet in ihr
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eigenes Haar und das Licht der Nachmittagssonne. Durch keine Regung verrät die Schöne,
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ob sie versteht, was Mia spricht. Wir könnten uns fragen, ob sie Mia überhaupt wahrnimmt.
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Oder ob sie vielmehr in einer anderen Dimension existiert und dort ins Leere schaut, indes
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sich Mia bloß zufällig vor ihren Augen befindet, an einem Kreuzungspunkt zwischen den
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Welten. Der Blick der idealen Geliebten gleicht dem Starren eines Wassertiers, das keine
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Augenlider besitzt.
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„Nur, damit etwas bleibt“, sagt Mia. „Um etwas Zweckloses zu schaffen. Alles, was einen
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Zweck hat, erfüllt ihn eines Tages und ist damit verbraucht. Selbst Gott besaß den Zweck, die
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Menschen zu trösten und siehe da: mit seiner Ewigkeit war es nicht allzu weit her. Verstehst
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du?“
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In der Wohnung herrscht Chaos. Es sieht aus, als hätte hier seit Wochen niemand aufgeräumt,
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gelüftet oder geputzt.
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„Natürlich verstehst du das. Es ist von Moritz. Er sagte: Wer Ewigkeit will, darf nicht einmal
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den Zweck des eigenen Überlebens verfolgen.“
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Weil die ideale Geliebte nicht reagiert, dreht sich Mia mit dem Stuhl herum.
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»Wenn er mich ärgern wollte, sagte er, ich hätte Künstlerin werden sollen. Seiner Meinung
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nach hat mich das naturwissenschaftliche Denken verdorben. Wie, fragte er, soll man einen
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Gegenstand oder gar ein geliebtes Wesen betrachten, wenn man ständig daran denken muss,
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dass nicht nur das Betrachtete, sondern auch man selbst nur ein Teil des gigantischen
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Atomwirbels ist, aus dem alles besteht? Wie soll man es ertragen, dass sich das Gehirn, unser
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einziges Instrument des Sehens und Verstehens, aus den gleichen Bausteinen
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zusammensetzt wie das Gesehene und Verstandene? Was, rief Moritz dann, soll das sein:
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Materie, die sich selbst anglotzt?«
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Die ideale Geliebte hat mit Materie wenig gemeinsam. Vielleicht tut es Mia deshalb gut, mit ihr
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zu sprechen.

Die Zaunreiterin (S. 144 f.)

1
[…]
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„Wer keine Seite wählt“, sagt die ideale Geliebte, „ist ein Außenseiter. Und Außenseiter leben
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gefährlich. Von Zeit zu Zeit braucht die Macht ein Exempel, um ihre Stärke unter Beweis zu
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stellen. Besonders, wenn im Inneren der Glaube wackelt. Außenseiter eignen sich, weil sie
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nicht wissen, was sie wollen. Sie sind Fallobst.“
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„Ich bin doch keine Außenseiterin“, sagt Mia schwach.
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„Tief in deinem Herzen bist du der Meinung, dass der Umgang mit anderen Menschen
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Zeitverschwendung ist. Mit wenigen Ausnahmen, von denen die eine Hälfte tot und die andere
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dein Todfeind ist. Das reicht fürs Außenseitertum.“
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Während die äußere Mia störrisch tut, als verstünde sie nicht, worauf die ideale Geliebte
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hinauswill, ist die innere Mia mit der traurigen Aufgabe beschäftigt, ihr in allen Punkten recht
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zu geben. […]

Keine verstiegenen Ideologien (S. 38 f.)

1
[…]
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„Und auf was will der Herr Kramer sich berufen?“, fragt die ideale Geliebte. „Auf eine rationale
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Objektivität, an die er selbst nicht glaubt? Und sie nicht an ihn?“
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„Na ja“, sagt Mia. „Das Gefühl ist jedenfalls ein schlechter Berater. Es besitzt per definitionem
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keine Allgemeingültigkeit.“
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„Und der Verstand ist eine Illusion“, erwidert die ideale Geliebte schnell. „Nichts weiter als ein
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Kostüm, in das der Mensch die Summe seiner Gefühle steckt.“
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„Du sprichst in romantischen Anachronismen!“, ruft Mia.
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„Und du in jenen intellektuellen Sophistereien, an denen Moritz zugrunde gegangen ist!“
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„Frau Holl!“ Kramer winkt mit einer wohlgeformten Hand, als vertreibe er Nebelschwaden.
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„Hören Sie auf, mit sich selbst zu reden. Sie haben einen Menschen verloren. Nicht aber Ihre
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Überzeugung.“
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„Eine Überzeugung, die Moritz zeit seines Lebens verachtet hat“, sagt die ideale Geliebte. Mia
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wirft ihr einen warnenden Blick zu und steht auf, um ans Fenster zu treten. […]

Aus: Zeh, Juli: Corpus Delicti. Ein Prozess. München 2009, S. 25 f.

Material 5

Szenenfoto aus Corpus Delicti (2018)

Björn Hickmann

Zwei Frauen auf Bühne, eine im Tanktop, eine im roten Barockkleid, beide mit ausgestreckten Armen

Szenenfoto aus der Inszenierung von Corpus Delicti am Rheinischen Landestheater Neuss. Dargestellt ist die „ideale Geliebte“ hinter Mia Holl.

Aus: Hickmann, Björn: Corpus Delicti. In: Ortmann, P.: Zweifel an der Zukunft. Corpus Delicti in Neuß (2016) (Zugriff: 28.12.2022)

Material 6

Fragen zu Corpus Delicti (2020)

Juli Zeh

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Die merkwürdigste Figur in Corpus Delicti ist die ideale Geliebte. Eine nackte Frau, die
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auf Mias Couch sitzt und für alle außer Mia unsichtbar ist. Was hat es denn damit auf
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sich?
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Viele Leser wundern sich über die ideale Geliebte, was ich gut verstehen kann. Als eine Art
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Hirngespinst oder Halluzination passt sie eigentlich gar nicht in die Corpus-Delicti-Welt und
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schon gar nicht zu Mia, die immer so rational und bodenständig sein will. Wahrscheinlich ist
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die ideale Geliebte genau deshalb in den Text hineingeraten – als irrationales Element, das
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das Bedürfnis der Menschen nach Träumen und Phantasien hochhält, während außen herum
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alles berechnet wird.
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[…] Sie ist mir einfach eines Tages eingefallen: eine Art weiblicher Geist, unsichtbar für alle
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bis auf eine Person, auf deren Couch sie sitzt. Die ideale Geliebte verlässt dieses Sofa
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niemals. Sie ist immer da, steht immer zur Verfügung. Man kann sich bei ihr Liebe und
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Zuspruch abholen, und sie gehört einem ganz allein. Ich habe mir die ideale Geliebte immer
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üppig, nackt und rothaarig vorgestellt, ein bisschen wie eine Jugendstilfigur von Gustav Klimt.
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Oder wie eine bezaubernde Hexe.

Juli Zeh veröffentlichte im Nachgang zahlreicher Interviews und Fragen an sie ein fiktives Interview mit sich selbst, in dem sie diese Fragen aufgreift und beantwortet.

Aus: Zeh, Juli: Fragen zu Corpus Delicti. München 2020, S. 66.

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