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Inhaltsverzeichnis

Aufgabe 2

Thema

Elisabeth Steinkellner (* 1981): Zugvögel

Aufgabenstellung

Interpretiere die Kurzgeschichte.

Material

Zugvögel

Elisabeth Steinkellner

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„Zuckerwatte“, sagst du „riechst du das?“
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Ich schnuppere. Nicke.
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„Kommt von dort“, erklärst du und zeigst auf einen Baum.
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„Zuckerwattenbaum heißt der.“
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Ich grinse.
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„Ja, wirklich, kein Spaß“, bekräftigst du und grinst auch. „Als du klein warst, hast du dieses
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klebrige Zeug geliebt, weißt du noch?“
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Ich schüttle den Kopf.
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Wir gehen an dem kleinen Teich vorbei. „Stockenten“, erklärst du.
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„Wann fliegen die eigentlich in den Süden?“, frage ich.
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Du lachst. „Gar nicht. Die bleiben.“
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Ich verstehe nicht, warum du das lustig findest, aber egal.
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Bereits zum dritten Mal kommen wir am Klettergerüst vorbei, der Park ist nicht besonders groß,
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in einer Stunde kann man ihn mindestens fünf Mal umrunden. Eine Stunde hast du Zeit für
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mich, heute ausnahmsweise, obwohl gar nicht Wochenende ist. Zwischen zwei Besprechungen
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hast du mich eingeschoben.
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„Was macht die Schule?“, willst du wissen.
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Ich zucke mit den Schultern. „Alles okay.“
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„Und zuhause?“
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„Auch“, antworte ich knapp.
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Dann nehme ich all meinen Mut zusammen, und bevor ich es mir wieder anders überlegen kann,
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frage ich schnell: „Können wir uns nicht öfter sehen? Vielleicht jedes Wochenende statt nur
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einmal im Monat.“
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Kurz verlangsamst du den Gang. „Das ist leider nicht möglich“, sagst du dann, ohne mich
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anzusehen, und gehst wieder festen Schrittes weiter.
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„Warum nicht?“
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Du streichst dir die Krawatte glatt, die ohnehin faltenfrei über deine Brust hängt. „Weil“,
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beginnst du und brichst wieder ab.
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Schließlich bleibst du stehen, wendest dich mir zu und legst mir eine Hand auf die Schulter.
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„Weil ich wegziehe.“
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Mein Mund ist plötzlich ganz trocken. „Wohin?“
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„Ziemlich weit weg“, murmelst du, lässt die Hand von meiner Schulter rutschen und weißt
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nicht, wo du hinschauen sollst.
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Ich grabe meine Fäuste in die Hosentaschen und bemühe mich, die Tränen zurückzuhalten.
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„Aber vielleicht in den Ferien...“, fügst du eilig hinzu. „Du kannst mich jederzeit besuchen.
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Dort, wo ich wohnen werde, ist es das ganze Jahr über warm.“ Du versuchst ein Lächeln, es
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soll wohl aufmunternd wirken, tut es aber nicht.
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Ich sehe zu Boden und schlucke. Dann drehe ich mich einfach um und stapfe Richtung
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Ausgang.
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Du hinter mir her. „Du kannst mit dem Flugzeug kommen. In den Süden fliegen, so wie die
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Enten“, rufst du und lachst.
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Ich beschleunige meine Schritte, sehe mich nicht um nach dir.
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Die Enten fliegen gar nicht in den Süden, denke ich und beginne zu laufen. Die bleiben hier.

Aus: Steinkellner, Elisabeth: Zugvögel. In: die Nacht der Falter und ich. Tyrolia-Verlag, Innsbruck 2016, S. 28.

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