Aufgabe 3
Thema
Michael Ende (* 1929 – † 1995): Die Traumfischer
Aufgabenstellung
Interpretiere das Gedicht.
Material
Die Traumfischer
Michael Ende
Denk dir: Auf riesenhaften dunklen Schiffen
segeln sie auf das Meer des Schlafs hinaus
bis zu den heimlichen Korallenriffen,
dort werfen sie die langen Netze aus.
Sehr ernste stille Leute sind die Fischer.
Ihr Kapitän ist alt – viel älter noch,
als du dir denken kannst und wunderlicher,
auch ist er blind – und jeder folgt ihm doch!
Er kennt des Schlaf-Meers träumereichste Plätze.
Die Fischer warten, bis er ruft: „Holt ein!“
Dann ziehen sie an Bord die schweren Netze,
gefüllt mit tausend Träumen, groß und klein.
Da blinkt’s und zappelt’s bunt und vielgestaltig,
auch manches Gräuliche erspäht der Blick.
Gleichmütig lädt die Mannschaft und gewaltig,
nur was zu klein ist, werfen sie zurück.
Die voll beladenen Schiffe endlich laufen
im Hafen ein mit Segeln weiß und schön,
auf einem Markt den Fang nun zu verkaufen.
Dort hab ich alle Träume heut gesehn.
Den allerschönsten – sei er dir gedeihlich! –
hab ich für dich, mein Liebling, mitgebracht.
Hier, nimm! Du kannst ihn jetzt nicht sehen, freilich,
doch warte nur erst, wenn du schläfst heut Nacht!
Aus: Ende, Michael: Die Traumfischer. In: Ende, Michael: Trödelmarkt der Träume. Mitternachtslieder und leise Balladen. Weitbrecht Verlag, Stuttgart-Wien 1986, S. 93.
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In dem Gedicht Die Traumfischer von Michael Ende wird auf fantasievolle Weise erklärt, woher Träume kommen.
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Das lyrische Ich entwirft ein Bild von geheimnisvollen Fischern, die in der Nacht auf einem „Meer des Schlafs“ unterwegs sind und Träume wie Fische aus der Tiefe holen.
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Die Stimmung des Gedichts wirkt insgesamt mystisch, verträumt und sehr fantasievoll, sodass man sich gut in eine kindliche Gedankenreise hineinversetzen kann.
Hauptteil
Inhaltliche Analyse
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Das Gedicht beginnt mit der Aufforderung „Denk dir:“, wodurch das lyrische Ich den Leser oder Zuhörer direkt in eine Vorstellung oder Tagtraumreise hineinführt. Es beschreibt „riesenhafte dunkle Schiffe“, die auf das „Meer des Schlafs“ hinausfahren. Dort segeln sie bis zu „heimlichen Korallenriffen“, wo sie ihre langen Netze auswerfen. Die erste Strophe zeichnet also die Grundsituation: In der Nacht fahren geheimnisvolle Schiffe auf einem symbolischen Meer, das den Schlaf darstellt. Die Träume werden damit wie Wesen aus einer verborgenen Unterwasserwelt dargestellt, die von diesen Schiffen erst eingefangen werden müssen. Die Herkunft der Träume wird so bildhaft und geheimnisvoll erklärt.
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In der zweiten Strophe beschreibt das lyrische Ich genauer, wer auf diesen Schiffen arbeitet: „Sehr ernste stille Leute sind die Fischer.“ Ihr Kapitän ist „alt – viel älter noch, als du dir denken kannst“ und „wunderlicher“, außerdem „blind“, und doch folgt ihm „jeder“. Hier wird eine mystische, fast märchenhafte Figur gezeichnet. Der Kapitän wirkt übermenschlich alt und weise, geradezu rätselhaft. Seine Blindheit unterstreicht, dass er sich nicht auf äußeres Sehen, sondern auf eine innere, geheime Kenntnis der Traumwelt stützt. Die Fischer selbst erscheinen schweigsam, ernst und pflichtbewusst. Diese Strophe vertieft so den mythischen Charakter der Traumfischer.
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Die dritte Strophe zeigt, wie der Kapitän und die Fischer zusammenarbeiten: Er kennt die „träumerischen Plätze“ des Schlafmeers, die Fischer warten geduldig, bis er den Befehl „Holt ein!“ gibt. Erst auf dieses Kommando hin ziehen sie „die schweren Netze“ an Bord, die „gefüllt mit tausend Träumen, groß und klein“ sind. Hier wird deutlich, dass der Kapitän die entscheidende Rolle spielt. Er allein kennt die Orte, an denen Träume zu finden sind. Die Fischer führen seine Anweisungen aus und holen die Träume ans Licht. Inhaltlich wird hier das eigentliche Fischen der Träume beschrieben – eine poetische Antwort darauf, wie Träume in die Nähe der Menschen gelangen.
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In der vierten Strophe werden die gerade gefangenen Träume näher geschildert. Aus den Netzen „blinkt’s und zappelt’s bunt und vielgestaltig“, gleichzeitig „erspäht der Blick“ „auch manches Gräuliche“. Die Mannschaft arbeitet gleichmütig, lädt alles „gewaltig“ auf, nur was „zu klein ist“, wird wieder zurückgeworfen. Die Träume werden also als äußerst vielfältig dargestellt: Es gibt schöne, bunte, aufregende Vorstellungen, aber auch unheimliche oder beängstigende („Gräuliche“) Träume. Die Fischer unterscheiden nur nach ihrer Größe, nicht nach ihrem Inhalt. Das deutet darauf hin, dass der Träumende sowohl schöne als auch erschreckende Träume erleben kann. Die Mannschaft bleibt dabei sachlich und routiniert, was die Selbstverständlichkeit des Träumens hervorhebt.
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Die fünfte Strophe verlegt das Geschehen vom Meer in den Hafen: Die „voll beladenen Schiffe“ laufen „mit Segeln weiß und schön“ ein, und auf einem Markt wird der Fang verkauft. Das lyrische Ich berichtet: „Dort hab ich alle Träume heut gesehn.“ Der Fang – also die Träume – wird wie eine Ware präsentiert, die man betrachten und auswählen kann. In dieser Vorstellung ist der Markt ein symbolischer Ort, an dem alle möglichen Träume bereitliegen, bevor sie sich nachts in den Köpfen der Menschen abspielen. Das lyrische Ich tritt hier als Beobachter auf, der die Vielfalt der Träume gesehen hat und nun eine besondere Auswahl treffen kann.
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In der letzten Strophe wendet sich das lyrische Ich ganz direkt an eine einzelne Person, „mein Liebling“, also vermutlich ein Kind oder einen nahestehenden Menschen. Es erklärt, dass es den „allerschönsten“ Traum für dieses Kind mitgebracht habe. Der Traum könne zwar im Wachzustand noch nicht gesehen werden, werde aber erscheinen, „wenn du schläfst heut Nacht“. Die abschließende Ansprache macht deutlich, dass es hier um ein liebevolles Versprechen geht. Jemand sorgt dafür, dass der Angesprochene in der Nacht besonders schöne Träume haben wird. Zugleich wird die gedankliche Reise vom märchenhaften Geschehen auf dem Meer zurück in die konkrete Situation des Einschlafens geführt.
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Insgesamt schlägt das Gedicht damit eine Brücke zwischen einer fantastischen Erklärung der Traumherkunft und der ganz persönlichen Erfahrung eines einzelnen Träumers.
Formale Analyse
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Das Gedicht ist klar in sechs Strophen zu je vier Versen gegliedert. Diese regelmäßige Strophenform erzeugt eine übersichtliche Struktur und unterstützt den Eindruck eines erzählenden Gedichts, fast wie eine kleine Ballade. In vielen Strophen findet sich ein Kreuzreim (abab), der für eine fließende, leicht eingängige Klangstruktur sorgt. Teilweise handelt es sich um unreine Reime (z. B. „Schiffen“ – „Riffen“), die nicht ganz lautgleich sind, aber dennoch einen Reimeindruck erzeugen und so den musikalischen Charakter des Gedichts unterstützen.
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Das Versmaß ist insgesamt unregelmäßig, allerdings überwiegt ein jambischer Rhythmus, bei dem sich unbetonte und betonte Silben abwechseln. Dieser überwiegend jambische Takt verleiht dem Gedicht einen schwingenden, erzählenden Ton, der gut zur Vorstellung vom Dahingleiten der Schiffe auf dem Meer des Schlafs passt. Die leichte Unregelmäßigkeit spiegelt zugleich die Freiheit und Unberechenbarkeit von Träumen wider.
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Michael Ende verwendet außerdem zahlreiche Stilmittel, um die Traumwelt besonders anschaulich und lebendig zu gestalten.
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Metaphern prägen das gesamte Gedicht: Das „Meer des Schlafs“ ist ein Bild für die Nacht und die Bewusstlosigkeit, „heimliche Korallenriffe“ stehen für verborgene Tiefen der Fantasie, die „Träume“ werden wie Fische behandelt, die man fangen und auf einem Markt anbieten kann. Diese Bilder erklären Träume, ohne sie rational zu analysieren; sie setzen stattdessen auf fantasievolle Umdeutung der Wirklichkeit.
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Ausdrucksstarke Verben wie „segeln“, „werfen“, „zappelt’s“, „erspäht“, „lädt“, „laufen“, „verkaufen“ geben dem Gedicht Bewegung und Dynamik. Man kann sich die Handlungen der Traumfischer plastisch vorstellen.
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Anschauliche Adjektive und Superlative verstärken die Bildhaftigkeit: Die Schiffe sind „riesenhafte dunkle“, die Korallenriffe „heimlich“, die Fischer „ernste stille Leute“, der Kapitän „wunderlicher“ und „blind“. Besonders auffällig ist das Wort „allerschönsten“ in der letzten Strophe, das die Einzigartigkeit des ausgewählten Traums unterstreicht.
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Enjambements (Zeilensprünge) lassen Sätze über das Versende hinaus weiterlaufen, wodurch ein flüssiger Leserythmus entsteht und einzelne Wörter hervorgehoben werden. So wird etwa die Bewegung der Schiffe oder das Einholen der Netze sprachlich nachgeahmt.
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Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die direkte Ansprache des Lesers bzw. Zuhörers. Bereits der erste Vers „Denk dir:“ fordert aktiv dazu auf, sich die Szene vorzustellen, und auch in der letzten Strophe wird mit Personalpronomen („du“, „mein Liebling“) und Imperativen („Hier, nimm!“, „warte nur“) gearbeitet. Dadurch entsteht eine unmittelbare Nähe zwischen dem lyrischen Ich und dem Adressaten, und das Gedicht wirkt, als erzähle ein Erwachsener einem Kind eine Geschichte zum Einschlafen. Diese direkte Zuwendung trägt maßgeblich zur verträumten, aber zugleich tröstlichen Grundstimmung bei: Die Fantasie erklärt die Welt und der Träumer darf sich geborgen fühlen.
Schluss
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Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Michael Ende in Die Traumfischer eine poetische Erklärung der Herkunft von Träumen entwirft. Durch die Darstellung geheimnisvoller Fischer, eines blinden, uralten Kapitäns und eines mythischen Schlafmeers entsteht eine märchenhafte Welt, in der Träume wie kostbare Fische gefangen und an einen einzelnen Menschen verschenkt werden. Die Thematik des Gedichts, Träume, Fantasie und Geborgenheit, wird durch die Form mit ihren sechs Strophen, den Kreuzreimen, die bildhaften Metaphern und die direkte Leseransprache wirkungsvoll getragen.
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Der Rückbezug zum Titel zeigt: Die Traumfischer sind nicht nur eine Erfindung, sie stehen zugleich für die menschliche Vorstellungskraft, die aus Alltagserfahrungen wunderbare Traumwelten erschaffen kann. Persönlich kann man das Gedicht als Einladung verstehen, Träume nicht nur als zufällige Bilder im Schlaf zu betrachten, sondern als etwas Wertvolles, das wie ein Geschenk an uns herangetragen wird. So macht der Text deutlich, wie sehr Träume unser Inneres bereichern können – besonders dann, wenn jemand sie uns liebevoll „mitbringt“, wie es das lyrische Ich für seinen „Liebling“ tut.