Vorschlag B
Interpretation eines literarischen Textes
Thema: Mysteriöse Begegnungen Johann Wolfgang von Goethe (* 1749 - † 1832): Faust I (1808) Adelbert von Chamisso (* 1781 - † 1838): Peter Schlemihls wundersame Geschichte (1813/14) Aufgabenstellung:- Interpretiere den Auszug aus Adelbert von Chamissos Kunstmärchen Peter Schlemihls wundersame Geschichte auch unter Berücksichtigung epochentypischer Merkmale der Romantik. (Material)
- Vergleiche das Verhältnis von Peter Schlemihl und dem Mann im grauen Rock (Material) mit dem Verhältnis von Faust und Mephistopheles in Johann Wolfgang von Goethes Drama Faust I.
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[…] Man hatte sich gern auf den Rasen, am Abhange des Hügels, der ausgespannten Landschaft ge-
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genüber gelagert, hätte man die Feuchtigkeit der Erde nicht gescheut. Es wäre göttlich, meinte wer aus
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der Gesellschaft, wenn man türkische Teppiche hätte, sie hier auszubreiten. Der Wunsch war nicht so-
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bald ausgesprochen, als schon der Mann im grauen Rock die Hand in der Tasche hatte und mit be-
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scheidener, ja demütiger Gebärde einen reichen, golddurchwirkten türkischen Teppich daraus zu zie-
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hen bemüht war. Bediente nahmen ihn in Empfang, als müsse es so sein, und entfalteten ihn am be-
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gehrten Orte. Die Gesellschaft nahm ohne Umstände Platz darauf; ich wiederum sah betroffen den
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Mann, die Tasche, den Teppich an, der über zwanzig Schritte in der Länge und zehn in der Breite maß,
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und rieb mir die Augen, nicht wissend, was ich dazu denken sollte, besonders da niemand etwas Merk-
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würdiges darin fand.
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Ich hätte gern Aufschluß über den Mann gehabt und gefragt, wer er sei, nur wußt’ ich nicht, an wen
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ich mich richten sollte, denn ich fürchtete mich fast noch mehr vor den Herren Bedienten, als vor den
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bedienten Herren. Ich faßte endlich ein Herz und trat an einen jungen Mann heran, der mir von minde-
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rem Ansehen schien, als die andern, und der öfter allein gestanden hatte. Ich bat ihn leise, mir zu sa-
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gen, wer der gefällige Mann sei dort im grauen Kleide. – „Dieser, der wie ein Ende Zwirn aussieht,
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der einem Schneider aus der Nadel entlaufen ist?“ – „Ja, der allein steht.“ – „Den kenn’ ich nicht,“ gab
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er mir zur Antwort […].
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Mir war schon lange unheimlich, ja graulich zumute, wie ward mir vollends, als beim nächst ausge-
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sprochenen Wunsch ich ihn noch aus seiner Tasche drei Reitpferde, ich sage dir, drei schöne, große
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Rappen mit Sattel und Zeug herausziehen sah! – denke dir, um Gottes willen! drei gesattelte Pferde
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noch aus derselben Tasche, woraus schon eine Brieftasche, ein Fernrohr, ein gewirkter Teppich, zwan-
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zig Schritte lang und zehn breit, ein Lustzelt von derselben Größe, und alle dazu gehörigen Stangen
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und Eisen herausgekommen waren! – Wenn ich dir nicht beteuerte, es selbst mit eigenen Augen ange-
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sehen zu haben, würdest du es gewiss nicht glauben. –
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So verlegen und demütig der Mann selbst zu sein schien, so wenig Aufmerksamkeit ihm auch die an-
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dern schenkten, so ward mir doch seine blasse Erscheinung, von der ich kein Auge abwenden konnte,
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so schauerlich, daß ich sie nicht länger ertragen konnte.
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Ich beschloß, mich aus der Gesellschaft zu stehlen, was bei der unbedeutenden Rolle, die ich darinnen
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spielte, mir ein leichtes schien. […]
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Ich hatte mich schon wirklich durch den Rosenhain, den Hügel hinab, glücklich geschlichen und be-
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fand mich auf einem freien Rasenplatz, als ich aus Furcht, außer den Wegen durchs Gras gehend ange-
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troffen zu werden, einen forschenden Blick um mich warf. – Wie erschrak ich, als ich den Mann im
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grauen Rock hinter mir her und auf mich zukommen sah. Er nahm sogleich den Hut vor mir ab und
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verneigte sich so tief, als noch niemand vor mir getan hatte. Es war kein Zweifel, er wollte mich anre-
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den, und ich konnte, ohne grob zu sein, es nicht vermeiden. Ich nahm den Hut auch ab, verneigte mich
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wieder und stand da in der Sonne mit bloßem Haupt wie angewurzelt. Ich sah ihn voller Furcht stier
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an, und war wie ein Vogel, den eine Schlange gebannt hat. Er selber schien sehr verlegen zu sein; er
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hob den Blick nicht auf, verbeugte sich zu verschiedenen Malen, trat näher und redete mich an mit lei-
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ser, unsicherer Stimme, ungefähr im Tone eines Bettelnden.
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„Möge der Herr meine Zudringlichkeit entschuldigen, wenn ich es wage, ihn so unbekannterweise auf-
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zusuchen, ich habe eine Bitte an ihn. Vergönnen Sie gnädigst –“ – „Aber um Gottes willen, mein
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Herr!“ brach ich in meiner Angst aus, „was kann ich für einen Mann tun, der –“ wir stutzten beide und
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wurden, wie mir deucht’, rot.
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Er nahm nach einem Augenblick des Schweigens wieder das Wort: „Während der kurzen Zeit, wo ich
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das Glück genoß, mich in Ihrer Nähe zu befinden, hab’ ich, mein Herr, einigemal – erlauben Sie, daß
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ich es Ihnen sage – wirklich mit unaussprechlicher Bewunderung den schönen, schönen Schatten be-
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trachten können, den Sie in der Sonne, und gleichsam mit einer gewissen edlen Verachtung, ohne
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selbst darauf zu merken, von sich werfen, den herrlichen Schatten da zu Ihren Füßen. Verzeihen Sie
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mir die freilich kühne Zumutung. Sollten Sie sich wohl nicht abgeneigt finden, mir diesen Ihren Schat-
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ten zu überlassen?“
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Er schwieg, und mir ging’s wie ein Mühlrad im Kopfe herum. Was sollt’ ich aus dem seltsamen An-
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trag machen, mir meinen Schatten abzukaufen? er muß verrückt sein, dacht’ ich, und mit veränderten
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Tönen, der zu der Demut des seinigen besser paßte, erwiderte ich also:
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„Ei, ei! guter Freund, habt Ihr denn nicht an Eurem eigenen Schatten genug? das heißt; ich mir einen
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Handel von einer ganz absonderlichen Sorte.“ Er fiel sogleich wieder ein: „Ich hab’ in meiner Tasche
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manches, was dem Herrn nicht ganz unwert scheinen möchte; für diesen unschätzbaren Schatten halt’
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ich den höchsten Preis zu gering.“
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Nun überfiel es mich wieder kalt, da ich an die Tasche erinnert ward, und ich wußte nicht, wie ich ihn
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hatte guter Freund nennen können. Ich nahm wieder das Wort und suchte es, wo möglich, mit unendli-
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cher Höflichkeit wieder gutzumachen.
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„Aber, mein Herr, verzeihen Sie Ihrem untertänigsten Knecht. Ich verstehe wohl Ihre Meinung nicht
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ganz gut, wie könnt’ ich nur meinen Schatten ––“ Er unterbrach mich: „Ich erbitte mir nur Dero Er-
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laubnis, hier auf der Stelle diesen edlen Schatten aufheben zu dürfen und zu mir zu stecken; wie ich
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das mache, sei meine Sorge. Dagegen, als Beweis meiner Erkenntlichkeit gegen den Herrn, überlasse
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ich ihm die Wahl unter allen Kleinodien, die ich in der Tasche bei mir führe: die echte Springwurzel,
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die Alraunwurzel, Wechselpfennige, Raubtaler, das Tellertuch von Rolands Knappen, ein Galgen-
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männlein’ zu beliebigem Preis; doch, das wird wohl nichts für Sie sein: besser, Fortunati Wünschhüt-
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lein, neu und haltbar wieder restauriert; auch ein Glückssäckel, wie der seine gewesen.“ – „Fortunati
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Glückssäckel!“, fiel ich ihm in die Rede, und wie groß meine Angst auch war, hatte er mit dem einen
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Wort meinen ganzen Sinn gefangen. Ich bekam einen Schwindel und es flimmerte mir wie doppelte
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Dukaten vor den Augen. –
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„Belieben gnädigst der Herr diesen Säckel zu besichtigen und zu erproben.“ Er steckte die Hand in die
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Tasche und zog einen mäßig großen, festgenähten Beutel, von starkem Korduanleder, an zwei tüchti-
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gen ledernen Schnüren heraus und händigte mir selbigen ein. Ich griff hinein und zog zehn Goldstücke
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daraus, und wieder zehn, und wieder zehn, und wieder zehn; ich hielt ihm schnell die Hand hin:
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„Topp! der Handel gilt, für den Beutel haben Sie meinen Schatten.“ Er schlug ein, kniete dann unge-
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säumt vor mir nieder, und mit einer bewundernswürdigen Geschicklichkeit sah ich ihn meinen Schat-
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ten, vom Kopf bis zu meinen Füßen, leise von dem Grase lösen, aufheben, zusammenrollen und falten
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und zuletzt einstecken. Er stand auf, verbeugte sich noch einmal vor mir und zog sich nach dem Ro-
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sengebüsche zurück. Mich dünkt’, ich hörte ihn da leise für sich lachen. […]
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den Schnüren fest, rund um mich her war die Erde sonnenhell, und in mir war noch keine Besinnung.
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Ich kam endlich wieder zu Sinnen und eilte, diesen Ort zu verlassen, wo ich hoffentlich nichts mehr zu
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tun hatte. Ich füllte erst meine Taschen mit Gold, dann band ich mir die Schnüre des Beutels um den
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Hals fest und verbarg ihn selbst auf meiner Brust. Ich kam unbeachtet aus dem Park, erreichte die
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Landstraße und nahm meinen Weg nach der Stadt. Wie ich in Gedanken dem Tore zu ging, hört’ ich
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hinter mir schreien: „Junger Herr! he! junger Herr! hören Sie doch!“ – Ich sah mich um, ein altes
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Weib rief mir nach: „Sehe sich der Herr doch vor, Sie haben Ihren Schatten verloren.“ – „Danke, Müt-
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terchen!“ ich warf ihr ein Goldstück für den wohlgemeinten Rat hin und trat unter die Bäume.
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Am Tore mußt’ ich gleich wieder von der Schildwacht hören: „Wo hat der Herr seinen Schatten ge-
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lassen?“ und gleich wieder darauf von ein paar Frauen: „Jesus Maria! der arme Mensch hat keinen
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Schatten!“ Das fing an mich zu verdrießen, und ich vermied sehr sorgfältig, in die Sonne zu treten.
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Das ging aber nicht überall an, zum Beispiel nicht über die Breitstraße, die ich zunächst durchkreu-
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zen mußte, und zwar, zu meinem Unheil, in eben der Stunde, wo die Knaben aus der Schule gingen.
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Ein verdammter buckliger Schlingel, ich seh’ ihn noch, hatte es gleich weg, daß mir ein Schatten
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fehle. Er verriet mich mit großem Geschrei der sämtlichen literarischen Straßenjugend der Vorstadt,
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welche sofort mich zu rezensieren und mit Kot zu bewerfen anfing. „Ordentliche Leute pflegen ihre
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Schatten mit sich zu nehmen, wenn sie in die Sonne gingen.“ Um sie von mir abzuwehren, warf ich
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Gold zu vollen Händen unter sie und sprang in einen Mietswagen, zu dem mir mitleidige Seelen ver-
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halfen.
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Sobald ich mich in der rollenden Kutsche allein fand, fing ich bitterlich an zu weinen. […]
Anmerkungen:
Adelbert von Chamisso (1781–1838): deutscher Dichter und Naturforscher Aus: Adelbert von Chamisso: Peter Schlemihls wundersame Geschichte, Berlin 16. Aufl. 2023, S. 25–33.
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Einleitung
- Der Auszug stammt aus Adelbert von Chamissos Kunstmärchen Peter Schlemihls wundersame Geschichte, das 1813/14 in der Epoche der Romantik erschien.
- In diesem Werk schildert der Ich-Erzähler Peter Schlemihl rückblickend seine Lebensgeschichte, wobei im hier vorliegenden Abschnitt der Schattentausch mit einem geheimnisvollen Mann im grauen Rock und dessen Konsequenzen im Mittelpunkt stehen.
- Die Erzählung verbindet märchenhafte, fantastische Elemente mit einer tiefen existenziellen Erfahrung von Fremdheit, Verführung, Verlust und Selbstentfremdung.
Hauptteil
Inhaltliche AnalyseDie Handlung gliedert sich in drei zentrale Abschnitte:
- Einführung in die Ausgangssituation: Peter Schlemihl kehrt mittellos von einer Seereise zurück und sucht mit einem Empfehlungsschreiben Zugang zur Gesellschaft eines reichen Kaufmanns (Vgl. Z. 1–3). Auf dem Gartenfest bleibt er jedoch unbeachtet, was seine Außenseiterposition unterstreicht.
- Begegnung mit dem Mann im grauen Rock und Schattenhandel: Der geheimnisvolle Fremde zeigt übernatürliche Fähigkeiten – er zaubert aus seiner Jackentasche einen Teppich und sogar Pferde hervor (Vgl. Z. 4–6, Z. 19–21). Schließlich bietet er Schlemihl einen unerschöpflichen Geldbeutel im Austausch gegen dessen Schatten an (Vgl. Z. 49–50). Schlemihl zögert zunächst (Vgl. Z. 52–54), stimmt dem Tausch jedoch zu, überwältigt von der Aussicht auf Reichtum (Vgl. Z. 76).
- Unmittelbare Konsequenzen des Schattentauschs: Bereits kurz nach dem Handel wird Schlemihl sozial isoliert, verspottet („Jesus Maria! der arme Mensch hat keinen Schatten!“, Z. 90 f.) und verfolgt (Vgl. Z. 94–96). Er reagiert panisch, flieht aus dem Park, versteckt das Gold (Vgl. Z. 83) und bricht schließlich in Tränen aus (Vgl. Z. 100). Der Verlust des Schattens führt damit unmittelbar zur gesellschaftlichen Ausgrenzung und psychischen Überforderung.
- Außenseiterrolle und soziale Fremdheit: Schlemihl wird konsequent als Figur der sozialen Marginalität dargestellt. Schon zu Beginn fühlt er sich fremd, wird ignoriert und zieht sich schließlich zurück („Ich beschloß, mich aus der Gesellschaft zu stehlen“, Z. 28). Seine Unsicherheit, seine Armut und sein fehlender Einfluss kontrastieren mit der wohlhabenden Festgesellschaft.
- Verführung durch das Übernatürliche Der Mann im grauen Rock tritt mit märchenhaftem Auftreten in die Handlung. Die Magie, mit der er Gegenstände hervorzaubert, erzeugt Staunen, aber auch Unbehagen (Vgl. Z. 18). Der Vorschlag, den Schatten zu tauschen, ist moralisch zweifelhaft, wird jedoch in höflicher Sprache und mit übertriebener Freundlichkeit vorgetragen (Vgl. Z. 40–50), was seine manipulative Wirkung verstärkt.
- Schatten als Identität und soziales Zeichen Der Schatten ist nicht nur ein physischer Begleiter, sondern symbolisiert die gesellschaftliche Akzeptanz, Selbstbild und moralische Integrität. Dass der Schattenhandel unmittelbar zu öffentlicher Demütigung, Spott und sogar physischer Gewalt führt (Vgl. Z. 88–96), zeigt, wie sehr der Schatten als Teil der Person wahrgenommen wird. Ohne ihn verliert Schlemihl seine soziale Existenz.
- Materialismus- und Gesellschaftskritik Die Erzählung kritisiert scharf den bürgerlichen Materialismus: Obwohl Schlemihl nun über grenzenloses Geld verfügt, ist er geächtet. Der „Fortunati Glückssäckel“ (Z. 68 f.) bringt keine Erfüllung, sondern macht ihn zur Zielscheibe. Damit zeigt Chamisso, dass moralische Werte und soziale Anerkennung nicht käuflich sind.
- Psychische Zerrüttung und Reue Der letzte Abschnitt des Auszugs zeigt den völligen psychischen Zusammenbruch Schlemihls. Nach der Konfrontation mit der Öffentlichkeit und dem Spott der Stadtbevölkerung, flieht er verzweifelt und bricht schließlich weinend zusammen (Vgl. Z. 100) – Zeichen tiefster Reue und existenzieller Entfremdung.
- Die Geschichte wird rückblickend aus der Ich-Perspektive erzählt. Diese Form ermöglicht eine authentische, subjektiv gefärbte Darstellung, bei der Leser*innen unmittelbaren Zugang zu Schlemihls Wahrnehmung und Gefühlen erhalten.
- Die Erzählhaltung bleibt distanziert reflektierend, jedoch wird sie durch viele eingeschobene Dialoge (z. B. Z. 15 ff., Z. 40 ff.) immer wieder durchbrochen, was die Handlung lebendig und dynamisch wirken lässt.
- Chamisso setzt auf eine klare, gleichzeitig symbolisch dichte Sprache. Wiederholungen („und wieder zehn, und wieder zehn“, Z. 75) spiegeln die Monotonie und Leere des Goldgewinns. Metaphern wie „mir ging’s wie ein Mühlrad im Kopf herum“ (Z. 51) verdeutlichen die psychische Überforderung.
- Die direkte Rede des Mannes im grauen Rock ist gespickt mit Höflichkeitsfloskeln („Möge der Herr meine Zudringlichkeit entschuldigen“, Z. 40), was seinen verführerischen, aber manipulativ-kühlen Charakter unterstreicht.
- Der Schatten steht als zentrales Symbol für Individualität, Seele, gesellschaftliche Sichtbarkeit. Sein Verlust wird metaphorisch mit dem Verlust des Selbst und des sozialen Ansehens gleichgesetzt.
- Der Geldbeutel hingegen symbolisiert leeren Materialismus – äußerlichen Reichtum ohne inneren Wert.
- Subjektivität und Fremdheitserfahrung: Schlemihl ist eine zutiefst subjektive Figur, die sich selbst als Außenseiter erlebt. Seine emotionale Verunsicherung prägt die gesamte Handlung.
- Faszination für das Fantastische: Das Auftreten des übernatürlichen Fremden, das Hervorzaubern unmöglicher Gegenstände, der Schattenhandel – all das durchbricht bewusst die Grenze zwischen Wirklichkeit und Fantasie.
- Kritik am Philistertum: Die materialistische Denkweise der Gesellschaft, die Schlemihl nur anhand seines Schattens (bzw. dessen Fehlens) bewertet, steht im Zentrum der Kritik. Der moralische Wert des Menschen wird ignoriert.
- Integration märchenhafter Motive: Die Struktur und Motive des Textes (magische Gegenstände, Tausch, Verwandlung, Wanderung) orientieren sich an klassischen Märchenkonventionen, jedoch mit tieferer Bedeutung.
- Rekurs auf Natur und Einsamkeit: Der Garten, die Parklandschaft und später Schlemihls Rückzug in die Natur spiegeln den romantischen Topos der inneren Rückkehr und der Abwendung von der entmenschlichten Gesellschaft.
Fazit
- In Chamissos Peter Schlemihls wundersame Geschichte verdichten sich zentrale Themen der Romantik zu einer faszinierenden Erzählung über den Verlust von Identität, gesellschaftliche Ausgrenzung und die Macht des Übernatürlichen.
- Der Auszug zeigt eindrücklich, wie ein zunächst märchenhaft anmutendes Angebot – der Tausch von Schatten gegen Reichtum – in eine tiefgreifende existentielle Krise mündet. Peter Schlemihl wird zur Symbolfigur für den romantischen Außenseiter, der zwischen Fantasie und Realität, zwischen gesellschaftlichem Anspruch und individueller Sehnsucht zerrieben wird.
- Der Text regt damit zur kritischen Auseinandersetzung mit Themen wie Selbstverwirklichung, Anpassungsdruck und der ethischen Dimension materiellen Besitzes an.
Teilaufgabe 2
Einleitung
- In Adelbert von Chamissos Kunstmärchen Peter Schlemihls wundersame Geschichte geht der Protagonist Peter Schlemihl einen verhängnisvollen Handel mit einer geheimnisvollen Gestalt in grauer Kleidung ein: Er verkauft im Austausch gegen unerschöpflichen Reichtum seinen Schatten.
- Auch in Goethes Tragödie Faust I steht ein zentraler Tausch im Mittelpunkt: Faust überlässt Mephistopheles seine Seele im Jenseits, wenn es diesem gelingt, ihn im Diesseits zu befriedigen.
- Im Folgenden werden die Beziehungen der Protagonisten zu ihren jeweiligen Verführerfiguren systematisch verglichen.
Hauptteil
Gemeinsamkeiten im Verhältnis der Figuren- Einlassen auf einen Handel mit übernatürlicher Gestalt Sowohl Schlemihl als auch Faust lassen sich auf einen Tauschhandel mit einer übermenschlichen Gestalt ein: Schlemihl verkauft seinen Schatten an den Mann im grauen Rock (Vgl. Z. 49–51), Faust schließt mit Mephisto einen Pakt, um das „Überirdische“ zu erfahren („Das find’ ich gut, da ließe sich ein Pakt“, Faust I, Vers 1740). Beide geben etwas Immaterielles auf – bei Schlemihl ist es der Schatten als Teil seiner gesellschaftlichen Identität, bei Faust seine Seele und Autonomie im Jenseits.
- Übernatürliche Kräfte der Teufelsfiguren: Die Verführerfiguren verfügen über magische Fähigkeiten: Der Mann im grauen Rock zaubert Gegenstände wie Teppiche, Pferde und einen Glückssäckel aus seiner Tasche (Vgl. Z. 4–6, Z. 19–21, Z. 74–76), während Mephisto fliegende Pferde herbeibeschwört (Auerbachs Keller) oder als schwarzer Pudel auftritt. Beide Gestalten sind nicht an irdische Gesetzmäßigkeiten gebunden und verkörpern das Übersinnliche.
- Verführung durch materielle bzw. sinnliche Angebote Beide Protagonisten werden mit maßlosen Versprechen gelockt: Schlemihl erhält den unerschöpflichen „Fortunati Glückssäckel“ (Z. 68 f.), Faust werden Macht, Wissen und sinnliche Erfüllung in Aussicht gestellt („Ich gebe dir, was noch kein Mensch gesehen“, Faust I, Vers 1695). Die Angebote appellieren an persönliche Mangelgefühle – Reichtum bei Schlemihl, Erkenntnis und Erfüllung bei Faust.
- Skepsis und emotionale Reaktion bei Vertragsabschluss: Beide Figuren reagieren anfangs skeptisch: Schlemihl hält den Mann im grauen Rock zunächst für verrückt (Vgl. Z. 52), Faust sagt: „Du kannst im Großen nichts verrichten / Und fängst es nun im Kleinen an“ (Faust I, Vers 1856 f.). Dennoch siegt in beiden Fällen die Verlockung – mit fatalen Folgen. Sowohl Schlemihl als auch Faust geraten nach der Entscheidung in einen Zustand emotionaler Desorientierung: Schlemihl empfindet ein Taumeln, Faust verliert kurzzeitig das Bewusstsein (Studierzimmer I).
- Außenseiterstatus durch Übersinnlichkeit: Beide Figuren heben sich durch ihre Verbindung zum Übersinnlichen vom gesellschaftlichen Rahmen ab: Schlemihl verliert seinen Schatten und wird öffentlich verspottet, Faust wird durch Mephistos Einfluss zu einem Grenzgänger zwischen Wissenschaft, Magie und Wahnsinn. In beiden Fällen führt das Bündnis zur sozialen Entfremdung.
- Einbettung des Pakts: Während der Pakt in Peter Schlemihl auf individueller Ebene geschieht – im privaten Gespräch auf einem Gartenfest –, ist Fausts Bündnis mit Mephisto in eine theologisch-philosophische Rahmenhandlung eingebettet (Vgl. „Prolog im Himmel“). Die Beziehung Faust–Mephisto hat somit eine kosmische, existenzielle Dimension, während Schlemihls Entscheidung als persönliche Lebensverfehlung erscheint.
- Motivation der Hauptfiguren: Schlemihl wird aus Armut, Unsicherheit und gesellschaftlicher Isolation heraus verführt. Sein Wunsch ist Anerkennung durch Reichtum und gesellschaftlichen Aufstieg. Faust dagegen handelt aus innerer Leere und existenzieller Verzweiflung: Er sehnt sich nach Erkenntnis, Erleben und Entgrenzung („Wir lernen das Überirdische schätzen“, Faust I, Vers 382). Die Motivation bei Faust ist also geistiger, metaphysischer Natur, bei Schlemihl materiell und sozial begründet.
- Art des Angebots: Die Angebote unterscheiden sich in ihrer inhaltlichen Ausrichtung: Schlemihl erhält eine konkrete, materiell greifbare Gabe (der Geldbeutel), Faust wird eher mit vagen Versprechen von Welterkenntnis, Macht und Genuss konfrontiert („Ich gebe dir, was noch kein Mensch gesehen“, Faust I, Vers 1695). Während das Glückssäckel an märchenhafte Volksbuchtraditionen erinnert, steht Mephistos Verlockung eher in der Tradition der Renaissance-Figur des Teufels als Widersacher Gottes.
- Auftreten der Teufelsfiguren: Der Mann im grauen Rock wirkt höflich, unscheinbar, ja fast unterwürfig (Vgl. Z. 35 ff.) Mephisto hingegen tritt mit Ironie, rhetorischer Überlegenheit und offener Verachtung auf („Ich bin der Geist, der stets verneint!“, Faust I, Vers 1338). Der Mann in Grau bleibt rätselhaft, Mephisto stellt sich offen als Gegenkraft zum Göttlichen dar.
- Initiative zum Handel: Im Unterschied zu Faust, der selbst die Initiative zum Pakt ergreift („Das find’ ich gut, da ließe sich ein Pakt“, Faust I, Vers 1740), ist es in Chamissos Erzählung der Mann im grauen Rock, der das Geschäft aktiv anbietet. Schlemihl wird eher überrumpelt, während Faust sich bewusst für den Bund entscheidet und diesen sogar formuliert.
- Haltung beim Paktabschluss: Schlemihl schwankt, wirkt verunsichert und überfordert („mir ging’s wie ein Mühlrad im Kopf herum“, Z. 51), Faust hingegen schließt den Pakt mit kalkulierter Entschlossenheit und spöttischem Unterton („Die Wette biet’ ich!“, Faust I, Vers 1770). Die Figuren reagieren damit sehr unterschiedlich auf das dämonische Angebot: Schlemihl passiv, Faust aktiv-provokant.
Schluss
- Sowohl Peter Schlemihls wundersame Geschichte als auch Faust I thematisieren den gefährlichen Handel mit einer übernatürlichen Macht – als Allegorie auf die Verführbarkeit des Menschen durch Gier, Erkenntnisdrang oder Selbstüberschätzung.
- Trotz vieler struktureller Parallelen unterscheiden sich die Figurenkonstellationen deutlich im Motiv, Kontext und Selbstbild. Während Faust metaphysische Sinnsuche treibt und seinen Teufelspakt bewusst eingeht, wird Schlemihl aus sozialer Not heraus zu einer tragischen Figur, deren Reue und Isolation schmerzlich konkret spürbar wird.
- Beide Werke mahnen – auf sehr unterschiedliche Weise –, dass der Preis für einen unüberlegten Handel mit dem Übersinnlichen stets hoch ist: Es steht nicht weniger als das eigene Selbst auf dem Spiel.