Lerninhalte in Deutsch

Vorschlag B

Interpretation eines literarischen Textes

Thema: Mysteriöse Begegnungen
Johann Wolfgang von Goethe (* 1749 - † 1832): Faust I (1808)
Adelbert von Chamisso (* 1781 - † 1838): Peter Schlemihls wundersame Geschichte (1813/14)
Aufgabenstellung:
  • Interpretiere den Auszug aus Adelbert von Chamissos Kunstmärchen Peter Schlemihls wundersame Geschichte auch unter Berücksichtigung epochentypischer Merkmale der Romantik. (Material)
  • (60 BE)
  • Vergleiche das Verhältnis von Peter Schlemihl und dem Mann im grauen Rock (Material) mit dem Verhältnis von Faust und Mephistopheles in Johann Wolfgang von Goethes Drama Faust I.
  • (40 BE)
Material
Peter Schlemihls wundersame Geschichte (1813/14)
Adelbert von Chamisso
In dem Kunstmärchen „Peter Schlemihls wundersame Geschichte“ schildert der Ich-Erzähler Peter Schlemihl rückblickend seine Lebensgeschichte: Schlemihl kommt nach einer langen Seereise mittellos in einem deutschen Hafen an und wendet sich Arbeit suchend mit einem Empfehlungsschreiben an einen reichen Kaufmann. Bei deren erster Begegnung auf dessen Landsitz trifft Schlemihl auf eine Gruppe von Menschen, die ein Gartenfest feiert und die ihm wenig Beachtung schenkt. Hier begegnet er ebenfalls einem rätselhaften Mann in grauer Kleidung.
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[…] Man hatte sich gern auf den Rasen, am Abhange des Hügels, der ausgespannten Landschaft ge-
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genüber gelagert, hätte man die Feuchtigkeit der Erde nicht gescheut. Es wäre göttlich, meinte wer aus
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der Gesellschaft, wenn man türkische Teppiche hätte, sie hier auszubreiten. Der Wunsch war nicht so-
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bald ausgesprochen, als schon der Mann im grauen Rock die Hand in der Tasche hatte und mit be-
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scheidener, ja demütiger Gebärde einen reichen, golddurchwirkten türkischen Teppich daraus zu zie-
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hen bemüht war. Bediente nahmen ihn in Empfang, als müsse es so sein, und entfalteten ihn am be-
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gehrten Orte. Die Gesellschaft nahm ohne Umstände Platz darauf; ich wiederum sah betroffen den
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Mann, die Tasche, den Teppich an, der über zwanzig Schritte in der Länge und zehn in der Breite maß,
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und rieb mir die Augen, nicht wissend, was ich dazu denken sollte, besonders da niemand etwas Merk-
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würdiges darin fand.
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Ich hätte gern Aufschluß über den Mann gehabt und gefragt, wer er sei, nur wußt’ ich nicht, an wen
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ich mich richten sollte, denn ich fürchtete mich fast noch mehr vor den Herren Bedienten, als vor den
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bedienten Herren. Ich faßte endlich ein Herz und trat an einen jungen Mann heran, der mir von minde-
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rem Ansehen schien, als die andern, und der öfter allein gestanden hatte. Ich bat ihn leise, mir zu sa-
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gen, wer der gefällige Mann sei dort im grauen Kleide. – „Dieser, der wie ein Ende Zwirn aussieht,
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der einem Schneider aus der Nadel entlaufen ist?“ – „Ja, der allein steht.“ – „Den kenn’ ich nicht,“ gab
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er mir zur Antwort […].
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Mir war schon lange unheimlich, ja graulich zumute, wie ward mir vollends, als beim nächst ausge-
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sprochenen Wunsch ich ihn noch aus seiner Tasche drei Reitpferde, ich sage dir, drei schöne, große
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Rappen mit Sattel und Zeug herausziehen sah! – denke dir, um Gottes willen! drei gesattelte Pferde
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noch aus derselben Tasche, woraus schon eine Brieftasche, ein Fernrohr, ein gewirkter Teppich, zwan-
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zig Schritte lang und zehn breit, ein Lustzelt von derselben Größe, und alle dazu gehörigen Stangen
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und Eisen herausgekommen waren! – Wenn ich dir nicht beteuerte, es selbst mit eigenen Augen ange-
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sehen zu haben, würdest du es gewiss nicht glauben. –
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So verlegen und demütig der Mann selbst zu sein schien, so wenig Aufmerksamkeit ihm auch die an-
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dern schenkten, so ward mir doch seine blasse Erscheinung, von der ich kein Auge abwenden konnte,
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so schauerlich, daß ich sie nicht länger ertragen konnte.
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Ich beschloß, mich aus der Gesellschaft zu stehlen, was bei der unbedeutenden Rolle, die ich darinnen
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spielte, mir ein leichtes schien. […]
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Ich hatte mich schon wirklich durch den Rosenhain, den Hügel hinab, glücklich geschlichen und be-
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fand mich auf einem freien Rasenplatz, als ich aus Furcht, außer den Wegen durchs Gras gehend ange-
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troffen zu werden, einen forschenden Blick um mich warf. – Wie erschrak ich, als ich den Mann im
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grauen Rock hinter mir her und auf mich zukommen sah. Er nahm sogleich den Hut vor mir ab und
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verneigte sich so tief, als noch niemand vor mir getan hatte. Es war kein Zweifel, er wollte mich anre-
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den, und ich konnte, ohne grob zu sein, es nicht vermeiden. Ich nahm den Hut auch ab, verneigte mich
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wieder und stand da in der Sonne mit bloßem Haupt wie angewurzelt. Ich sah ihn voller Furcht stier
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an, und war wie ein Vogel, den eine Schlange gebannt hat. Er selber schien sehr verlegen zu sein; er
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hob den Blick nicht auf, verbeugte sich zu verschiedenen Malen, trat näher und redete mich an mit lei-
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ser, unsicherer Stimme, ungefähr im Tone eines Bettelnden.
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„Möge der Herr meine Zudringlichkeit entschuldigen, wenn ich es wage, ihn so unbekannterweise auf-
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zusuchen, ich habe eine Bitte an ihn. Vergönnen Sie gnädigst –“ – „Aber um Gottes willen, mein
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Herr!“ brach ich in meiner Angst aus, „was kann ich für einen Mann tun, der –“ wir stutzten beide und
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wurden, wie mir deucht’, rot.
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Er nahm nach einem Augenblick des Schweigens wieder das Wort: „Während der kurzen Zeit, wo ich
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das Glück genoß, mich in Ihrer Nähe zu befinden, hab’ ich, mein Herr, einigemal – erlauben Sie, daß
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ich es Ihnen sage – wirklich mit unaussprechlicher Bewunderung den schönen, schönen Schatten be-
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trachten können, den Sie in der Sonne, und gleichsam mit einer gewissen edlen Verachtung, ohne
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selbst darauf zu merken, von sich werfen, den herrlichen Schatten da zu Ihren Füßen. Verzeihen Sie
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mir die freilich kühne Zumutung. Sollten Sie sich wohl nicht abgeneigt finden, mir diesen Ihren Schat-
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ten zu überlassen?“
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Er schwieg, und mir ging’s wie ein Mühlrad im Kopfe herum. Was sollt’ ich aus dem seltsamen An-
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trag machen, mir meinen Schatten abzukaufen? er muß verrückt sein, dacht’ ich, und mit veränderten
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Tönen, der zu der Demut des seinigen besser paßte, erwiderte ich also:
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„Ei, ei! guter Freund, habt Ihr denn nicht an Eurem eigenen Schatten genug? das heißt; ich mir einen
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Handel von einer ganz absonderlichen Sorte.“ Er fiel sogleich wieder ein: „Ich hab’ in meiner Tasche
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manches, was dem Herrn nicht ganz unwert scheinen möchte; für diesen unschätzbaren Schatten halt’
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ich den höchsten Preis zu gering.“
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Nun überfiel es mich wieder kalt, da ich an die Tasche erinnert ward, und ich wußte nicht, wie ich ihn
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hatte guter Freund nennen können. Ich nahm wieder das Wort und suchte es, wo möglich, mit unendli-
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cher Höflichkeit wieder gutzumachen.
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„Aber, mein Herr, verzeihen Sie Ihrem untertänigsten Knecht. Ich verstehe wohl Ihre Meinung nicht
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ganz gut, wie könnt’ ich nur meinen Schatten ––“ Er unterbrach mich: „Ich erbitte mir nur Dero Er-
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laubnis, hier auf der Stelle diesen edlen Schatten aufheben zu dürfen und zu mir zu stecken; wie ich
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das mache, sei meine Sorge. Dagegen, als Beweis meiner Erkenntlichkeit gegen den Herrn, überlasse
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ich ihm die Wahl unter allen Kleinodien, die ich in der Tasche bei mir führe: die echte Springwurzel,
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die Alraunwurzel, Wechselpfennige, Raubtaler, das Tellertuch von Rolands Knappen, ein Galgen-
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männlein’ zu beliebigem Preis; doch, das wird wohl nichts für Sie sein: besser, Fortunati Wünschhüt-
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lein, neu und haltbar wieder restauriert; auch ein Glückssäckel, wie der seine gewesen.“ – „Fortunati
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Glückssäckel!“, fiel ich ihm in die Rede, und wie groß meine Angst auch war, hatte er mit dem einen
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Wort meinen ganzen Sinn gefangen. Ich bekam einen Schwindel und es flimmerte mir wie doppelte
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Dukaten vor den Augen. –
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„Belieben gnädigst der Herr diesen Säckel zu besichtigen und zu erproben.“ Er steckte die Hand in die
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Tasche und zog einen mäßig großen, festgenähten Beutel, von starkem Korduanleder, an zwei tüchti-
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gen ledernen Schnüren heraus und händigte mir selbigen ein. Ich griff hinein und zog zehn Goldstücke
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daraus, und wieder zehn, und wieder zehn, und wieder zehn; ich hielt ihm schnell die Hand hin:
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„Topp! der Handel gilt, für den Beutel haben Sie meinen Schatten.“ Er schlug ein, kniete dann unge-
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säumt vor mir nieder, und mit einer bewundernswürdigen Geschicklichkeit sah ich ihn meinen Schat-
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ten, vom Kopf bis zu meinen Füßen, leise von dem Grase lösen, aufheben, zusammenrollen und falten
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und zuletzt einstecken. Er stand auf, verbeugte sich noch einmal vor mir und zog sich nach dem Ro-
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sengebüsche zurück. Mich dünkt’, ich hörte ihn da leise für sich lachen. […]
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den Schnüren fest, rund um mich her war die Erde sonnenhell, und in mir war noch keine Besinnung.
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Ich kam endlich wieder zu Sinnen und eilte, diesen Ort zu verlassen, wo ich hoffentlich nichts mehr zu
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tun hatte. Ich füllte erst meine Taschen mit Gold, dann band ich mir die Schnüre des Beutels um den
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Hals fest und verbarg ihn selbst auf meiner Brust. Ich kam unbeachtet aus dem Park, erreichte die
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Landstraße und nahm meinen Weg nach der Stadt. Wie ich in Gedanken dem Tore zu ging, hört’ ich
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hinter mir schreien: „Junger Herr! he! junger Herr! hören Sie doch!“ – Ich sah mich um, ein altes
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Weib rief mir nach: „Sehe sich der Herr doch vor, Sie haben Ihren Schatten verloren.“ – „Danke, Müt-
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terchen!“ ich warf ihr ein Goldstück für den wohlgemeinten Rat hin und trat unter die Bäume.
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Am Tore mußt’ ich gleich wieder von der Schildwacht hören: „Wo hat der Herr seinen Schatten ge-
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lassen?“ und gleich wieder darauf von ein paar Frauen: „Jesus Maria! der arme Mensch hat keinen
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Schatten!“ Das fing an mich zu verdrießen, und ich vermied sehr sorgfältig, in die Sonne zu treten.
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Das ging aber nicht überall an, zum Beispiel nicht über die Breitstraße, die ich zunächst durchkreu-
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zen mußte, und zwar, zu meinem Unheil, in eben der Stunde, wo die Knaben aus der Schule gingen.
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Ein verdammter buckliger Schlingel, ich seh’ ihn noch, hatte es gleich weg, daß mir ein Schatten
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fehle. Er verriet mich mit großem Geschrei der sämtlichen literarischen Straßenjugend der Vorstadt,
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welche sofort mich zu rezensieren und mit Kot zu bewerfen anfing. „Ordentliche Leute pflegen ihre
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Schatten mit sich zu nehmen, wenn sie in die Sonne gingen.“ Um sie von mir abzuwehren, warf ich
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Gold zu vollen Händen unter sie und sprang in einen Mietswagen, zu dem mir mitleidige Seelen ver-
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halfen.
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Sobald ich mich in der rollenden Kutsche allein fand, fing ich bitterlich an zu weinen. […]

Anmerkungen:
Adelbert von Chamisso (1781–1838): deutscher Dichter und Naturforscher
Aus: Adelbert von Chamisso: Peter Schlemihls wundersame Geschichte, Berlin 16. Aufl. 2023, S. 25–33.

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