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Basiswissen

Vorschlag A

Interpretation eines literarischen Textes mit weiterführendem Vergleich

Thema:
Fantastische Welten: Der neue Mensch
Alfred Kubin (* 1877 - † 1959): Die andere Seite. Ein phantastischer Roman (1909)
Juli Zeh (* 1974): Corpus Delicti (2009)
Aufgabenstellung:
  • Interpretiere den Auszug aus Alfred Kubins Roman Die andere Seite (Material) und ordne den Text begründet in den Kontext der literarischen Moderne im frühen 20. Jahrhundert ein.
  • (60 BE)
  • Vergleiche das in Kubins Textauszug beschriebene Traumreich (Material) mit der in Juli Zehs Roman Corpus Delicti. Ein Prozess geschilderten Welt.
  • (40 BE)
Material
Die andere Seite. Ein phantastischer Roman
Alfred Kubin
In Kubins Roman „Die andere Seite“ werden die Erlebnisse eines Erzählers geschildert, der von sei-
nem alten Schulfreund Claus Patera in ein von diesem geschaffenes sogenanntes „Traumreich“ einge-
laden wird. Bei dem Textauszug handelt es sich um den Romananfang.
I.
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Unter meinen Jugendbekannten war ein sonderbarer Mensch, dessen Geschichte wohl wert ist, der
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Vergessenheit entrissen zu werden. Ich habe mein möglichstes getan, um wenigstens einen Teil der
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seltsamen Vorkommnisse, die sich an den Namen Claus Patera knüpfen, wahrheitsgetreu, wie es sich
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für einen Augenzeugen gehört, zu schildern.
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Dabei ist mir etwas Eigentümliches passiert: während ich gewissenhaft meine Erlebnisse nieder-
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schrieb, ist mir unmerklich die Schilderung einiger Szenen untergelaufen, denen ich unmöglich beige-
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wohnt und die ich von keinem Menschen erfahren haben kann. Man wird hören, welcherlei seltsame
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Phänomene der Einbildungskraft die Nähe Pateras in einem ganzen Gemeinwesen hervorbrachte. Die-
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sem Einfluß muß ich meine rätselhafte Hellsichtigkeit zuschreiben. Wer eine Erklärung sucht, halte
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sich an die Werke unserer so geistvollen Seelenforscher.
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Ich lernte Patera vor sechzig Jahren in Salzburg kennen, als wir beide in das dortige Gymnasium ein-
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traten. Er war damals ein ziemlich kleiner, doch breitschultriger Bursche, bei dem höchstens der
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schöngelockte Kopf antiken Zuschnittes auffallen konnte. Mein Gott, wir waren damals wilde, lüm-
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melhafte Buben, was gaben wir viel auf Äußerlichkeiten? Trotzdem muß ich erwähnen, daß mir heute
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noch, als betagtem Mann, recht gut die etwas vorstehenden, übergroßen Augen von hellgrauer Farbe
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im Gedächtnis geblieben sind. Aber wer dachte denn in jenen Zeiten an das „Später“?
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Nach drei Jahren vertauschte ich das Gymnasium mit einer anderen Lehranstalt, der Verkehr mit mei-
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nen ehemaligen Kameraden wurde immer spärlicher, bis ich schließlich von Salzburg fort in eine an-
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dere Stadt kam und für viele Jahre alles, was mir dort bekannt war, aus den Augen verlor.
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Die Zeit floß dahin und mit ihr meine Jugend, ich hatte so manches Bunte erlebt, war nun schon ein
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Dreißiger, verheiratet und schlug mich als Zeichner und Illustrator schlecht und recht durchs Leben.
II.
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Da –, es war in München, wo wir damals wohnten, – wurde mir an einem nebligen Novembernachmit-
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tag der Besuch eines Unbekannten gemeldet.
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„Eintreten!“
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Der Besucher war – soweit ich im Dämmerlichte unterscheiden konnte – ein Mann von Durchschnitts-
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äußerem, der sich hastig vorstellte:
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„Franz Gautsch; bitte, kann ich Sie eine halbe Stunde sprechen?“
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Ich bejahte, bot dem Herrn einen Stuhl an und ließ Licht und Tee bringen.
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„Womit kann ich dienen?“ und meine anfängliche Gleichgültigkeit wandelte sich erst in Neugier, dann
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in Erstaunen, als der Fremde ungefähr nachfolgendes erzählte:
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„Ich werde Ihnen einige Vorschläge machen. Ich spreche nicht für mich, sondern im Namen eines
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Mannes, den Sie vielleicht vergessen haben, der sich Ihrer aber noch gut erinnert. Dieser Mann ist im
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Besitze von für europäische Begriffe unerhörten Reichtümern. Ich spreche von Claus Patera, Ihrem
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ehemaligen Schulkameraden. Bitte, unterbrechen Sie mich nicht! Durch einen eigentümlichen Zufall
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kam Patera zu dem vielleicht größten Vermögen der Welt. Ihr einstiger Freund ging nun an die Ver-
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wirklichung einer Idee, welche allerdings eine gewisse Unerschöpflichkeit der materiellen Mittel zur
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Voraussetzung hat. – Ein Traumreich sollte gegründet werden! – Der Fall ist kompliziert; ich werde
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mich kurz fassen.
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Zunächst wurde ein geeignetes Areal von 3000 Quadratkilometern erworben. Ein Drittel dieses Lan-
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des ist stark gebirgig, den Rest bilden eine Ebene und Hügelgelände. Große Wälder, ein See und ein
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Fluß teilen und beleben dieses kleine Reich. Eine Stadt wurde angelegt, Dörfer, Meierhöfe; dazu war
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sofort ein Bedürfnis vorhanden, denn schon die Anfangsbevölkerung bezifferte sich auf 12 000 See-
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len. Jetzt zählt das Traumreich 65 000 Einwohner.“
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Der fremde Herr machte eine kleine Pause und nahm einen Schluck Tee. Ich war ganz still und sagte
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nur ziemlich betreten:
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„Weiter!“
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Und ich erfuhr dann folgendes:
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„Patera hegt einen außerordentlich tiefen Widerwillen gegen alles Fortschrittliche im allgemeinen. Ich
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sage nochmals, gegen alles Fortschrittliche, namentlich auf wissenschaftlichem Gebiete. Bitte meine
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Worte hier möglichst buchstäblich aufzufassen, denn in ihnen liegt der Hauptgedanke des Traumrei-
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ches. Das Reich wird durch eine Umfassungsmauer von der Umwelt abgegrenzt und durch starke
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Werke gegen alle Überfälle geschützt. Ein einziges Tor ermöglicht den Ein- und Austritt und macht
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die schärfste Kontrolle über Personen und Güter leicht. Im Traumreiche, der Freistätte für die mit der
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modernen Kultur Unzufriedenen, ist für alle körperlichen Bedürfnisse gesorgt. Der Herr dieses Landes
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ist weit davon entfernt eine Utopie, eine Art Zukunftsstaat schaffen zu wollen. Anhaltende materielle
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Not ist, nebenbei erwähnt, dort ausgeschlossen. Die vornehmsten Ziele dieser Gemeinschaft sind über-
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haupt weniger auf Erhaltung der realen Werte, der Bevölkerung und Einzelwesen gerichtet. Nein,
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durchaus nicht! ........ aber ich sehe Sie ungläubig lächeln, und in der Tat, es ist fast allzu schwer für
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mich, mit trockenen Worten das zu beschreiben, was Patera mit dem Traumreich eigentlich will.
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Zunächst wäre hier zu bemerken, daß jeder Mensch, der bei uns Aufnahme findet, durch Geburt oder
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ein späteres Schicksal dazu prädestiniert ist. Eminent geschärfte Sinnesorgane befähigen ihre Inhaber
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bekanntlich zum Erfassen von Beziehungen der individuellen Welt, welche für Durchschnittswesen,
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abgesehen von vereinzelten Momenten, einfach nicht vorhanden sind. Und sehen Sie, gerade diese
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sozusagen unvorhandenen Dinge bilden die Hauptessenz unserer Bestrebungen. Im letzten und tiefsten
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Sinne ist es die unergründliche Weltenbasis, welche die Traumleute, – so nennen sie sich –, keinen
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Augenblick außer acht lassen. Normalleben und Traumwelt sind vielleicht Gegensätze und eben diese
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Verschiedenheit macht eine Verständigung so schwer. Auf die Frage: Was geschieht eigentlich im
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Traumlande? Wie lebt man dort? müßte ich schlechterdings schweigen. Ich könnte Ihnen nur die
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Oberfläche schildern, aber zum Wesen des Traummenschen gehört es ja gerade, daß er in die Tiefe
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strebt. Alles ist auf ein möglichst durchgeistigtes Leben angelegt; Leid und Freud der Zeitgenossen
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sind dem Träumer fremd. Sie müssen ihm von seinem ganz anderen Wertungsmaßstab aus natürlich
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fremd bleiben. Am ehesten dürfte noch, wenigstens vergleichsweise, der Begriff ‚Stimmung‘ den Kern
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unserer Sache treffen. Unsere Leute erleben nur Stimmungen, besser noch, sie leben nur in Stimmun-
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gen; alles äußere Sein, das sie sich durch möglichst ineinandergreifende Zusammenarbeit nach
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Wunsch gestalten, gibt gewissermaßen nur den Rohstoff. Daß dieser nicht ausgeht, dafür ist selbstver-
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ständlich überreichlich gesorgt. Doch glaubt der Träumer an nichts als an den Traum, – an seinen
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Traum. Dieser wird bei uns gehegt und entwickelt, ihn zu stören wäre unausdenkbarer Hochverrat.
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Darum auch die strenge Sichtung der Personen, die eingeladen werden, an diesem Gemeinwesen teil-
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zunehmen. Um mich kurz zu fassen und zu Ende zu kommen“ – hier legte Gautsch seine Zigarette fort
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und blickte mir ruhig ins Gesicht:
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„Claus Patera, absoluter Herr des Traumreichs, beauftragt mich als Agenten, Ihnen die Einladung
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zur Übersiedelung in sein Land zu überreichen.“
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Die letzten Worte sprach mein Besucher etwas lauter und sehr förmlich. Und nun schwieg dieser
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Mensch und auch ich war vorerst still, was jeder meiner Leser begreifen wird. Fast zwingend hatte
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sich mir nämlich der Gedanke aufgedrängt, einem Irrsinnigen gegenüber zu sitzen. Es war mir wahr-
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haftig recht schwer, meine Aufregung zu verbergen. Scheinbar spielend rückte ich die Lampe aus dem
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unmittelbaren Bereich meines Besuchers, zugleich entfernte ich geschickt einen Zirkel sowie ein klei-
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nes Radiermesser, – spitze, gefährliche Gegenstände –.
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Die ganze Situation war entschieden äußerst peinlich. Beim Anfang der Traumgeschichte hatte ich an
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einen Scherz gedacht, den sich irgendein Bekannter mit mir erlauben wollte. Leider schwand dieser
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Hoffnungsschimmer immer mehr, und seit zehn Minuten überlegte ich krampfhaft meine Chancen.

Anmerkungen zum Autor:
Alfred Kubin (1877–1959): österreichischer Schriftsteller, Grafiker und Buchillustrator
Aus: Alfred Kubin: Die andere Seite. Ein phantastischer Roman, Reinbek bei Hamburg 2. Aufl. 2012, S. 7–11.
Die Rechtschreibung entspricht der Textvorlage.

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