Vorschlag C
Gedichtinterpretation mit weiterführendem Vergleich
Thema: Mysteriöse Begegnungen Paul Boldt (* 1885 - † 1921): Berliner Abend (1913) Christian Morgenstern (* 1871 - † 1914): Berlin (1906) Aufgabenstellung:- Interpretiere das Gedicht Berliner Abend von Paul Boldt. Beziehe dabei deine Kenntnisse zur Literatur um 1900 ein. (Material 1)
- Vergleiche das Gedicht Berliner Abend von Paul Boldt (Material 1) mit dem Gedicht Berlin von Christian Morgenstern (Material 2) im Hinblick darauf, wie die Stadt Berlin jeweils wahrgenommen wird. Beziehe dabei neben inhaltlichen auch sprachliche und formale Aspekte ein.
(60 BE)
(40 BE)
1
Spukhaftes Wandeln ohne Existenz!
2
Der Asphalt dunkelt und das Gas schmeißt sein
3
Licht auf ihn. Aus Asphalt und Licht wird Elfenbein.
4
Die Straßen horchen so. Riechen nach Lenz.
5
Autos, eine Herde von Blitzen, schrein
6
Und suchen einander in den Straßen.
7
Lichter wie Fahnen, helle Menschenmassen:
8
Die Stadtbahnzüge ziehen ein.
9
Und sehr weit blitzt Berlin. Schon hat der Ost,
10
Der weiße Wind, in den Zähnen den Frost,
11
Sein funkelnd Maul über die Stadt gedreht,
12
Darauf die Nacht, ein stummer Vogel, steht.
Aus: Paul Boldt: Junge Pferde! Junge Pferde! Das Gesamtwerk, Lyrik, Prosa, Dokumente, hg. von Wolfgang Minaty, Olten und Freiburg i. Br. 1979, S. 39. Material 2 Berlin (1906) Christian Morgenstern
1
Ich liebe dich bei Nebel und bei Nacht,
2
wenn deine Linien ineinander schwimmen, –
3
zumal bei Nacht, wenn deine Fenster glimmen
4
und Menschheit dein Gestein lebendig macht.
5
Was wüst am Tag, wird rätselvoll im Dunkel;
6
wie Seelenburgen stehn sie mystisch da,
7
die Häuserreihn, mit ihrem Lichtgefunkel;
8
und Einheit ahnt, wer sonst nur Vielheit sah.
9
Der letzte Glanz erlischt in blinden Scheiben;
10
in seine Schachteln liegt ein Spiel geräumt;
11
gebändigt ruht ein ungestümes Treiben,
12
und heilig wird, was so voll Schicksal träumt.
Aus: Christian Morgenstern: Werke und Briefe. Band 1, Lyrik 1887–1905, hg. von Martin Kießig, Stuttgart 1988, S. 459.
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Einleitung
- Paul Boldts Gedicht Berliner Abend, veröffentlicht 1913, ist in eine Zeit tiefgreifenden gesellschaftlichen, technischen und ästhetischen Wandels eingebettet. Die Moderne und insbesondere der Expressionismus spiegeln sich in der Darstellung einer flüchtigen, dynamischen Großstadterfahrung wider.
- Im Zentrum des Gedichts steht somit die Konfrontation zwischen moderner Urbanität und übergeordneten Naturkräften – ein zentrales Thema der Literatur um 1900, insbesondere im Kontext des frühen Expressionismus.
Hauptteil
Inhaltliche AnalyseDas Gedicht lässt sich in drei Strophen gliedern, die eine Art Perspektivverschiebung markieren: von der unmittelbaren Wahrnehmung über die Beobachtung der Bewegung in der Stadt bis zur Imagination des nahenden Frosts.
- Strophe 1 (V. 1–4): Subjektives Erleben der Stadt als Geisterszenerie Die erste Strophe vermittelt einen verstörenden Eindruck der Großstadt. Bereits der erste Vers „Spukhaftes Wandeln ohne Existenz!“ (V. 1) betont durch den Nominalstil und das Oxymoron eine Entfremdung des Menschen von sich selbst – Bewegung ohne Wesen. Die Stadt erscheint als gespenstische Sphäre, in der Individuen zu Schatten ihrer selbst geworden sind.
- Die Wortwahl „Asphalt“ (V. 2), „Gas“ (V. 2) und „Licht“ (V. 3) verweist auf eine technisierte Welt, in der sich Mensch und Natur auflösen. Mit dem Bild „Aus Asphalt und Licht wird Elfenbein“ (V. 3) erzeugt das lyrische Ich eine magisch-surreal wirkende Szenerie, die zugleich synthetisch und poetisch überhöht erscheint. Der abschließende Vers „Die Straßen horchen so. Riechen nach Lenz.“ (V. 4) lässt eine bizarre Sinneswahrnehmung anklingen, die den Frühling (Lenz) imaginiert – ein möglicher Kontrast zur Kälte der Großstadt oder ein Verweis auf nostalgische Erinnerung.
- Strophe 2 (V. 5–8): Dynamik und Hektik der Großstadt In der zweiten Strophe dominieren visuelle und akustische Eindrücke: Autos werden zur „Herde von Blitzen“ (V. 5), ein starkes Bild, das sowohl Lautstärke als auch Geschwindigkeit der Fahrzeuge betont. Die Personifikation der Autos als lebendige, aber anonyme Wesen („suchen einander“, V. 6) steigert die Atmosphäre der Entindividualisierung. Die Stadt ist erfüllt von Bewegung, Licht und Lauten.
- Besonders auffällig ist der Vergleich „Lichter wie Fahnen“ (V. 7), der visuell den Verkehrsstrom und die Menschenmasse in einem eindrucksvollen Bild zusammenfasst. Die Stadtbahnzüge schließen diesen Teil mit einem Bild organisierter, rhythmischer Mechanik ab. (Vgl. V. 8) Die Stadt wirkt hier wie ein Maschinentier in ständiger Bewegung – ohne Bezug zu Individuen oder persönlichem Empfinden.
- Strophe 3 (V. 9–12): Perspektivwechsel – Naturgewalten im Anmarsch In der letzten Strophe erfolgt ein Wechsel der Perspektive: Aus dem hektischen, lichtüberfluteten Innenraum der Stadt wird der Blick auf die heraufziehende Kälte und Dunkelheit gelenkt. Die Wendung „Und sehr weit blitzt Berlin“ (V. 9) öffnet den Raum, der Ostwind kündigt sich an – samt „weiße[m] Wind“ und „Frost“ (V. 10), die mit einer Raubtiermetapher versehen werden: „in den Zähnen den Frost“ (V. 10). Die Stadt wird bedroht von Naturkräften, denen sie nichts entgegenzusetzen scheint.
- Die Lichtstadt verwandelt sich in einen Ort der Bedrohung. Das Bild vom „funkelnd Maul“ (V. 11) evoziert ein Monster, das sich über die Stadt dreht, bevor die Nacht – ein „stummer Vogel“ – Einzug hält (V. 12). Hier verdichtet sich das Gedicht zu einer düsteren, expressionistisch gefärbten Vision, in der die Stadt trotz aller Technik der Übermacht der Natur ausgeliefert ist.
- Das Gedicht besteht aus drei Strophen à vier Versen, wobei jede Strophe überwiegend aus zehn- bis zwölfsilbigen Versen besteht, was eine regelmäßige äußere Form suggeriert, jedoch durch inhaltliche Brüche und uneinheitliches Versmaß konterkariert wird. Die Struktur unterstützt den Eindruck rascher, sprunghafter Wahrnehmung.
- Die ersten beiden Strophen sind in umarmenden Reimen angelegt, die eine thematische Klammer zwischen Anfang und Ende der Strophen schaffen. Die dritte Strophe verwendet hingegen ein Paarreimschema, was den inhaltlichen Perspektivwechsel formal unterstreicht – weg von der Innenansicht der Stadt hin zur äußeren Naturgewalt.
- Personifikation: Gas, Autos und Züge erhalten menschliche Züge („Gas schmeißt sein Licht“, V. 2 f.; „Autos […] suchen“, V. 5 f.), wodurch die Stadt lebendig, aber zugleich entmenschlicht wirkt.
- Metaphern und Vergleiche: „Elfenbein“ (V. 3), „Herde von Blitzen“ (V. 5), „Lichter wie Fahnen“ (V. 7), „funkelnd Maul“ (V. 11) schaffen eine durchgehend expressive Bildlichkeit, die das Unwirkliche der urbanen Szenerie betont.
- Alliterationen („weiße Wind“, V. 10) und Ellipsen (z. B. V. 1: „Spukhaftes Wandeln ohne Existenz!“) erzeugen eine rhythmische Verdichtung und ein Gefühl der Fragmentierung, das typisch für den Ausdrucksstil des Expressionismus ist.
- Enjambements (z. B. V. 2–3, V. 5–6) verbinden die Verse inhaltlich und treiben die Wahrnehmung flüssig voran, was den Eindruck permanenter Bewegung verstärkt.
Das Gedicht steht deutlich im Einflussbereich des frühen Expressionismus, einer Bewegung, die um 1910–1920 zentrale Tendenzen der literarischen Moderne aufgriff. Ausdruck dieser Zeit sind:
- Großstadtkritik: Die moderne Stadt wird als Ort der Entfremdung, Anonymität und Überforderung dargestellt.
- Subjektivität und Wahrnehmungslyrik: Das lyrische Ich ist kein kohärentes Ich mehr, sondern ein Wahrnehmungsfilter für eine fragmentierte Welt.
- Technikfaszination und Technikangst: Die Beschreibung Berlins ist von Licht, Bewegung und Lärm geprägt – Zeichen einer fortschreitenden Technisierung, aber auch Bedrohung.
- Konflikt Mensch vs. Natur: Die heraufziehende Kälte symbolisiert eine übergeordnete Naturgewalt, die das hektische Stadtleben entwertet.
- Sprachlicher Expressionismus: Sprunghafte Bilder, starke Metaphern und Ellipsen dienen dem Ausdruck seelischer Zustände mehr als der rationalen Beschreibung.
Fazit
- Paul Boldts „Berliner Abend“ zeichnet ein eindrucksvolles Bild einer spätmodernen Großstadt, die von Bewegung, Licht und Anonymität geprägt ist. Das lyrische Ich erfährt diese Welt als spukhaft, geisterhaft und überreizt.
- Die expressive Sprache, die raschen Bildwechsel und der finale Umschlag in eine naturhafte Bedrohung sind typisch für die expressionistische Lyrik um 1910. Das Gedicht zeigt eine technisierte Welt, in der der Mensch als Individuum verschwindet und von einer feindlich anmutenden Umwelt überrollt wird.
- Damit liefert Boldt ein poetisch verdichtetes Zeugnis jener Zeit, in der die Urbanisierung als Fortschritt und Verhängnis zugleich wahrgenommen wurde.
Teilaufgabe 2
Überleitung
- Die Stadt Berlin wird in der Literatur um 1900 häufig zum Projektionsraum für emotionale, soziale und kulturelle Erfahrungen. Sowohl Paul Boldt als auch Christian Morgenstern widmen sich in ihren Gedichten der Großstadt Berlin – jedoch aus sehr unterschiedlichen Perspektiven.
- Während Boldt in Berliner Abend (1913) die Großstadt als Ort der Dynamik, Anonymität und unheimlichen Hektik inszeniert, zeigt Morgenstern in Berlin (veröffentlicht 1906) eine idyllisch überhöhte, fast mystisch verklärt erscheinende Stadt, die dem lyrischen Sprecher als Ort der inneren Harmonie und Zugehörigkeit erscheint.
- Im Folgenden werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der inhaltlichen Gestaltung der Stadtwahrnehmung, aber auch in der sprachlich-formalen Ausarbeitung beider Texte aufgezeigt.
Hauptteil
Gemeinsamkeiten in der Wahrnehmung Berlins- Beide Gedichte eint die subjektive Perspektive eines lyrischen Sprechers, der Berlin aus einer distanzierten, beobachtenden Haltung beschreibt.
- In beiden Fällen findet die Wahrnehmung in den Übergangszonen zwischen Tag und Nacht statt – bei Boldt im Abenddämmern, bei Morgenstern in der friedlichen Nacht, wodurch jeweils eine besondere, atmosphärische Stimmung erzeugt wird.
- Ebenso spielt das künstliche Licht der Großstadt in beiden Texten eine zentrale Rolle: Bei Boldt als flackerndes, dominantes Sinnesphänomen (Vgl. V. 2 f.), bei Morgenstern als Sinnbild einer friedvollen Ordnung ( Vgl. V. 7 f.).
- Stadt als Ort der Entfremdung vs. Geborgenheit: Boldts Großstadtbild ist geprägt von Hektik, Lautstärke und Anonymität. Die Menschen sind „helle Menschenmassen“ (V. 7), ohne individuelles Profil, die Stadtbahnzüge, Autos und Lichter dominieren das Stadtbild. Der Mensch erscheint als geisterhafte Figur in einer unheimlich-technisierten Welt.
- Dagegen betont Morgenstern das Verbundensein mit der Stadt: Die angesprochenen Häuser strahlen Ruhe und Wärme aus.
- Während Boldt die Stadt als Ort der Überreizung und Bedrohung schildert (Vgl. V. 10–12), erscheint sie bei Morgenstern als Raum des Zuruhekommens und des Heils.
- Naturmetaphorik und Tierbilder: Boldt arbeitet mit bedrohlichen Naturbildern – insbesondere in der dritten Strophe, wo der Frostwind als Raubtier beschrieben wird und die Nacht als „stummer Vogel“ (V. 12) erscheint. Diese Tiermetaphorik evoziert eine elementare Bedrohung.
- Morgenstern hingegen bedient sich kaum einer solchen Bildsprache, sondern integriert die Großstadt in ein spirituell-religiöses Sinngefüge.
- Versmaß, Rhythmus und Satzstruktur Boldts Gedicht ist formal deutlich freier gestaltet. Es gibt kein durchgängiges metrisches Schema, das uneinheitliche Versmaß und die parataktisch-elliptische Satzstruktur (z. B. V. 1) unterstreichen die Flüchtigkeit und Fragmentierung der Wahrnehmung.
- Die einzelnen Eindrücke wirken wie Schlaglichter – visuell und akustisch überlagert. Dagegen verwendet Morgenstern regelmäßig fünfhebige jambische Verse, die ein Gefühl von Harmonie, Ausgewogenheit und Kontinuität erzeugen – passend zu seiner thematischen Grundhaltung. b) Sprecherhaltung und Sprechintention Boldts Sprecher tritt als beobachtendes, distanziertes Ich in Erscheinung. Es formuliert keine Wertung, sondern schildert in schneller Abfolge Sinneseindrücke.
- Morgensterns lyrisches Ich hingegen tritt aktiv hervor – es spricht die Stadt direkt an und bringt ein emotionales Bekenntnis zur Sprache. Hier steht nicht die äußere Wahrnehmung im Vordergrund, sondern die innere Beziehung zur Stadt. c) Symbolik und Motivik In Berliner Abend wird das Licht zur dominanten Chiffre für Überreizung, Künstlichkeit und Bedrohung.
- Die „Lichter wie Fahnen“ (V. 7) wirken fast martialisch. In Berlin hingegen steht das Gaslicht symbolisch für Schutz, Wärme und zivilisatorische Ordnung.
- Auch der Gegensatz zwischen Mensch und Technik ist deutlich ausgeprägter bei Boldt: Die Fahrzeuge und Lichter scheinen verselbständigt, während bei Morgenstern das Wohnen, das Haus und die Gemeinschaft betont werden.
Schluss
- Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Paul Boldt und Christian Morgenstern mit ihren Gedichten zwei kontrastierende Stadtbilder Berlins entwerfen: Boldt zeigt die Metropole als pulsierendes, anonymes und bedrohliches System im Übergang zur Nacht – in typischer expressionistischer Manier.
- Morgenstern hingegen betont das Spirituelle, die Harmonie und die persönliche Bindung des lyrischen Ichs an eine als schützend erlebte Großstadt. Beide Gedichte spiegeln auf ihre Weise zentrale Fragen der literarischen Moderne: Wie kann der Mensch in der technisch dominierten Welt bestehen? Wird die Stadt zum Ort der Entfremdung – oder zu einem Ort der inneren Sammlung?