Lerninhalte in Deutsch
Abi-Aufgaben LK
Lektürehilfen
Lektüren
Basiswissen

HT 2

Interpretation eines literarischen Textes mit weiterführendem Schreibauftrag

Thema:
Arno Geiger (* 1962): Unter der Drachenwand (2018)
Aufgabenstellung:
  • Interpretiere den vorliegenden Auszug aus dem Roman Unter der Drachenwand von Arno Geiger auch im Hinblick auf die dargestellten Beziehungen von Margot und ihrem Mann einerseits und von Veit und Margot andererseits.
    (42 Punkte)
  • In einem Interview äußert Arno Geiger über seinen Roman:
    „Für mich war beim Schreiben klar, dass der Mensch ein unzerstörbares Bedürfnis nach Sicherheit hat, nach Geborgenheit und Halt. In dieser äußersten Bedrängnis wissen die Figuren des Romans, dass sie nichts aufschieben dürfen. Sie haben ein starkes Bewustsein der Zerbrechlichkeit ihrer selbst. Das Bedürfnis nach einem Glücksmoment, nach Menschen, die zugewandt sind.“
    (Aus: Stefan Lüddemann: Bestsellerautor Arno Geiger: Flüchtlingswelle „Kompliment“ für Europa am 09.03.2018. Interview mit Arno Geiger. In: Neue Osnabrücker Zeitung, letzter Zugriff am 03.03.2023.)
    Prüfe ausgehend von dem Zitat mit Blick auf den vorliegenden Romanauszug und auf den gesamten Roman, inwieweit sich der Zusammenhang vom „Bewusstsein der Zerbrechlichkeit“ und dem „Bedürfnis nach einem Glücksmoment“ in der Entwicklung der Beziehung der beiden Hauptfiguren zeigt.
    (30 Punkte)
Material
Unter der Drachenwand (Auszug)
Arno Geiger
1
Wenn es Zeit war, bei der Arbeit zu einem Ende zu kommen, ging die Darmstädterin voraus
2
und fing an, etwas herzurichten. Eine Viertelstunde später wusch ich die vom Hantieren ge-
3
schwollenen Hände und ging hinauf über die irregulären Treppen, zog die Altmännersachen
4
des Brasilianers aus, die ich bei der Arbeit trug, und schlüpfte in die Uniform des Stabsgefrei-
5
ten. Manchmal trank ich noch rasch eine Tasse Kaffee, bis das Essen fertig war, und schaute
6
dem Kind beim Spielen zu. Einige Spielsachen waren kaputt. Ich erschrak, als die Darmstädte-
7
rin sagte: „Papa wird bald kommen und es richten.“
8
Ich bat sie, mir zu erzählen, wie sie ihren Mann kennengelernt hatte. Sie sagte, die Soldaten
9
auf dem Weg in den Westen hätten Zettel mit ihren Feldpostnummern aus den Zugfenstern
10
geworfen, solche Zettel habe man entlang der Gleise oft gefunden. Die Adresse von Ludwig
11
habe ihr eine Kollegin in der Fahrdienstleitung weitergereicht, sie habe sich gedacht, ein Ost-
12
märker, warum nicht. / Die Arbeit in der Fahrdienstleitung sei ungeheuer anstrengend gewe-
13
sen, stundenlang ohne Pause hinter irgendwelche Apparaturen geschnallt, in der Nacht oft nur
14
eine einzige Stunde Schlaf auf drei zusammengestellten Stühlen. Meistens sei sie so müde
15
gewesen, dass ihr in der Bahn nach Darmstadt die Augen zugefallen seien. Nach einem drei-
16
monatigen Briefwechsel sei Ludwig zu Besuch gekommen, und dann hätten ihre Freundinnen
17
gesagt, sie würden die Hochzeitsglocken läuten hören, und dann habe sie wieder einmal eine
18
Ohrfeige von ihrem Vater erhalten, danke, es reicht, und dann habe sie im Bett nicht mehr
19
aufgepasst, und der Übermut, oder wie man es nennen wolle, sei mit ihr durchgegangen. Ob
20
ich sie verstehen könne, dieses Denken: Mir ist alles egal, ich will leben! Ob ich verstehe, was
21
sie meine. Bei der ersten Gelegenheit hätten sie geheiratet.
22
Sie erklärte mir, dass sie in der letzten Zeit eine merkwürdige Phase durchlaufe, was sie
23
darauf zurückführe, dass sie glaube, nicht den richtigen Mann geheiratet zu haben. Heiraten
24
sei ihr als die beste Möglichkeit zum Loskommen erschienen. Und für einen Soldaten habe
25
Heiraten auch nur Vorteile. Hell auflachend setzte sie hinzu: „Kriegsbraut! An jedem schö-
26
nen Wort klebt heute der Krieg.“ / Sie sprach das Wort wieder auf diese besondere Art aus,
27
dass es nach kriechen klang, nach dem Kauern in Erdlöchern. / „Bist du schockiert?“, fragte
28
sie. / Ich zog den Korken aus der Flasche und murmelte traurig, es überrasche mich nicht, ich
29
hätte es in meiner Kompanie oft so erlebt, die Verheirateten seien ständig in Urlaub gefahren,
30
und für die Ledigen habe niemand etwas übrig gehabt.
31
Beim Füttern verbrannte sich das Kind die Zunge, weinte ein Weilchen und war dann mehr
32
als bettreif. Die Darmstädterin wollte das Kind niederlegen, aber es protestierte so heftig, dass
33
sie es wieder aus dem Wäschekorb nahm. Ich tat wenig später dasselbe, niederlegen und wie-
34
der holen. Um halb neun war das Kind endgültig im Bett, raunzte noch ein wenig und schlief
35
bald ein. Die Darmstädterin und ich tranken gemeinsam den Wein leer und schimpften vor
36
uns hin, bis ich sagte: „Ich muss gehen, es ist Zeit zum Schlafen.“ / Sie strich sich im Auf-
37
stehen ihr Kleid glatt.
38
Es war jetzt richtig Frühling geworden, ein milder Südwind kam über die Berge. Die Darm-
39
städterin und ich waren schon ganz braungebrannt. Nachmittags, wenn wir draußen auf dem
40
Acker arbeiteten, hatte ich das Hemd offen, so warm war es. Eine herrliche Zeit oder besser
41
gesagt, ein herrliches Wetter. / Am Abend aßen wir erstmals unter dem Nussbaum des Brasi-
42
lianers. Wir lauschten dem langen Abendgebet der Frösche, und ich dachte an das sogenannte
43
Auskämmen der Wälder, qua-qua-qua. Und wenn man einen Partisanen oder eine Partisanin
44
erschossen hatte, war es, als hätte man den Wind im Feld gefangen, von unserer Warte gese-
45
hen, die Wirkung blieb aus, es war alles total sinnlos, grauenhaft, unmenschlich. Und dann
46
weiter bei größter Hitze in riesigen, urwaldähnlichen Gebieten viele Kilometer gehen, und
47
ständig quakten die Frösche, qua-qua.
48
Weil ich Angst hatte, einen Anfall zu bekommen, nahm ich ein Pervitin. Bald darauf war
49
ich guter Laune. Die Darmstädterin und ich unterhielten uns und lachten viel. Wir hatten ein
50
seltsames Verhältnis oder besser gesagt, ich empfand es als seltsam, weil wir so natürlich
51
miteinander umgingen, nicht so gekünstelt und steif wie in der Jugend.
52
Die Hündin bellte. Ich sah, dass ein Fuchs aus dem Glashaus kam, meine Stimmung war
53
sofort am Boden. Auch solche Kleinigkeiten machten mich nervös. / Ich wusch mir die Hände
54
am Brunnen, und dann redete ich mit der Hündin. Dieses Tier, dem die Gabe des Verstandes
55
nur in geringem Maße gegeben war, es sah mich hoffnungsvoll an aus seinen jungen Augen,
56
als bitte es mich, ihm seine Hinterbeine zurückzugeben. Ich ließ die Hündin verdünnte Milch
57
trinken. Dann schleppte sie sich mühsam zu dem halbverfallenen Mäuerchen beim Kompost-
58
haufen, die Hinterbeine nachziehend, sie schlug ihr Wasser ab und kroch zurück auf ihren
59
Strohsack unter dem Leiterwagen, wo es kühler war. Dort störte sie niemand, und sie konnte
60
an unserem Alltag teilhaben, weil sie Blick auf das Gewächshaus hatte und wir oftmals am
61
Leiterwagen vorbeigingen.
62
Ich erhob mich von den Knien, mir schwindelte, und ich wartete, bis der Schwindel vorbei-
63
ging. Dann wischte ich mir die Hosenbeine ab. Und wieder ging die Sonne unter, die nächste
64
Drehung der Erde, die mit Tag und Nacht das organische Leben regelt, nicht ganz unwichtig
65
für eine Gärtnerei.
66
Das Kind war jetzt richtig dick geworden und hatte rote Wangen bekommen. Die Darm-
67
städterin machte mit dem Kind Turnübungen, die Füße strecken und stoßen, an den Armen
68
in der Luft hängen, an den Beinen in der Luft hängen, am Kopf stehen undsoweiter. Sie sagte,
69
sie wünsche sich, dass Lilo ein hübsches, tüchtiges Mädchen werde. / Das Kind schlief von
70
sieben Uhr abends bis morgens um fünf oder sechs. Tagsüber spielte es mit seinen Händen
71
oder Füßen, erzählte ihnen Dinge, die sonst niemand verstand. Sehr gerne bekam das Kind
72
Besuch. Wenn verschickte Mädchen Tomaten holten und sich zehn Minuten mit dem Kind
73
abgaben, konnte es sein Glück gar nicht fassen. Die Leute erkundigten sich, ob das Kind Zahn-
74
weh habe. Aber das waren nur die dicken Wangen. / Am liebsten aß es Spinat und Griespapp.
75
Einmal fragte ich die Darmstädterin, was sie an mir möge. Zuerst sagte sie einige nahe-
76
liegende Dinge und schließlich sagte sie, ich gäbe ihr das Gefühl, dass ich sie gerne in mei-
77
ner Nähe hätte. Sie habe nie den Eindruck, dass ich mich durch sie gestört fühle. – Und das
78
stimmte. / Sie sagte, alle Frauen mögen das. Aber umgekehrt, Männern bedeute das wohl nicht
79
sehr viel. / „Mir bedeutet es sehr wohl viel“, widersprach ich. Und etwas Helles fuhr über
80
ihr Gesicht. / Sie sagte, sie sei überrascht, dass es das gebe. Bei ihr zu Hause gehe es immer
81
sehr laut zu, und jeder sei froh, wenn er mal allein sein könne. Gemeinschaft habe sie immer
82
als Unding erfahren. / Ich sagte, in Wien im Kunsthistorischen Museum hänge ein großer
83
Breughel, Die Bauernhochzeit. Das Hochzeitsmahl finde in einer Scheune statt, einem Ort
84
der Arbeit, das gefalle mir. Alle Menschen sollten an Orten der Arbeit heiraten.
85
Wir standen im Gewächshaus und sahen uns an. Und dann, tock, tock, tock, setzte ein kur-
86
zer Regenschauer ein, in dicken Tropfen. Für die nächsten Minuten klang es unter dem Glas-
87
dach, als schüttle jemand seine Sparbüchse. / Wir setzten uns nach hinten auf die Werkzeug-
88
kiste, wo das Kind am Boden lag und seine Hände betrachtete, und wir tranken ein Bier, und
89
die Darmstädterin sagte: „Ich bin gerne mit dir zusammen.“ / Ich brauchte einige Sekunden,
90
um zu realisieren, was sie grad gesagt hatte. Dann sagte ich: „Es geht mir auch so.“ / Und
91
ohne dass wir einander bis dahin je außerhalb der Arbeit berührt hatten, waren wir zu diesem
92
Zeitpunkt wohl schon ein, zwei Wochen ein Paar. Und wenn ich nicht so aufgeregt und nervös
93
gewesen wäre, hätte ich den Moment, als wir es uns eingestanden, sehr genossen.

Aus: Arno Geiger: Unter der Drachenwand. 2. Auflage. München: Carl Hanser Verlag 2018, S. 193-198.

Weiter lernen mit SchulLV-PLUS!

monatlich kündbarSchulLV-PLUS-Vorteile im ÜberblickDu hast bereits einen Account?