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Literarische Texterörterung
Thema: Friedrich Schiller: Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken? Aufgabenstellung:- Analysiere den vorliegenden Auszug aus Friedrich Schillers Schrift Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken? im Hinblick auf die darin entfalteten theatertheoretischen Überlegungen. Erschließe dabei die wesentlichen Aussagen des Textes in ihrer gedanklichen Entfaltung. Gehe auch auf die Metaphorik und die sprachlich-stilistische Gestaltung des Textes ein.
- In Schillers Schrift heißt es:
„[...] so empfängt uns die Bühne – in dieser künstlichen Welt träumen wir die wirkliche hinweg, wir werden uns selbst wiedergegeben [...]“ (Z. 34 f.)
Setze diese Aussage von Friedrich Schiller in Beziehung zu G. E. Lessings Drama
Nathan der Weise , indem du prüfst, inwieweit Lessings Drama bereits den später formulierten Vorstellungen von Schiller entspricht. Berücksichtige dabei die Gestaltung der Dramenhandlung, die Anlage der Figur „Nathan“ und die intendierte Wirkung des Dramas auf die Zuschauerinnen und Zuschauer.
(39 Punkte)
(33 Punkte)
(Textauszug) (Rede 1784, veröffentlicht 1785) Friedrich Schiller
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[...] Menschlichkeit und Duldung fangen an, der herrschende Geist unsrer Zeit zu werden;
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ihre Strahlen sind bis in die Gerichtssäle und noch weiter – in das Herz unsrer Fürsten gedrun-
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gen. Wieviel Anteil an diesem göttlichen Werk gehört unsern Bühnen? Sind sie es nicht, die
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den Menschen mit dem Menschen bekannt machten und das geheime Räderwerk aufdeckten,
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nach welchem er handelt?
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Eine merkwürdige Klasse von Menschen hat Ursache, dankbarer als alle übrigen gegen
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die Bühne zu sein. Hier nur hören die Großen der Welt, was sie nie oder selten hören – Wahr-
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heit; was sie nie oder selten sehen, sehen sie hier – den Menschen. [...]
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Die Schaubühne ist der gemeinschaftliche Kanal, in welchen von dem denkenden bessern
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Teile des Volks das Licht der Weisheit herunterströmt und von da aus in milderen Strahlen
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durch den ganzen Staat sich verbreitet. Richtigere Begriffe, geläuterte Grundsätze, reinere
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Gefühle fließen von hier durch alle Adern des Volks; der Nebel der Barbarei, des finstern
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Aberglaubens verschwindet, die Nacht weicht dem siegenden Licht. [...] Wie allgemein ist
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nur seit wenigen Jahren die Duldung der Religionen und Sekten geworden? – Noch ehe uns
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Nathan der Jude und Saladin der Sarazene beschämten und die göttliche Lehre uns predigten,
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daß Ergebenheit in Gott von unserm Wähnen über Gott so gar nicht abhängig sei – ehe noch
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Joseph der Zweite die fürchterliche Hyder des frommen Hasses bekämpfte, pflanzte die
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Schaubühne Menschlichkeit und Sanftmut in unser Herz, die abscheulichen Gemälde heid-
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nischer Pfaffenwut lehrten uns Religionshaß vermeiden [...]. [...]
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Die menschliche Natur erträgt es nicht, ununterbrochen und ewig auf der Folter der Ge-
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schäfte zu liegen, die Reize der Sinne sterben mit ihrer Befriedigung. Der Mensch, überla-
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den von tierischem Genuß, der langen Anstrengung müde, vom ewigen Triebe nach Tätig-
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keit gequält, dürstet nach bessern, auserlesnern Vergnügungen, oder stürzt zügellos in wilde
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Zerstreuungen, die seinen Hinfall beschleunigen und die Ruhe der Gesellschaft zerstören.
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Bacchantische Freuden, verderbliches Spiel, tausend Rasereien, die der Müßiggang ausheckt,
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sind unvermeidlich, wenn der Gesetzgeber diesen Hang des Volks nicht zu lenken weiß. Der
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Mann von Geschäften ist in Gefahr, ein Leben, das er dem Staat so großmütig hinopferte, mit
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dem unseligen Spleen abzubüßen – der Gelehrte, zum dumpfen Pedanten herabzusinken –
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der Pöbel zum Tier. Die Schaubühne ist die Stiftung, wo sich Vergnügen mit Unterricht, Ruhe
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mit Anstrengung, Kurzweil mit Bildung gattet, wo keine Kraft der Seele zum Nachteil der
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andern gespannt, kein Vergnügen auf Unkosten des Ganzen genossen wird. Wenn Gram an
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dem Herzen nagt, wenn trübe Laune unsre einsame Stunden vergiftet, wenn uns Welt und
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Geschäfte anekeln, wenn tausend Lasten unsre Seele drücken und unsre Reizbarkeit unter
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Arbeiten des Berufs zu ersticken droht, so empfängt uns die Bühne – in dieser künstlichen
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Welt träumen wir die wirkliche hinweg, wir werden uns selbst wiedergegeben, unsre Empfin-
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dung erwacht, heilsame Leidenschaften erschüttern unsre schlummernde Natur und treiben das
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Blut in frischeren Wallungen. [...]
Aus: Friedrich Schiller: Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken?
In: Ders.: Sämtliche Werke. Fünfter Band. Erzählungen / Theoretische Schriften. Hrsg. von Gerhard Fricke und
Herbert G. Göpfert. 8., durchgesehene Auflage. München: Hanser 1989, S. 828 ff.
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Einleitung
- Vorliegender Textauszug aus der Rede Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken? von Friedrich Schiller, die um 1785 vom Dichter publiziert wird, erscheint im Hanser Verlag im Jahr 1989 in München.
- Thema: Im vorliegenden Auszug seiner Rede stellt Schiller die Bühne als Austragungsort für Wahrheiten (vgl. Z. 9 ff.) dar, in dem die alles vereinnahmende Religionstreue in den Hintergrund rückt. Laut dem Schriftsteller besitzt das Theater die einzigartige Fähigkeit, „Vergnügen mit Unterricht“ (Z. 29) verbinden zu können.
Hauptteil
Friedrich Schillers theatertheoretischer Ansatz- Aus dem Textauszug Friedrich Schillers Rede geht hervor, welch elementaren Bildungsauftrag das Theater für die Bevölkerung besaß. Fernab von „finsterem Aberglauben“ (Z. 13) bildet die Bühne einen Raum, in welchem das Erlernen neuen Wissens, ob aktuell oder historischer Natur, neue Perspektiven schafft.
- Neben der Rolle des Theaters, die Wissensebene seiner Zuschauer*innen zu erweitern und als Informationsträger zu funktionieren, fungiert die Schauspielbühne außerdem als ein Ort, an welchem die Menschen sich in der Offenheit gegenüber Neuem und Andersartigem üben können.
- Schillers Rede kann auch als eine Art Ode ans Theater und damit verbundener Appell an die Menschlichkeit verstanden werden, die auf die Wichtigkeit einer Bildungs- und Unterhaltungsstätte wie der Schauspielbühne hinweisen.
- Schiller stellt die Behauptung auf, dass das Theater nicht unerheblich, sogar maßgeblich am Umdenken der Gesellschaft und einer Etablierung aufklärerischer Wandlung in den Köpfen der Menschen beteiligt ist.
- Die argumentative Grundlage für seine Position zieht Friedrich Schiller daraus, dass es im Theater keine Standesunterschiede oder Klassengesellschaft gibt und sich deshalb die sonst immanente Elite Adliger und Geistlicher ebenso für ihr Handeln verantworten muss wie der einfache Bürger. Ganz nach dem Credo: Vor dem Gesetz der Bühne sind alle Menschen gleich.
- Indem das Theater die ungeschönte Wahrheit (u. a. über die Spezies Menschen) ans Licht bringt, können Zuschauer*innen nicht anders, als sich mit sich selbst auseinanderzusetzen, ergo sich in Selbstreflexion und Selbstkritik zu üben. Dazu kommt noch, dass Theaterbesucher*innen infolgedessen eher dazu neigen, ihre Handlung, Wirkung & die Konsequenzen dieser selbst verstehen und einschätzen zu können.
- Laut Schiller ist der Mensch nicht dafür konzipiert, einzig einer Tätigkeit im Sinne des Funktionierens im Beruf nachzugehen. Im Gegenteil – der Autor sieht die Gefahr, dass sich marottenhafte Tendenzen bei alleiniger Identifikation über den Beruf sogar im Charakter einnisten können. Um sich die Leichtigkeit des Seins zu bewahren und das Leben mit mehr als nur der Arbeit zu füllen, bildet das Theater neben seinen edukativen Kapazitäten einen guten Ausgleich für die innere Zufriedenheit.
- Insgesamt soll das Theater der Aufklärung der Bürger*innen dienen, die erst durch das Aneignen des Wissens über sich selbst und ihre Spezies ihr eigenes Verhalten einordnen, reflektieren und demzufolge auch selbst bestimmen sowie lenken können.
- Mit der Bühne als Ort, welcher Bildung und Vergnügen verbindet, wird laut Schiller eine Stätte geschaffen, in der sich Menschen stand-unabhängig gleichzeitig mit ihrer Unzulänglichkeit auseinanderzusetzen gezwungen sind und im Zuge dessen an sich arbeiten, sich selbst optimieren und weiterentwickeln können.
- Für Schiller ist der wie „ferngesteuert“ arbeitende Mensch kein gesunder Mensch. Die Schauspielbühne hingegen eröffnet einem laut Autor die Möglichkeit, durch eine Art bewusstseinserweiternde und „klärende“ Wirkung wieder zum ehemals gesunden Zustand seiner selbst zurückzukehren. In der künstlerischen Künstlichkeit des Theaters können Zuschauer*innen ihre Batterie wieder aufladen und somit gestärkt und erholt wieder den Herausforderungen des Alltags entgegentreten.
- Licht: Schiller nutzt die Lichtmetaphorik in Form von „Strahlen“ (Z. 2), „milderen Strahlen“ (Z. 10), die ihre aufklärerische Transzendenz auf der Bühne an die Menschen weitergeben. Auch in Bezug aufs Theater spricht Schiller vom „Licht der Weisheit“ (Z. 10) als Symbol für die Humanität des Menschen, die eng an die Aufklärung, Bildung des Individuums geknüpft ist. Ihr gegenüber stehen exemplarisch „finster[er] Aberglaube“ (Z. 12 f.) und „der Nebel der Barbarei“ (Z. 12), welche als Kontrast zum humanitären Licht fungieren.
- Den Bogen zur Verbundenheit von Bühne und Natur spannt der Schriftsteller, indem er metaphorische Formulierungen wie „pflanzte die Schaubühne Menschlichkeit und Sanftmut in unser Herz“ (Z. 17 f.) verwendet. Damit betont er einmal mehr, dass es sich beim Theater um etwas Naturgegebenes handelt, was in der Natur des Menschen liegt und damit nicht wegzudenken ist.
- Auch Metaphern in Form von Körpermerkmalen lassen sich in Schillers Text finden. So beschreibt er etwa die „Adern des Volks“ (Z. 12), wobei er in diesem Zuge von einem kollektiven Körper in Form der Gesellschaft spricht. Die Gesellschaft als Körper als solcher kann geheilt werden unter der aufklärerischen Prämisse Schillers, Vernunft und Gefühl würden zusammenspielen.
- poetisierte, metaphorische und eloquente Verwendung von Sprache und Wortschatz
- Auflockerung des Fließtextes durch (rhetorische) Fragen an die Zuhörer*innen und Leser*innen der Rede. Die rhetorischen Fragen besitzen hier auch als bekräftigende Funktion der Position Schillers und deren tatsächlichen Wahrheitsgehalts.
- Außerdem wird das „Wir-Gefühl“ verstärkt, indem Schiller von sich und dem Publikum als eine Instanz spricht, indem er Possessivpronomen wie „unsre [...] Zeit“ (Z. 1) oder „unser Herz“ (Z. 19) verwendet. Auch Personalpronomen wie „wir“ bewirken, dass sich die Rezipient*innen direkt miteinbezogen und mitgenommen fühlen.
- Durch syntaktische Stilmittel wie hypotaktischen Satzbau, Parallelismen, Fragen und rhetorische Fragen ruft Schiller in deren Einbindung in seinen Redefluss eine erhöhte Anschaulichkeit seiner Worte beim Publikum hervor.
- Indem Schiller zur Wortwahl wie „göttlich [...]“ greift, wird noch einmal die Wichtigkeit und der Prestigefaktor des Theaters als edukativer Ort im Hinblick auf die Unterstützung humanitärer Fähigkeiten der Gesellschaft hervorgehoben.
- Der Redner und Autor spielt mit den existenten Konnotationen und Anhaftungen positiver sowie negativer Formulierungen, um den zwei unterschiedlichen Meinungsansätzen an die Thematik Ausdruck zu verleihen. Aber auch, um ihm unverständliche und abwegig vorkommende Argumente und andersherum noch zu betonen
- Schiller verleiht seiner Rede auch durch den Einsatz von komparativen Gegenüberstellungen Ausdruck. Auf diese Art und Weise vermag er, die der Aufklärungsepoche zugrundeliegenden Werte wie, dass die „denkenden [die] bessern Teile des Volks“ (Z. 9 f.) seien. Außerdem spricht er über „richtigere Begriffe, geläuterte Grundsätze, reinere Gefühle“ (Z. 11 f.), was ebenfalls den Grundgedanken der Aufklärung widerspiegelt.
- Indem er Hyperbeln gebraucht, beschreibt Schiller bspw. den Berufsalltag der Menschen als „Folter der Geschäfte“ (Z. 20 f.) oder die Folgen für den „Pöbel[,] [welcher] zum Tier“ (Z. 29) mutieren würde, sofern er keine intellektuelle Stimulierung in Verbindung mit Vergnügen erfahren würde. Durch die Verwendung dieser hyperbolischen Formulierungen wird ein verstärkender Effekt erzielt, man könnte auch sagen: In der Übertreibung liegt die Anschauung.
- Der Autor bedient sich immer, wenn er über die Menschen spricht, allgemeingültiger Formulierungen wie „Der Mensch [als solcher]“ oder spricht von der „menschliche[n] Natur“, um ein Exempel der Daseinsberechtigung für seine Meinungsäußerungen zu setzen.
Schluss
- Aus Schillers Rede lässt sich unschwer sein reges Engagement für die Wichtigkeit der Theaterbühne, nicht zuletzt auch als Bildungsvermittler, heraushören. Der bekannte Schriftsteller setzt sich sehr dafür ein, dass dem bis dato vor allem als Unterhaltungsort abgetane Theater die Daseinsberechtigung eingeräumt wird, die es in seinen Augen verdient hat.
- Außerdem geht aus der emotionsgeladenen Rede hervor, dass Schiller zuversichtlich im Hinblick auf die Umsetzung einer Aufklärung der Gesellschaft durch das Theater, aber auch durch kulturelle Bildung im Allgemeinen ist.
- Besonders an Schillers Ansatz und stellvertretend für das Konzept der Aufklärung ist hierbei, dass eine Vereinigung von Geist und Herz, Vernunft und Gefühl, Fakt und Emotion angestrebt wird. Dies spiegelt sich in Schillers Absicht, „Vergnügen mit Unterricht, Ruhe mit Anstrengung, Kurzweil mit Bildung“ (Z. 29 f.) zu verbinden, wider.
- Es bleibt dahingestellt, ob Schiller ins einen leidenschaftlichen Ausführungen dem Theater eine zu hohe Stellung beimisst, es möglicherweise sogar glorifiziert und damit die Bedeutungsschwere seiner Botschaft unabsichtlich schmälert. Ob idealisiert oder nicht, Schiller soll recht damit behalten, dass die Schauspielbühne noch eine erhebliche Rolle in der Bildung seiner Besucher*innen spielen wird.
Zweite Teilaufgabe
Überleitung
- Nachdem im Vorhinein ausführlich der Textauszug aus der Rede Schillers Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken? analysiert und betrachtet wurde, findet im Folgenden ein direkter Vergleich einer spezifischen Textstelle des vorliegenden Materials Schillers mit dem Lessingschen Werk Nathan der Weise statt.
Hauptteil
Schillers Standpunkt- Laut Schiller ist eine Unterscheidung zwischen dem (beruflichen) Alltag und der Welt der Bühne notwendig. Er ist der Meinung, dass es nur so gegeben ist, dass Menschen durch den Theaterbesuch sich vollkommen darauf einlassen können, in die ihnen bisher fremde, unerforschte Welt einzutauchen.
- Auch wenn böse Zungen die Künstlichkeit dieses Konzepts anzweifeln mögen, so bedarf es laut Schiller eben genau dieser erfundenen, neuen Wirklichkeit, die sich von der Realität möglichst stark unterscheidet, damit sich der Besuch eines Theaterstücks für Bürger*innen wie ein „Kurzurlaub“ oder eine „Inspiration“ anfühlt.
- Das Erleben einer solch konstruierten Wirklichkeit soll das Publikum dazu inspirieren, neue Perspektiven auf das eigene Leben anwenden zu können und inzwischen festgefahrene, bequeme Ansätze zu widerrufen und ein erneutes Augenmerk auf die Zwischenmenschlichkeit, Toleranz und Offenheit sich selbst und den Mitmenschen gegenüber zu legen.
- Infolge der o. g. Bewusstseinserweiterung findet nicht nur eine Auseinandersetzung mit anderen, sondern auch mit sich selbst statt, was wiederum unweigerlich dazu führt, dass man sich als Mensch besser versteht und somit auch mehr Verständnis für das Gegenüber aufzubringen vermag.
- Als einen sehr wichtigen Aspekt und Bildungsauftrag der Schauspielbühne führt Schiller auch die Bekräftigung, Motivation und Inspiration zur Eigeninitiative an. Wenn man sich vor Augen führt, welch festgefahrenen hierarchischen Strukturen die Gesellschaft vor der Aufklärung noch unterlag, stellt die Übernahme der Verantwortung für sich selbst sowie des eigenen Handelns einen fundamentalen Schritt in Richtung Emanzipation von reaktionären, elitären Obrigkeiten dar.
- Das Aufzeigen der Möglichkeit einer besseren Welt, die sich ganz stark an den humanitären Werten orientiert, ist außerdem mit einem Hoffnungsschimmer gleichzusetzen, der für die Menschen damals zu einer wahren Überlebensstrategie wurde.
- Auch in Lessings Nathan der Weise findet die Begebenheit der Handlung fernab der realen Wirklichkeit statt – nämlich im fernen Jerusalem. Doch nicht nur auf lokaler Ebene existiert eine Distanz, sondern auch zeitlich findet eine Verzerrung statt, indem Lessing seine Figuren in das Jahr 1192 schickt.
- Fiktive, imaginative und beinahe schon utopische Elemente sind sowohl bei Lessing als auch Schiller zu finden. Während Lessing seine Figuren in Nathan der Weise tatsächlich mit ausgedachten, fantasievollen Merkmalen bezüglich Herkunft und Weltanschauung ausstattet, spricht Schiller in seiner Rede ebenso von der Wichtigkeit, dass Theater und Kunstformen – somit auch Literatur – ein Maß an Fiktion aufweisen müssen, damit sie ihren Zweck einer Alltagsflucht auch wirklich erfüllen können.
- Weniger die äußeren Umstände der Handlung als vielmehr die inneren Gemütsentwicklungen der Protagonisten sind ausschlaggebend für den Entfaltungsprozess des Gesamtgeschehens. So findet beispielsweise bei mannigfaltigen Figuren in Lessings Werk eine enorme Veränderung ihres Denkens nur durch die Begegnung mit dem Protagonisten Nathan, der eine Art Bildungsinstanz für die anderen Figuren bildet, statt.
- Die edukativen und erleuchtenden Momente spielen in Lessings Werk eine ebenso tragenden Rolle, wie sie ihnen wenig später von Schiller zugeschrieben werden. Um es in Flauberts Worten zu formulieren, findet eine Art „Erziehung der Gefühle“ statt, sei es, dass es um Recha und ihrer Treue zum Offenbarungsglauben geht, oder dass der Tempelherr mit seinen problematischen, antisemitischen Tendenzen konfrontiert wird. Hierbei wird deutlich, dass der religionsübergreifende Konsens über allem steht.
- Was Schiller von seinem Publikum fordert, nämlich eine allumfassende Toleranzhaltung gegenüber anderen Perspektiven und Meinungen, findet in Nathan der Weise am Exempel der Religion statt. Auch auf die initiale Frage, welche Religion die einzig wahre sei, lässt sich keine eindeutige Antwort geben. Viel entscheidender, als die eine, wahre Religion auszumachen, ist es, sich mit den Haltungen und Werten der verschiedenen Glaubensrichtungen zu befassen und diese auf ihr humanitäres, ethisches und Toleranzpotenzial hin zu untersuchen.
- Die oben bereits beschrieben Absicht, Menschen unabhängig von Herkunft sowie Glauben zueinander zu bringen, gelingt Lessing zum Finale seines Buchs: Die Vertreter der drei Weltreligionen im Werk finden zueinander, ohne sich einander in ihren eigenen Anschauungen übertrumpfen zu wollen. Gleichzeitig finden sie heraus, dass das Wichtigste ihnen allen Dreien zugrunde liegt: die Offenheit, Neugierde und Toleranz gegenüber Neuem, Unerforschtem und der simultan existierende Stolz über die Einzigartigkeit der eigenen Religion.
- Indem Lessing durch seine Ringparabel veranschaulicht, dass ein religionsunabhängiger, übergeordneter Konsens der Menschen existiert, erhält die Bedeutung von Humanität eine neue Bedeutung. Gleichzeitig lässt sich aus Lessings Werk klar herauskristallisieren, welche Qual und welche Gräuel mit den Religionskämpfen einherging und der Autor beschönt die damals grausame Realität für Zivilisten keineswegs.
- Wenn man Parallelen zwischen Schillers aufklärerischem Ansatz und dem Protagonisten Nathan in Lessings Werk zu ziehen beabsichtigt, fällt auf, dass die Hauptfigur in Nathan der Weise eben die Charaktermerkmale aufweist, welche Schiller von Aufklärern und Progressiven erwartet.
- Verkörperung des Ideals eines aufgeklärten Menschen und Vermittlungsinstanz für aufklärerisches Gedankengut
- Nathan schreckt weder davor zurück, Verantwortung für sein eigenes Handeln zu übernehmen, sei es noch so unkonventionell, noch scheut er sich, seine neuen, progressiven Gedanken zu Humanität und Toleranz mit seinen Mitmenschen zu teilen. Damit versinnbildlicht er die Vorstellung eines makellosen Aufklärers im Sinne Schillers.
- Humanität: Als jemand, der Menschlichkeit über „die eine wahre Religion“ oder Konzepte wie „richtig und falsch“ stellt, jemand, der Wert auf das Zwischenmenschliche legt, die Auseinandersetzung mit seinen Mitmenschen sucht und fordert, folgt Nathan der Weise in Lessings gleichnamigem Werk ebenso Schillers Auffassung eines Idealbildes eines aufklärerischen Menschen.
- Bildungsauftrag: Genauso wie Schiller es als unabdingbar ansieht, dass das Theater seiner Rolle als Bildungsvermittler gerecht wird, übernimmt auch Nathan in der Ringparabel entscheidende erzieherische Aufträge gegenüber der anderen Figuren im Werk.
- Zuhörer und Konversationspartner: Auf der Suche nach einer Wahrheit, die nicht zwischen richtig und falsch unterscheidet, begegnet die Figur Nathans ihren Mitmenschen mit einer Offenheit, die ihn zu einem enormen Kommunikationspartner werden lässt.
- Nathan fungiert auch dahin als Paradebeispiel für einen erfolgreichen Menschen der Aufklärung, als dass er zwar im Laufe seines Lebens niederschmetternde Erfahrungen im Hinblick auf Verlust sammelt, jedoch diese anfängliche Schwäche in eine Stärke verwandelt, indem er sich mit dem Warum und Wie dieser Schicksalsschläge konfrontiert und auseinandersetzt.
- Trotz aller idealistischer Tendenzen ist Nathan am Ende auch nur ein Mensch und auch er ist demzufolge nicht frei von Verlust- sowie Zukunftsängsten sowie Niederlagen. So fürchtet er sich beispielsweise davor, Recha zu verlieren und muss auch einsehen, dass seine edukativen Fähigkeiten nicht dafür ausreichen, Daja zum Guten zu erziehen.
Schluss
- Was Schiller in seiner Rede anprangert, nämlich, dass die Menschen ihren sich weiterbilden und lernen sollen, Gefühl mit Verstand zu verbinden, führt Nathan bei Lessing als aufklärerische Figur aus, die sich ihres Bildungsauftrages und der Reichweite ihres Handelns bewusst ist.
- Ebenso wie Lessing es anhand der von ihm gewählten Ringparabel schon aufzeigt, betont auch später Schiller, dass der Mensch lernfähig ist und enormes Potenzial besäße, zur bestmöglichen Version seiner selbst zu gelangen, wenn ein gewisses Maß an Bildung neben der Befolgung humanitärer sowie weltoffener Prämissen stattfinden würde.
- Miteinbezug der Zuhörer- und Zuschauerschaft, indem Schiller offene (teils rhetorische) Fragen an das Publikum stellt, ebenso wie Lessing in Nathan der Weise, indem er Nathan mit mannigfaltigen Figuren in den Dialog und Austausch treten lässt und damit immer wieder Perspektivwechsel der Leser*innen fordert.
- Immer wieder wird an den Einsatz des eigenen Kopfes und Verstandes der Zuschauer*innen appelliert. Sowohl Lessing bewerkstelligt dies in seiner Ringparabel als auch Schiller im direkten Ansprechen des Publikums seiner Rede.
- Neben dem Aufruf, die Verstandesebene zu nutzen und einzusetzen, kommt jedoch auch die humorvolle, fürs Vergnügen verantwortliche Seite nicht zu kurz. So lassen sich sowohl in Lessings Werk zahlreiche humorvolle Textstellen und beispielsweise ironische oder sarkastische Stilmittel finden, als auch bei Schiller ironische Elemente in dessen Rede, die sich in hyperbolischen oder ironischen Äußerungen verstecken.