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Erörterung eines literarischen Textes

Thema:
Brigitte Kronauer (* 1940 - † 2019): Dankrede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung (2005)
Aufgabenstellung:
  • Stelle die wesentlichen Aussagen des Textauszugs von Brigitte Kronauer dar und formuliere schlussfolgernd, wie Kronauer die Figur des Woyzeck interpretiert.
    (22 Punkte)
  • Erörtere diesen Interpretationsansatz. Beziehe dabei deine Kenntnisse zu Büchners Dramentext ein.
    (55 Punkte)
Material
Dankrede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung (Auszug) (2005)
Brigitte Kronauer

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Warum bloß, frage ich Sie, sehr geehrte Damen und Herren, und nicht weniger mich, hat
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Georg Büchner die hier gleich folgenden Worte von jemandem sprechen lassen, aus dessen
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Mund sie dermaßen unnatürlich, ja unglaubwürdig klingen: „... so ein schöner, fester, grauer
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Himmel, man könnte Lust bekommen, einen Kloben hineinzuschlagen und sich dran zu
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hängen, nur wegen des Gedankenstrichels zwischen Ja und Nein und wieder Ja – und Nein.
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Ja und Nein? Ist das Nein am Ja oder das Ja am Nein schuld?“
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Nicht der eloquent müde Revolutionär Danton sagt die verblüffenden Sätze, nicht der graziös
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ennuyierte Prinz Leonce, nicht der in den Wahnsinn kippende Schriftsteller Lenz. Ihnen
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allen wäre solch spitzfindig formulierter Tief- oder Unsinn noch ein weiteres zuzutrauen. Aber
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Woyzeck? Ihm doch wohl eigentlich nicht, nicht Woyzeck, dem vierten Protagonisten von
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Büchners in fundamentaler Unterschiedlichkeit und notgedrungener Eile errichteten Univer-
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sums. Trotzdem, er, das arme Stück Mensch, wahlweise tauglich für erniedrigend idiotische
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Experimente oder, in tödlicher Variante, als Kanonenfutter, er hat’s geäußert.
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Jedoch: Darf er das?
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Nicht seine Überlegung an sich ist das mögliche Ärgernis, nur der Umstand, daß er, Woyzeck,
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sie anstellt. Obwohl er uns allerdings vorwarnte mit der ebenfalls für einen wie ihn befremd-
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lichen Bemerkung, manchmal habe man „so ’nen Charakter, so ’ne Struktur“. Ein hier von
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mir unterschlagenes, von Büchner zwischengeschobenes „Herr Hauptmann“ und ein paar, je
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nach Ausgabe, volksnah stimmend und in dialektnaher Manier weggelassene n’s am Ende, ein
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„schlage“ und „hänge“ tun dabei kaum was zur Sache. Was Woyzeck da in großer Not ent-
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schlüpft, ist richtiggehend intellektuell, klingt keineswegs nach urtümlich schlichtem Gemüt,
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hört sich unpassend akrobatisch, ja, um Himmels willen, heraus mit dem bösen Wort, artifi-
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ziell an!
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Liegt aber der literaturhistorische Ruhm Büchners nicht zu einem großen Teil darin begrü-
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ßen, daß er, ungeschönt und Mitgefühls weckend, einen jener Rechtlosen zum ersten Mal auf
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die Bühne brachte als das, was er war und ist: ein von der relevanten Gesellschaft allenfalls
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als Dreiviertelmenschen angesehenes und benutztes Wesen, ohne Bildung und daher fast unzivi-
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lisierit, das sein vermutlich ungeschlachtes Innenleben lieber, wenn’s schon sein muß, leih-
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weise in sogenannten Volksliedern oder Bibelversen artikulieren und eventuell goutierbar
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machen sollte?
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Gilt Büchner nicht jedem Schulkind als Revolutionär auch deshalb, weil er, im Gegensatz
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zum ungeliebten Schiller, die Wirklichkeit nicht idealisiert, sondern endlich in ihrer realen
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Erscheinung darstellte?
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Und dann ausgerechnet bei unserem Woyzeck, dem uns inzwischen so teuren Prachtexemplar
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des Geringens, des leidend Anspruchslosen derart komplizierte Gedanken und Gedankenstri-
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chel! […]
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Woyzeck […] konstatiert zu seiner Verzweiflung, jedoch ab sofort zu unserem Trost: „Jeder
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Mensch ist ein Abgrund.“
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Wir atmen auf! Ist das nicht plötzlich in unseren Ohren Engelsmusik? […] Auch Hinz und
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Kunz, oder, wie der Dichter Ror Wolf sagen würde, Noll, Lemm, Sapp und Klomm, sind:
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vielfältig? Sind jeder für sich: unergründlich, gerade so wie Sie und ich? […]
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Das ist die Revolution, eine Binsenweisheit, aber eine dauerhaft revolutionäre:
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Nicht die Erkenntnis, daß, recht unverbindlich, alle Menschen Menschen und irgendwie auch
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Brüder sind. Vielmehr, daß kein Mensch, ob Überflieger oder nicht, flach ist, simpel ist!
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Keiner, was er an Floskeln auch daherredet, gedankenlos, hilflos, Einverständnis heischend,
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ist, egal was Augenschein und Verabredung behaupten mögen, nur mit dieser einen, von ihm
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verbalisierten Dimension ausgestattet. […]


Anmerkungen zur Autorin:
Brigitte Kronauer ( * 1940 - † 2019) war Schriftstellerin.
Aus: Dankrede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung (Letzter Zugriff: 05.02.2024)
Rechtschreibung und Zeichensetzung entsprechen der Textquelle.

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