HT 3
Gedichtinterpretation mit anschließendem Gedichtvergleich
Thema: Annette von Droste-Hülshoff. (* 1797 - † 1848): Am Turme (1842) Bettina von Arnim (* 1785 - † 1859): Auf diesem Hügel überseh ich meine Welt! (1835) Aufgabenstellung:- Interpretiere das vorliegende Gedicht Am Turme von Annette von Droste-Hülshoff.
(38 Punkte)
- Vergleiche das Gedicht von Annette von Droste-Hülshoff mit dem Gedicht Auf diesem Hügel überseh ich meine Welt! von Bettina von Arnim unter besonderer Berücksichtigung der jeweiligen Wahrnehmung von Ich und Welt. Beziehe dabei sowohl inhaltliche als auch ausgewählte sprachliche Aspekte mit ein.
(34 Punkte)
1
Ich steh auf hohem Balkone am Turm,
2
Umstrichen vom schreienden Stare,
3
Und laß gleich einer Mänade den Sturm
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Mir wühlen im flatternden Haare;
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O wilder Geselle, o toller Fant,
6
Ich möchte dich kräftig umschlingen,
7
Und, Sehne an Sehne, zwei Schritte vom Rand
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Auf Tod und Leben dann ringen!
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Und drunten seh ich am Strand, so frisch
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Wie spielende Doggen, die Wellen
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Sich tummeln rings mit Geklaff und Gezisch,
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Und glänzende Flocken schnellen.
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O, springen möcht ich hinein alsbald,
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Recht in die tobende Meute,
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Und jagen durch den korallenen Wald
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Das Walroß, die lustige Beute!
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Und drüben seh ich ein Wimpel wehn
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So keck wie eine Standarte,
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Seh auf und nieder den Kiel sich drehn
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Von meiner luftigen Warte;
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O, sitzen möcht ich im kämpfenden Schiff,
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Das Steuerruder ergreifen
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Und zischend über das brandende Riff
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Wie eine Seemöwe streifen.
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Wär ich ein Jäger auf freier Flur,
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Ein Stück nur von einem Soldaten,
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Wär ich ein Mann doch mindestens nur,
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So würde der Himmel mir raten;
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Nun muß ich sitzen so fein und klar,
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Gleich einem artigen Kinde,
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Und darf nur heimlich lösen mein Haar
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Und lassen es flattern im Winde!
Aus: Annette von Droste-Hülshoff: Am Turme. In: Dies.: Werke in einem Band. Hrsg. von Clemens Heselhaus. 6. Auflage. München/Wien: Carl Hanser Verlag 1996, S. 109 f. (Erstveröffentlichung 1842). Material 2 Auf diesem Hügel überseh ich meine Welt! Bettina von Arnim
1
Auf diesem Hügel überseh ich meine Welt!
2
Hinab ins Tal, mit Rasen sanft begleitet,
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Vom Weg durchzogen, der hinüber leitet,
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Das weiße Haus inmitten aufgestellt,
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Was ist’s, worin sich hier der Sinn gefällt?
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Auf diesem Hügel überseh ich meine Welt!
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Erstieg ich auch der Länder steilste Höhen,
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Von wo ich könnt die Schiffe fahren sehen
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Und Städte fern und nah von Bergen stolz umstellt,
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Nichts ist’s, was mir den Blick gefesselt hält.
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Auf diesem Hügel überseh ich meine Welt!
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Und könnt ich Paradiese überschauen,
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Ich sehnte mich zurück nach jenen Auen,
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Wo Deines Daches Zinne meinem Blick sich stellt,
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Denn der allein umgrenzet meine Welt.
Aus: Bettina von Arnim: Auf diesem Hügel überseh ich meine Welt! In: Dies.: Goethes Briefwechsel mit einem Kinde. Seinem Denkmal. Hrsg. von Karl-Maria Guth. Berlin: Contumax 2015 (Sammlung Hofenberg), S. 437 f. (Erstveröffentlichung 1835) (Rechtschreibung und Zeichensetzung entsprechen der jeweiligen Textquelle.)
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Einleitung
- Das Gedicht Am Turme von Annette von Droste-Hülshoff, 1842 veröffentlicht, beschreibt die Gefühle und Sehnsüchte des lyrischen Ichs, das auf einem Balkon eines Turms steht und den Ausblick in die weite, wilde Natur genießt.
- Die Dichterin nutzt die erhöhte Position des lyrischen Ichs, um eine Reflexion über Freiheit, Abenteuerlust und die Begrenzungen der eigenen Existenz anzustellen.
Hauptteil
Inhaltliche Analyse- Sehnsucht nach Freiheit und Abenteuer: Das lyrische Ich steht "auf hohem Balkone am Turm" (Z. 1) und lässt sich vom "Sturm" (Z. 3) durch die Haare fahren, was als Symbol für Wildheit und ungezähmte Natur dient. Es wünscht sich, den Sturm „kräftig umschlingen“ und mit ihm „ringen“ zu können (Z. 6–8). Diese Zeilen verdeutlichen den inneren Drang nach Freiheit und das Verlangen nach einem intensiven, kraftvollen Leben, das im Gegensatz zu den gesellschaftlichen Erwartungen an eine Frau des 19. Jahrhunderts steht.
- Symbolik des Meeres und der Jagd: Der Blick auf die tanzenden Wellen am Strand ("frisch wie spielende Doggen", Z. 10) und das Verlangen, ins "tobende Meute" des Meeres zu springen (Z. 13-14) sowie "das Walroß, die lustige Beute" zu jagen (Z. 16), unterstreichen die Abenteuerlust und den Wunsch nach Aktivität und Unabhängigkeit des lyrischen Ichs.
- Kritik an gesellschaftlichen Beschränkungen: Das lyrische Ich äußert den Wunsch, ein "Jäger auf freier Flur" (Z. 25) oder zumindest "ein Mann doch mindestens nur" (Z. 27) zu sein, weil ihm dann "der Himmel [...] raten" würde (Z. 28), also die Möglichkeit hätte, seine Wünsche und Träume auszuleben. Stattdessen fühlt es sich gezwungen, „so fein und klar, gleich einem artigen Kinde“ zu sitzen (Z. 29-30), was die gesellschaftlichen Normen und Zwänge verdeutlicht, die Frauen in dieser Zeit auferlegt waren.
- Bildhafte Sprache und Metaphern: Die Dichterin verwendet viele Metaphern, um das Verlangen des lyrischen Ichs nach Freiheit zu veranschaulichen, wie zum Beispiel den „tollen Fant“ (Z. 5) für den Sturm und die „tobende Meute“ (Z. 14) für die Wellen. Diese Bilder unterstreichen die Wildheit und Lebendigkeit, die sich das lyrische Ich ersehnt.
- Antithetische Konstruktionen: Es wird ein deutlicher Kontrast zwischen den Vorstellungen des lyrischen Ichs (Wildheit, Bewegung, Abenteuer) und seiner tatsächlichen Situation (Stillsitzen und gesellschaftliche Erwartung) geschaffen, was durch antithetische Strukturen wie „Nun muß ich sitzen so fein und klar“ (Z. 29) gegen „möchte... wühlen im flatternden Haare“ (Z. 4) unterstrichen wird.
Teilaufgabe 2
Überleitung
- Im Vergleich der beiden Gedichte liegt ein besonderer Fokus auf der Wahrnehmung des lyrischen Ichs von sich selbst und der Welt.
Hauptteil
Inhaltliche Aspekte- Wahrnehmung der Welt: In Am Turme wird die Welt als eine wilde, aufregende und fast unzähmbare Kraft dargestellt, die das lyrische Ich reizt und die es sich zu eigen machen will. Die Natur, wie sie in den Bildern des Meeres und der Jagd beschrieben wird, symbolisiert Freiheit und das Ausleben ungezähmter Träume. Im Gegensatz dazu beschreibt das lyrische Ich in Auf diesem Hügel überseh ich meine Welt! von Bettina von Arnim seine Welt als überschaubar, ruhig und auf ein vertrautes Heim beschränkt. Während Droste-Hülshoffs lyrisches Ich nach dem Abenteuer in der Ferne strebt, betont Arnims lyrisches Ich die Zufriedenheit mit dem Naheliegenden und Vertrauten.
- Freiheitsdrang vs. Zufriedenheit: Während das lyrische Ich in Am Turme nach Freiheit und Abenteuern strebt und die gesellschaftlichen Grenzen beklagt, zeigt sich in Auf diesem Hügel überseh ich meine Welt! ein starkes Gefühl der inneren Zufriedenheit und des Friedens mit der eigenen, begrenzten Welt. Das lyrische Ich bei Arnim wünscht sich keinen Tapetenwechsel, sondern eine Rückkehr zu einem vertrauten Ort („Ich sehnte mich zurück nach jenen Auen“, Z. 13).
- Metaphorische Gestaltung: Beide Gedichte nutzen Metaphern, um die Wahrnehmung der Welt zu beschreiben. Droste-Hülshoff verwendet stark dynamische und kraftvolle Bilder („toller Fant“, „tobende Meute“), die die aktive Sehnsucht nach Freiheit darstellen. Im Gegensatz dazu nutzt Arnim ruhigere, harmonische Metaphern wie „Rasen sanft begleitet“ und „Auen“, die eine friedliche, abgeschlossene Welt suggerieren.
- Wiederholungen und Parallelismen: Bettina von Arnim verwendet Wiederholungen wie „Auf diesem Hügel überseh ich meine Welt!“ (Z. 1, 6, 11), um die feste Verwurzelung des lyrischen Ichs an seinem Ort und die Ablehnung der Ferne zu betonen. In Am Turme hingegen gibt es eine dynamische, fast atemlose Abfolge von Verben und Metaphern, die die Rastlosigkeit und den Bewegungsdrang des lyrischen Ichs unterstreichen.
Schluss
- Die Gedichte Am Turme und Auf diesem Hügel überseh ich meine Welt! unterscheiden sich stark in der Darstellung der Ich-Welt-Beziehung. Droste-Hülshoffs lyrisches Ich empfindet die Welt als Möglichkeit zur Entfaltung und strebt nach Freiheit, was im scharfen Kontrast zur Zufriedenheit und inneren Ruhe des lyrischen Ichs bei Bettina von Arnim steht, das seine Welt als abgeschlossenen, glücklichen Ort wahrnimmt.
- Beide Gedichte nutzen verschiedene sprachliche Mittel, um diese unterschiedlichen Haltungen zu verdeutlichen, wobei Droste-Hülshoff auf dynamische und kraftvolle Bilder setzt, während Arnim harmonische und statische Metaphern bevorzugt.