Lerninhalte in Deutsch

HT 2

Interpretation eines literarischen Textes mit weiterführendem Schreibauftrag

Thema:
Hans-Ulrich Treichel (* 1952): Der Verlorene (1998; Erzählanfang)
Aufgabenstellung:
  • Interpretiere den Anfang der Erzählung Der Verlorene von Hans-Ulrich Treichel.
    (39 Punkte)
  • Stelle kurz die Familiensituation Veit Kolbes in dem Roman Unter der Drachenwand von Arno Geiger dar. Vergleiche die beiden vorliegenden Textauszüge im Hinblick auf die Bedeutung der Kinderfotos für das Familienleben und die Hauptfiguren. Berücksichtige dabei die erzählerische und sprachliche Gestaltung.
    (33 Punkte)
Material 1
Der Verlorene (1998; Erzählanfang)
Hans-Ulrich Treichel
Die Erzählung handelt von einer Familie, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg in einer westdeutschen Kleinstadt in Zeiten des „Wirtschaftswunders“ erfolgreich eine neue Existenz aufbaut. Überschattet wird das Familienleben davon, dass der erstgeborene Sohn den Eltern während des Kriegs auf der Flucht abhandengekommen ist, weil die Mutter ihn aus Angst vor russischen Soldaten einer fremden Frau übergeben hat. Die Suche nach dem verlorenen Kind bestimmt das Familienleben und die Kindheit der männlichen Hauptfigur.
1
Mein Bruder hockte auf einer weißen Wolldecke und lachte in die Kamera. Das war während
2
des Krieges, sagte die Mutter, im letzten Kriegsjahr, zuhaus. Zuhaus, das war der Osten, und
3
der Bruder war im Osten geboren worden. Während die Mutter das Wort „Zuhaus“ aussprach,
4
begann sie zu weinen, so wie sie oft zu weinen begann, wenn vom Bruder die Rede war. Er
5
hieß Arnold, ebenso wie der Vater. Arnold war ein fröhliches Kind, sagte die Mutter, während
6
sie das Photo betrachtete. Dann sagte sie nichts mehr, und auch ich sagte nichts mehr und
7
betrachtete Arnold, der auf einer weißen Wolldecke hockte und sich freute. Ich weiß nicht,
8
worüber Arnold sich freute, schließlich war Krieg, außerdem befand er sich im Osten, und
9
trotzdem freute er sich. Ich beneidete den Bruder um seine Freude, ich beneidete den Bruder
10
um die weiße Wolldecke, und ich beneidete ihn auch um seinen Platz im Photoalbum. Arnold
11
war ganz vorn im Photoalbum, noch vor den Hochzeitsbildern der Eltern und den Porträts der
12
Großeltern, während ich weit hinten im Photoalbum war. Außerdem war Arnold auf einem
13
ziemlich großen Photo abgebildet, während die Photos, auf denen ich abgebildet war, zumeist
14
kleine, wenn nicht winzige Photos waren. Photos, die die Eltern mit einer sogenannten Box
15
geschossen hatten, und diese Box konnte anscheinend nur kleine beziehungsweise winzige
16
Photos machen. Die Photos, auf denen ich abgebildet war, mußte man schon sehr genau be-
17
trachten, um überhaupt irgend etwas erkennen zu können. Eines dieser winzigen Photos zeigte
18
beispielsweise ein Wasserbecken mit mehreren Kindern, und eines dieser Kinder war ich.
19
Allerdings war von mir nur der Kopf zu sehen, da ich, der ich damals noch nicht schwimmen
20
konnte, im Wasser saß, das mir wiederum fast bis zum Kinn reichte. Außerdem war mein
21
Kopf teilweise verdeckt von einem im Wasser und vor mir stehenden Kind, so daß das win-
22
zige Photo, auf dem ich abgebildet war, nur einen Teil meines Kopfes direkt über der Wasser-
23
oberfläche zeigte. Darüber hinaus lag auf dem sichtbaren Teil des Kopfes ein Schatten, der
24
wahrscheinlich von dem vor mir stehenden Kind ausging, so daß von mir in Wahrheit nur das
25
rechte Auge zu sehen war. Während mein Bruder Arnold schon zu Säuglingszeiten nicht nur
26
wie ein glücklicher, sondern auch wie ein bedeutender Mensch aussah, war ich auf den meis-
27
ten Photos meiner Kindheit zumeist nur teilweise und manchmal so gut wie überhaupt nicht
28
zu sehen. So gut wie überhaupt nicht zu sehen war ich beispielsweise auf einem Photo, das
29
anläßlich meiner Taufe aufgenommen worden war. Die Mutter hielt ein weißes Kissen auf
30
dem Arm, über dem eine wiederum weiße Decke lag. Unter dieser Decke befand ich mich,
31
was man daran erkennen konnte, daß die Decke sich am unteren Ende des Kissens verschoben
32
hatte und die Spitze eines Säuglingsfußes darunter hervorschaute. In gewisser Weise setzten
33
alle weiteren Photos, die von mir in meiner Kindheit gemacht worden waren, die Tradition
34
dieses ersten Photos fort, nur daß auf späteren Photos statt des Fußes der rechte Arm, die halbe
35
Gesichtshälfte oder wie auf dem Schwimmbadphoto ein Auge zu sehen war. Nun hätte ich
36
mich mit der nur teilweisen Anwesenheit meiner Person im Familienalbum abfinden können,
37
hätte es sich die Mutter nicht zur Angewohnheit gemacht, immer wieder nach dem Album
38
zu greifen, um mir die darin befindlichen Photos zu zeigen. Was jedesmal darauf hinauslief,
39
daß über die kleinen und winzigen und mit der Box geschossenen Photos, auf denen ich bezie-
40
hungsweise einzelne Körperteile von mir zu sehen waren, ziemlich schnell hinweggegangen
41
wurde, während das mir gleichsam lebensgroß erscheinende Photo, auf dem mein Bruder
42
Arnold zu sehen war, Anlaß zu unerschöpflicher Betrachtung bot. Das hatte zur Folge, daß
43
ich zumeist mit verkniffenem Gesicht und mißlaunig neben der Mutter auf dem Sofa saß und
44
den fröhlichen und gutgelaunten Arnold betrachtete, während die Mutter zusehends ergriffe-
45
ner wurde. In den ersten Jahren meiner Kindheit hatte ich mich mit den Tränen der Mutter
46
zufriedengegeben und mir keine weiteren Gedanken darüber gemacht, warum die Mutter beim
47
Betrachten des fröhlichen Arnold so häufig zu weinen begann. Und auch die Tatsache, daß
48
Arnold wohl mein Bruder war, ich ihn aber noch niemals leibhaftig zu Gesicht bekommen
49
hatte, hatte mich die ersten Jahre nur beiläufig beunruhigt, zumal es mir nicht unlieb war,
50
mein Kinderzimmer nicht mit ihm teilen zu müssen. Irgendwann aber klärte mich die Mutter
51
insoweit über Arnolds Schicksal auf, als sie mir offenbarte, daß Arnold auf der Flucht vor
52
dem Russen verhungert sei. „Verhungert“, sagte die Mutter, „in meinen Armen verhungert.“
53
Denn auch sie selbst sei mehr oder weniger gänzlich ausgehungert gewesen während des lan-
54
gen Trecks vom Osten in den Westen, und sie habe keine Milch und auch sonst nichts gehabt,
55
um das Kind zu ernähren. Auf meine Frage, ob denn niemand außer ihr Milch für das Kind
56
gehabt habe, sagte die Mutter nichts, und auch alle meine anderen Fragen nach den näheren
57
Umständen der Flucht und dem Verhungern meines Bruders Arnold beantwortete sie nicht.
58
Arnold war also tot, was wohl sehr traurig war, mir aber den Umgang mit seinem Photo er-
59
leichterte. Der fröhliche und wohlgeratene Arnold war mir nun sogar sympathisch geworden,
60
und ich war stolz darauf, einen toten Bruder zu besitzen, der zudem noch so fröhlich und wohl-
61
geraten ausschaute. Ich trauerte um Arnold, und ich war stolz auf ihn, ich teilte mit ihm mein
62
Kinderzimmer und wünschte ihm alle Milch dieser Welt. Ich hatte einen toten Bruder, ich
63
fühlte mich vom Schicksal ausgezeichnet. Von meinen Spielkameraden hatte kein einziger
64
einen toten und schon gar nicht auf der Flucht vor dem Russen verhungerten Bruder.

Aus: Hans-Ulrich Treichel: Der Verlorene. Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuch Verlag 2006, S. 7–12. (Erstveröffentlichung 1998)
Rechtschreibung und Zeichensetzung entsprechen der Textquelle.
Material 2
Unter der Drachenwand (2018; Auszug)
Arno Geiger
1
Wann immer ich konnte, zog ich mich in mein Zimmer zurück, das Zimmer, das ich als
2
Schüler bewohnt hatte. Seit ich im Spätsommer vor mehr als fünf Jahren zum Militärdienst
3
eingezogen worden war, hatte sich das Zimmer kaum verändert, die Schulbücher lagen noch
4
im Schreibtisch, mich an die Jahre erinnernd, die mir niemand zurückgab. Ich hätte versuchen
5
können, aufzuholen, was aufzuholen war, statt dessen lag ich auf dem Bett ohne Antrieb, ein
6
abgenagtes Stück Herz. Und immer wieder ging mir durch den Kopf: Ich habe so viel Zeit
7
verloren, dass ich sie nicht aufholen kann.
8
Ein Studium an der Technischen Hochschule hätte mir keine Probleme bereitet. Ich hätte
9
nicht länger dafür benötigt als mindestens vorgeschrieben. Ich wäre jetzt unabhängig, auf
10
eigenen Beinen, und die Bevormundungen meines Vaters würden mich kalt lassen. / Oft in
11
Russland, wenn die Staubwolken über das Land gezogen waren, hatte ich mir gesagt: Sieh an,
12
meine Tage ...
13
Dass mit mir etwas nicht stimmte, erkannte man auch daran, dass an den Wänden der Woh-
14
nung, in fast jedem Zimmer, Bilder von mir hingen, Erinnerungsbilder, ich war überall ver-
15
treten. Die Bilder hatten am Familienleben teilgenommen, ich am Krieg. Im Wohnzimmer
16
hatte man mir den schönsten Platz eingeräumt, neben dem Porträt von Hilde. Mama sagte,
17
überall, wo sie sei, wolle sie ihren Schöps sehen. Papa meinte, wir müssten ihr die Freude
18
lassen. / Jetzt sah man mich auch im Bücherregal als Verwundeten im Saarland. Auch hier
19
zeigte sich Papa großzügig, die Aufnahme sei sehr schön, man könne wirklich nichts daran
20
aussetzen.
21
Als überraschend empfand ich, dass es den Asparagus von Hilde noch gab. Hilde war seit
22
sieben Jahren tot, und ihr Asparagus blühte. Und Hildes Gitarre lehnte noch immer an der
23
Wand, seit sieben Jahren, stumm und nutzlos wie ich. Ein Instrument, auf dem keiner mehr
24
spielt, ist wohl das traurigste. / Was ist in Hilde vorgegangen, wenn sie im Mädchenzimmer
25
Gitarre gespielt hat? War sie verzweifelt? Hat sie Angst gehabt? Dass ich das nie wissen
26
werde! Warum habe ich sie nie gefragt? Und warum habe ich ihr nicht helfen können? Es
27
wäre besser für mich, wenn ich sie gefragt hätte. / Jeder kleine Gegenstand zerreißt mir das
28
Herz, alles, was Hilde gehört hat und jetzt arm und verloren herumsteht.
29
Hilde hätte mit ihrem Leben so viel anzufangen gewusst, sie hat sich so freuen können, ob
30
es nun Musik war oder ein Glas Bier an einem warmen Abend in einem Gasthausgarten. Sie
31
hat dem Leben fast bis zuletzt irgendwas Schönes abgetrotzt. Und ich selber starre auf meine
32
leeren Hände, liege in meinem muldigen Schülerbett, bedauere mich selbst, empfinde Reue,
33
Leid und Scham. Hilde konnte leben und musste sterben. Ich, der ich leben darf, weiß damit
34
nichts anzufangen. Wie unzufrieden Hilde mit mir wäre. Aber wie soll ich es ändern? Wie
35
soll ich mich ändern?

Aus: Arno Geiger: Unter der Drachenwand. Roman. 2. Aufl. München: Carl Hanser 2018, S. 23–25.
Rechtschreibung und Zeichensetzung entsprechen der Textquelle.

Weiter lernen mit SchulLV-PLUS!

monatlich kündbarSchulLV-PLUS-Vorteile im ÜberblickDu hast bereits einen Account?