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Interpretation eines Gedichts mit anschließendem Gedichtvergleich
Thema: Norbert Hummelt (* 1962): die stare (2004) Wilhelm Müller ( * 1794 - † 1827): RÜCKBLICK (1823) Aufgabenstellung:- Interpretiere das Gedicht die stare von Norbert Hummelt.
(39 Punkte)
- Vergleiche Hummelts Gedicht mit Wilhelm Müllers Gedicht Rückblick. Berücksichtige hierbei insbesondere die jeweiligen Haltungen der lyrischen Sprecher.
(33 Punkte)
1
abdrehende schwärme wo ziehen sie hin
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den abend nicht hier noch woanders zu
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orten so war in der nacht da ich straßen
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durchstrich die u-bahn versäumte u. alles
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verblieh u. hielt vor der lange vergessenen
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türe kein licht da kein name kein schild zu
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erkennen nur drehen u. schwärmen es roch
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nach parfüm für eine sekunde dann wieder
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vorüber die jahre wie flogen die stare wohin
Aus: Norbert Hummelt: die stare. In: Ders.: Stille Quellen. Gedichte. München: Luchterhand 2004, S. 17. Rechtschreibung und Zeichensetzung entsprechen der Textquelle. Material 2 RÜCKBLICK (1823) Wilhelm Müller
1
Es brennt mir unter beiden Sohlen,
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Tret ich auch schon auf Eis und Schnee.
3
Ich möcht nicht wieder Atem holen,
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Bis ich nicht mehr die Türme seh.
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Hab mich an jedem Stein gestoßen,
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So eilt ich zu der Stadt hinaus;
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Die Krähen warfen Bäll und Schloßen
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Auf meinen Hut von jedem Haus.
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Wie anders hast du mich empfangen,
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Du Stadt der Unbeständigkeit!
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An deinen blanken Fenstern sangen
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Die Lerch und Nachtigall im Streit.
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Die runden Lindenbäume blühten,
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Die klaren Rinnen rauschten hell,
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Und ach, zwei Mädchenaugen glühten! –
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Da war’s geschehn um dich, Gesell!
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Kömmt mir der Tag in die Gedanken,
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Möcht ich noch einmal rückwärts sehn,
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Möcht ich zurücke wieder wanken,
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Vor ihrem Hause stille stehn.
Aus: Wilhelm Müller: Rückblick. In: Ders.: Die Winterreise und andere Gedichte. Hrsg. von Hans-Rüdiger Schwab. Frankfurt am Main: Insel Verlag 1986, S. 50 f. Rechtschreibung und Zeichensetzung entsprechen der Textquelle.
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Einleitung
- Das Gedicht die stare von Norbert Hummelt aus dem Jahr 2004 ist ein kurzes, aber tiefgründiges Gedicht, das eine meditative Reflexion über Vergänglichkeit, Erinnerung und die Unbeständigkeit des Lebens bietet.
- Der lyrische Sprecher beobachtet den Flug von Staren und setzt diesen mit seinen eigenen Erfahrungen und den flüchtigen Momenten seines Lebens in Beziehung.
- Durch seine Bilder und Symbolik wird das Gedicht zu einer Reflexion über das Leben als etwas, das ständig in Bewegung ist und dessen bedeutende Momente oft nur kurz und flüchtig sind.
Hauptteil
Inhaltliche Analyse- Das Gedicht beginnt mit der Beobachtung von Schwärmen, die abdrehen und sich in den Himmel erheben. Die Stare ziehen weiter und verlassen ihren bisherigen Ort. Die Frage „wo ziehen sie hin“ (V. 1) bleibt dabei offen.
- Es wird nicht auf ein konkretes Ziel verwiesen, sondern auf das Ziehen selbst, das die Stare machen. Die Bewegung in die Ungewissheit, das Weiterziehen, ist ein zentrales Motiv, das im gesamten Gedicht fortgesetzt wird.
- Der lyrische Sprecher bezieht diese Bewegung auf seine eigene innere Wanderung und das Verlassen von alten Orten oder Zuständen. Die Antwort auf die Frage nach dem Ziel bleibt unklar, was den unbeständigen Charakter des Lebens widerspiegelt.
- In der zweiten Strophe beschreibt der lyrische Sprecher, wie er nachts durch die Straßen geht, die U-Bahn nimmt und dabei das Gefühl hat, dass alles, was ihn umgibt, ihm entgleitet und vergessen wird. Das Bild der „lange vergessenen Tür“ (V. 5 f.) ist ein starkes Symbol für das Verblassen der Erinnerung und das Verlieren von Orientierung. Es gibt keinen „Name[n]“ (V. 6) oder ein „Schild“ (V. 6), das den Ort oder den Zustand klar definiert.
- Dies könnte darauf hinweisen, dass der lyrische Sprecher sich selbst als in einer Phase der Orientierungslosigkeit befindlich empfindet. Diese Unbestimmtheit und das Fehlen von festen Verankerungen spiegeln die Veränderung und Vergänglichkeit der eigenen Lebensumstände wider.
- In der letzten Strophe, in der die Stare erneut erwähnt werden, fragt der lyrische Sprecher „wohin“ (V. 9) die Stare fliegen, was den Gedichttitel direkt aufgreift. Die Vergangenheit und die flüchtigen Jahre werden reflektiert.
- Der lyrische Sprecher erinnert sich an vergangene Momente, die genauso schnell vorüber waren wie der Flug der Stare. Es bleibt die Frage nach dem Ziel, nach dem Fortgang der Zeit. Der Blick zurück wird durch das Bild der fliegenden Vögel metaphorisch für die Vergänglichkeit des Lebens und die Ungewissheit der eigenen Reise.
- Das Gedicht besteht aus neun Versen. Das Gedicht folgt keinem festen Metrum oder Reimschema, was eine gewisse Offenheit schafft. Die Unregelmäßigkeit der Struktur spiegelt das Fehlen einer festen Ordnung wider. Dazu passt auch die verwendete Abkürzung „u.“ (V. 4, 5, 7) für und. Auch die kleingeschreibene Schrift im Gedicht suggeriert eine gewisse Ungezwungenheit.
- Die Stare selbst sind ein zentrales Symbol des Gedichts. Sie stehen für Bewegung, Flüchtigkeit und das Verlassen von Orten, was die Themen Vergänglichkeit und Unbeständigkeit verstärkt.
- Der Sprachgebrauch ist einfach und klar, aber durch die Bilder und Symbole wird eine tiefere Bedeutungsebene erzeugt. Die „abdrehende[n] Schwärme“ (V. 1) und die „lange vergessene Türe“ (V. 5) sind starke metaphorische Bilder, die die Themen des Vergessens, des Verlustes und der Bewegung aufgreifen. Die wiederholte Frage „wohin“ (Vgl. V. 1; V. 9) verdeutlichen das ständige Streben und die Ungewissheit der eigenen Reise. Das Gedicht endet mit der offenen Frage nach dem Ziel.
- Der Klang des Gedichts ist ruhig und fließend, was durch die fließende Syntax und die kurzen, prägnanten Verse mit Enjambements unterstützt wird.
Fazit
- Insgesamt wird das Gedicht durch die Symbolik der Stare und die Vergänglichkeit des Moments geprägt. Die Stare stehen für Bewegung, für Flüchtigkeit und für das Verlassen von Orten. Gleichzeitig spiegeln sie den inneren Zustand des lyrischen Sprechers wider, der sich in einer Welt von Unbeständigkeit und Unklarheit befindet.
- Das Gedicht stellt die Frage, was bleibt und wohin die Reise geht, ohne eine Antwort zu geben, was es zu einem offenen und meditativen Werk macht.
Teilaufgabe 2
Überleitung
- Beide Gedichte, die stare von Norbert Hummelt und Rückblick von Wilhelm Müller, setzen sich mit der Vergänglichkeit von Momenten und der Bewegung der Zeit auseinander.
- Während Hummelt in seinem Gedicht die fließende Bewegung der Stare und deren unklaren Zielort verwendet, um das Thema der Vergänglichkeit und Erinnerung zu reflektieren, nutzt Müller das Bild des Rückblicks und des Verlusts der Jugend als zentralen Punkt seines Gedichts.
- In beiden Gedichten spielen die Haltungen der lyrischen Sprecher eine wichtige Rolle, wobei Hummelt eine eher reflektierende Haltung einnimmt und Müller eine nostalgische und reuevolle.
Hauptteil
Die Haltung des lyrischen Sprechers in die stare:- Der lyrische Sprecher in die stare ist in einer kontemplativen Haltung, die von Unsicherheit und Offenheit geprägt ist. Er stellt Fragen, ohne klare Antworten zu erhalten, und reflektiert über die Bewegung der Stare als Metapher für seine eigene Lebensreise.
- Das Gedicht lässt Raum für Interpretationen und stellt keine festen Werte oder Ziele auf, sondern zeigt die Offenheit und die Flüchtigkeit des Lebens. In den Fragen, die der Sprecher stellt („wo ziehen sie hin?“ V. 9), kommt eine leichte Melancholie und Entfremdung zum Ausdruck, doch der Ton bleibt insgesamt ruhig und reflektierend.
- Im Gegensatz dazu zeigt Müller in Rückblick einen lyrischen Sprecher, der von Nostalgie, Reue und Wehmut geprägt ist. Der Sprecher blickt zurück auf seine Jugend und empfindet eine gewisse Unzufriedenheit und Verlust über das, was er nicht mehr zurückholen kann. Die erste Strophe („Es brennt mir unter beiden Sohlen“ V. 1) zeigt die Sehnsucht und den Drang, sich von der Vergangenheit zu lösen.
- Doch der Blick auf die vergangene Stadt, das Zerbrechen der Jugendträume und die Änderung des Lebens lässt den Sprecher an der Vergänglichkeit des Lebens zweifeln (Vgl. V. 13–16). Der Sprecher empfindet Schuld und Bedauern für das, was er in seiner Jugend versäumt hat.
- Beide Gedichte beschäftigen sich mit der Vergänglichkeit der Zeit, jedoch auf unterschiedliche Weise. Während der Sprecher in die stare eine offene Haltung einnimmt und die Ungewissheit der Zukunft akzeptiert, ist der Sprecher in Rückblick von Reue und Nostalgie geprägt.
- Der Blick nach vorn in Hummelts Gedicht bleibt offen und unbestimmt, während Müller in Rückblick eher einen rückblickenden und beklagenden Blick auf das Leben wirft. Der Sprecher in die stare reflektiert, wie die Flüchtigkeit des Moments die Reise des Lebens prägt, ohne sich an konkreten Zielen festzuhalten, während der Sprecher in Rückblick seine Jugend und seine Vergangenheit als verloren betrachtet und damit hadert.
Schluss
- Insgesamt spiegeln die Gedichte von Hummelt und Müller zwei unterschiedliche Haltungen zur Vergänglichkeit der Zeit wider. Hummelt zeigt einen reflektierenden und offenen Blick auf das Leben, der die Bewegung und Veränderung akzeptiert, während Müller einen nostalgischen und klagenden Rückblick auf eine vergangene, verlorene Jugend wirft.
- Beide Gedichte thematisieren die Frage nach der Vergänglichkeit und dem Verlust, aber sie tun dies aus unterschiedlichen Perspektiven und mit unterschiedlichen emotionalen Schwerpunkten.