Thema 2
Interpretation eines literarischen Textes mit weiterführendem Vergleich
Thema: Kurt Schwitters (1887–1948): Die Himmelsleiter (1926/27) Jürgen Becker (1932–2024): Apfelgeschichte (1981) Aufgabenstellung:- Interpretiere den Text Die Himmelsleiter von Kurt Schwitters.
- Vergleiche den Text Die Himmelsleiter von Kurt Schwitters mit dem Text Apfelgeschichte von Jürgen Becker unter dem Aspekt der Gestaltung des Aufstiegsmotivs. Gehe dabei auf inhaltliche sowie sprachlich-gestalterische Aspekte ein.
(ca. 60 %)
(ca. 40 %)
1
Die Mutter hatte Hans vom Himmel erzählt, wie schön es da wohl wäre, und daß der noch
2
höher als der Mond ist. Aber Hans wollte hin und fragte seine Mutter, wie man das machte. Da
3
sagte die Mutter: „Da mußt Du eine Leiter nehmen und da hinaufsteigen, und ich stehe unten
4
und sehe zu.“ – „Und wenn die Leiter nun nicht lang genug ist?!“ – „Dann setzt Du oben noch
5
eine Leiter darauf.“ – „Und wenn die beiden zusammen wieder zu kurz sind?“ – „Dann nimmst
6
Du die von unten und setzt sie wieder auf die zweite Leiter oben drauf.“
7
„Mutter, ich habe schon zwei Leitern, willst du kommen und zusehen?“ – Und die Mutter mußte
8
tragen helfen, und nun wollte Hans die Leitern aufstellen, aber er hatte nicht Kraft genug dazu.
9
Da fragte Hans, ob es denn unbedingt in die Luft sein müßte, ob er nicht ebensogut die beiden
10
Leitern auf der Erde nebeneinander legen könne. Und die Mutter meinte sogar, es wäre
11
besser, weil er doch die Leitern schlecht heben könnte.
12
Und nun stellte sich die Mutter unten auf, und Hans setzte Leiter auf Leiter, alles unten auf der
13
Erde. Und wenn er auf einer Leiter oben war, lief er immer neben den Leitern wieder herunter
14
und trug die untere Leiter auf die obere oben drauf. Und er kletterte so hoch, daß ihn die Mutter
15
kaum mehr sehen konnte. So hoch war er schon geklettert. Da sagte Hans plötzlich: „Ach,
16
was!“, ließ die Leitern einfach liegen und lief zur Mutter zurück.
Aus: Schwitters, Kurt: Das literarische Werk. Bd. 2. Prosa 1918–1930. Hg. von Friedhelm Lach. Köln: DuMont 1974, S. 296. Material 2 Apfelgeschichte (1981) Jürgen Becker
1
Wem ist auf die Rolltreppe ein Apfel gefallen? Nun steigt der Apfel langsam mit nach oben.
2
Oben, wo die Rolltreppe sich flach zwischen die Zähne der Trittstufe schiebt, bleibt der Apfel
3
an seinem Stiel hängen und wird im Lauf des Vormittags zerrieben.
Aus: Becker, Jürgen: Erzählen bis Ostende. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1981, S. 29.
Weiter lernen mit SchulLV-PLUS!
monatlich kündbarSchulLV-PLUS-Vorteile im ÜberblickDu hast bereits einen Account?Teilaufgabe 1
Einleitung
- Kurt Schwitters' Prosatext Die Himmelsleiter (1926/27) entfaltet in schlichter Sprache eine vielschichtige Parabel über das Streben nach Unerreichbarem, die Bedingungen menschlicher Zielsetzung sowie das Spannungsverhältnis zwischen kindlicher Neugier und erwachsener Rationalität.
- Die Erzählung über einen Jungen namens Hans, der mithilfe von Leitern den Himmel erklimmen möchte, bedient sich einer kindlich-fiktiven Erzählweise, in der sich existentielle Fragen nach Sinn, Erreichbarkeit und Umdeutung von Erfolg und Scheitern verdichten.
Hauptteil
- Inhaltlich wird die Geschichte durch das anfängliche Gespräch zwischen Mutter und Sohn strukturiert, das als Rückgriff auf eine Himmelserzählung dient. Bereits der Titel verweist auf das biblische Motiv der Jakobsleiter (Vgl. 1. Mose 28, 10–13), das Schwitters parodistisch überhöht: Hans fragt, wie er den Himmel erreichen könne (Vgl. Z. 2).
- Die Mutter schlägt pragmatisch vor, eine Leiter zu verwenden (Z. 3), woraufhin Hans weitere praktische Probleme benennt (Vgl. Z. 4–5), etwa die unzureichende Länge. Dabei kulminiert die Diskussion in einer absurden Logik, die in der Verwendung zweier Leitern gipfelt: eine wird auf die andere gestellt, die wiederum durch ständiges Umsetzen erneut verwendet wird (Vgl. Z. 6).
- Diese Idee symbolisiert den menschlichen Umgang mit Schwierigkeiten durch Wiederholung, Zirkularität und symbolischen Fortschritt. Hans' Wunsch, die Mutter solle zuschauen, unterstreicht seine kindliche Sehnsucht nach Anerkennung (Vgl. Z. 7).
- Die Mutter muss helfen, doch Hans hat nicht die Kraft, die Leitern aufzurichten (Vgl. Z. 8). Daraufhin modifiziert er seinen Plan: Statt vertikal zu bauen, legt er die Leitern horizontal auf die Erde (Vgl. Z. 9–11). Diese Umdeutung des Scheiterns führt nicht zum Ziel, stellt jedoch eine kreative Umdeutung dar. Die Mutter bestärkt ihn in seinem Vorgehen (Vgl.Z. 11), was auf eine förderliche Erziehungshaltung verweist.
- Im letzten Abschnitt wird das Projekt zwar formal weitergeführt – Hans trägt die untere Leiter stets auf die obere (Vgl. Z. 13–14) –, doch durch die Wiederholung entsteht eine absurde Handlungsschleife, in der er sich scheinbar der Höhe nähert, tatsächlich aber auf der Erde bleibt. Die finale Wendung mit Hans' Ausspruch „Ach, was!“ (V. 15 f.)und seiner Rückkehr zur Mutter, markiert das abrupte Ende der Unternehmung (Vgl. Z. 15).
- Das Wegwerfen der Leitern und die Heimkehr stehen für den Abschied von einer illusionären Zielerreichung zugunsten emotionaler Bindung und Realitätsakzeptanz. Sprachlich ist der Text in einfacher Lexik gehalten, was die kindlich-naive Wahrnehmungsperspektive verstärkt. Direkte Rede dominiert die Erzählweise (Vgl.Z. 3–6), wodurch eine Unmittelbarkeit der Kommunikation entsteht.
- Der Erzähler bleibt auktorial, aber zurückhaltend kommentierend, was dem Leser Freiraum für Interpretation bietet. Stilistisch arbeitet Schwitters mit Wiederholungen (z. B. „Leiter auf die obere oben drauf“ , Z. 14), Konjunktionen („und“, „aber“) sowie Paradoxien, etwa in der Idee, durch das Nebeneinanderlegen von Leitern auf dem Boden eine Höhe zu erreichen (Vgl. Z. 10). Modalverben wie „müssen“, „können“, „wollen“ unterstreichen das Spiel mit Handlungsmöglichkeiten und -grenzen.
- Zudem parodiert Schwitters erzieherische Erzählmuster, etwa durch die Rollenverteilung: Die Mutter ist namenlos, ihre Rolle beschränkt sich auf das Zuschauen und Helfen, während Hans als Träger intertextueller Anspielungen (z. B. „Hans im Glück“) fungiert.
- Die Figur Hans verkörpert kindliche Zielstrebigkeit, aber auch illusionierte Naivität. Seine Sehnsucht richtet sich auf ein Unerreichbares (den Himmel), sein Umgang damit ist kreativ und spielerisch. Sein Abbruch signalisiert ein selbstbestimmtes Ende. Die Mutter wiederum ist ambivalent: Sie unterstützt, überlässt aber letztlich dem Kind die Erfahrung des Scheiterns und kehrt damit die Funktion traditioneller Erziehung um.
Fazit
- Schwitters' Text ist eine poetisch verdichtete Parabel über den Umgang mit Scheitern, Zielerreichung und individueller Deutung von Erfolg.
- In der absurd-komischen Erzählweise werden Grundfragen menschlichen Daseins, insbesondere der Selbstfindung und der Illusion von Machbarkeit, in kindlich zugespitzter Form verhandelt. Die Himmelsleiter bleibt unerklommen, doch Hans hat gelernt, dass nicht jedes Ziel überhaupt erreicht werden muss, um Bedeutung zu haben.
Teilaufgabe 2
Überleitung
- Das Motiv des Aufstiegs wird nicht nur in Schwitters' Text thematisiert, sondern auch in Jürgen Beckers minimalistischem Prosatext Apfelgeschichte (1981), der in nur drei Zeilen eine symbolhafte Deutung menschlicher Erfahrungsprozesse ermöglicht. Beide Texte variieren das Thema des Aufstiegs, zeigen jedoch grundlegende Unterschiede in Zielsetzung, Handlungsmotivation und sprachlich-stilistischer Umsetzung.
Hauptteil
-
Inhaltlich verbindet beide Texte das Motiv des Aufsteigens als Metapher für Lebensentwürfe oder das Streben nach Zielen. Während Schwitters einen aktiven Protagonisten zeigt, der sich bewusst für einen (wenn auch illusionären) Aufstieg entscheidet, ist Beckers „Apfel“ (Z. 1) ein passives Objekt, das mechanisch durch eine Rolltreppe transportiert wird.
- Diese Kontrastierung von Aktivismus und Passivität spiegelt unterschiedliche Menschenbilder: das gestaltende Kind bei Schwitters, der mechanisch ausgelieferte Apfel bei Becker.
- Auch im Hinblick auf die Rolle von Hilfsmitteln ergibt sich ein Unterschied: Schwitters' Hans braucht Leitern und mütterliche Hilfe (Vgl. Z. 7–8), Beckers Apfel hingegen steigt durch technische Notwendigkeit. Der Aufstieg endet bei Schwitters in einem bewussten Abbruch (Vgl. Z. 15–16), bei Becker dagegen in der Vernichtung: Der Apfel bleibt oben an der Trittstufe hängen und wird „zerrieben“ (Z. 3).
- Der symbolische Gehalt unterscheidet sich ebenfalls: Schwitters' Text ist durch die explizite religiöse Symbolik der „Himmelsleiter“ aufgeladen, Beckers Text verzichtet auf übergreifende Erklärungen und impliziert stattdessen eine kühle, mechanisierte Welt, in der Prozesse ohne Ziel und Sinn ablaufen.
- Die Vernichtung des Apfels verweist auf die Absurdität oder Unmenschlichkeit moderner Systeme. Sprachlich unterscheiden sich beide Texte stark: Schwitters arbeitet mit parabelhaftem Erzählen, direkter Rede und narrativer Entwicklung. Becker hingegen reduziert auf lakonische, beschreibende Sätze, die in einer neutralen, distanzierten Sprache gehalten sind.
- Der Text wirkt eher wie ein Beobachtungsprotokoll als eine Geschichte. Stilistisch ist Schwitters' Text erzählerisch, dialogisch und bildhaft, Becker hingegen sachlich, reduziert und ohne personalisierte Figuren. Der Apfel wird nicht vermenschlicht, sondern bleibt Objekt.
- Der Kontrast zur emotional aufgeladenen Suche nach Sinn und Erfahrung bei Schwitters ist deutlich.
Schluss
- Im Vergleich verdeutlicht sich, dass Schwitters' Die Himmelsleiter das Aufstiegsmotiv als Suche nach Sinn, Erfahrung und Selbstfindung erzählt, während Becker in der Apfelgeschichte die Mechanik und Sinnlosigkeit des Aufsteigens thematisiert.
- In Schwitters' Welt ist das Ziel irrelevant, der Prozess entscheidend; in Beckers Welt erscheint der Aufstieg als schicksalhafte Bewegung ohne Rettung. Damit spiegeln die Texte unterschiedliche Haltungen gegenüber Zielverfolgung, Freiheit und menschlicher Agency im 20. Jahrhundert wider.