Lerninhalte in Deutsch

Thema 3

Erörterung eines literarischen Textes

Thema:
Karl Walter Widmer (* 1903 - † 1965): Der sogenannte Gespenster-Hoffmann (1964)
E. T. A. Hoffmann (* 1776 - † 1822): Der Sandmann (1816)
Aufgabenstellung:
  • Stelle die Kernaussagen des Textes Der sogenannte Gespenster-Hoffmann von Karl Walter Widmer dar und erläutere die Intention.
  • (ca. 40 %)
  • Erörtere die These: „Nicht die Menschen, die er in ihrem Handeln und Leiden schildert, sind Zerrbilder und Fratzen, nein, die Umwelt und ihre banalen Realitäten sind nicht in Ordnung.“ (Z. 15–17). Beziehe im Unterricht erworbenes Wissen zur Erzählung Der Sandmann von E. T. A. Hoffmann ein.
  • (ca. 60 %)
Material 1
Der sogenannte Gespenster-Hoffmann (1964)
Karl Walter Widmer
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[...] Mit E. T. A. Hoffmann begann eine literarische Richtung, die keinerlei Gruselrequisiten
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brauchte, um Grauen zu erzeugen, eine Dichtung, bei der im alltäglichen Dasein das Grauen
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heimisch ist. Sie bedarf keiner Neumondnächte, keiner Totengerippe und Särge, keiner
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schauroromantischen Staffage. Es ist eine Dichtung der Lebensangst oder vielmehr des
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Zwiespalts zwischen realem Leben und ersehntem Glück. [...]
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Im neunzehnten Jahrhundert erschienen zahlreiche Übersetzungen Hoffmannscher Werke ins
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Französische und Russische und verbreiteten nicht nur seinen Ruhm, sondern auch
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thematische Eigenheiten seiner Romane und Novellen: sonderbare psychische
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Ausnahmezustände und gesellschaftliche Verhältnisse besonderer Art, mit scharfen,
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gnadenlosen Augen gesehene und exakt beschriebene Gestalten und Begebenisse, die
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scheinbar die Realität verzerren, in Wirklichkeit aber sie nur so grell anleuchten, daß Licht und
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Schatten überschärft nebeneinander stehen.
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Die Optik Hoffmanns, die das Skurrile seiner Personen unterstreicht und hervorhebt, zielt bei
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näherem Zusehen nicht auf die Darstellung abwegiger Gestalten; sie läßt diese vielmehr durch
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ihre spießige oder seelenlose Umwelt zu solchen fratzenhaften Sonderlingen entarten. Nicht
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die Menschen, die er in ihrem Handeln und Leiden schildert, sind Zerrbilder und Fratzen, nein,
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die Umwelt und ihre banalen Realitäten sind nicht in Ordnung. Die Menschen reagieren
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lediglich auf den trivialen Alltag und auf die vor Tugend muffig riechenden Kleinbürger und
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Kleinstädter, unter denen sich geistige Wesen keinesfalls heimisch fühlen können. [...]
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Dieser ewige Gegensatz: Künstlertum, das heißt ohnmächtiges Erleiden der sturen Realität,
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die sich in der Spießerwelt der Städte und Städtchen manifestiert, zieht sich durch das
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gesamte Werk Hoffmanns. Da ist keine schummrige romantische Suche nach der Blauen
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Blume, da sind freilich die ganze Phantastik, das ganze Requisitorium der Romantiker – aber
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das wesentliche Moment der Romantik fehlt ganz und gar: Die Abkehr von der Wirklichkeit,
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die Flucht in die Poesie, das Augenschließen vor der Realität, die Poetisierung der Welt. Bei
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E. T. A. Hoffmann herrscht ein harter, krasser Dualismus: hier das Deutschland der
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napoleonischen Zeit, das Deutschland der Kleinstaaterei und der Duodezfürsten, in dem ein
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Dichter nicht atmen, nicht leben kann, dort Atlantis, das Leben in der Poesie, das sich der
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Künstler selbst zaubern muß.
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Diese beiden Welten, die reale und die mythische, stehen einander wider: Ist das eine
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Verzerrung? Ist das eine Flucht ins Unwirkliche? Doch wohl kaum. Damals so wenig wie
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heute. [...]
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Nicht der Gespenster-Hoffmann, nicht der „spannende“ Hoffmann des „Fräulein von
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Scudéry“, nicht der veroperte, sentimentaliserte Geschichtenerzähler Offenbachs sind der
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eigentliche, wahre E. T. A. Hoffmann; ihn treffen wir in den Erzählungen, die jenes einmalige
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Gespinst aus satirisch verschleierter Wirklichkeit und getarnter Gegenwehr des Dichters
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demonstrieren, die Einsamkeit des fühlenden Menschen inmitten einer grobschlächtigen, auf
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das Materielle erpichten Welt der Banausen. Im Grunde eine Thematik, die zeitlos ist und
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heute ebenso „modern“ wie vor hundert Jahren. [...]

Anmerkungen zum Autor:
Karl Walter Widmer (* 1903 - † 1965) war ein Schweizer Gymnasiallehrer, Übersetzer und Literaturkritiker.
Aus: Karl Walter Widmer: Der sogenannte Gespenster-Hoffmann. In: DIE ZEIT Nr. 38/1964 (18.09.1964) https://www.zeit.de/1964/38/der-sogenannte-gespenster-hoffmann/komplettansicht 03.06.2024

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