Thema 1
Gedichtinterpretation mit weiterführendem Vergleich
Thema: Johann Wolfgang Goethe (* 1749 - † 1832): Im Herbst 1775 (1775) Georg Trakl (* 1887 - † 1914): In den Nachmittag geflüstert (1912) Aufgabenstellung:- Interpretiere das Gedicht Im Herbst 1775 von Johann Wolfgang Goethe.
- Vergleiche das Gedicht Im Herbst 1775 mit dem Gedicht In den Nachmittag geflüstert von Georg Trakl unter dem Gesichtspunkt der Motivgestaltung. Berücksichtige dabei sowohl inhaltliche als auch sprachliche und formale Aspekte.
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1
Fetter grüne, du Laub,
2
Das Rebengeländer,
3
Hier mein Fenster herauf.
4
Gedrängter quillet,
5
Zwillingsbeeren, und reifet
6
Schneller und glänzend voller.
7
Euch brütet der Mutter Sonne
8
Scheideblick, euch umsäuselt
9
Des holden Himmels
10
Fruchtende Fülle.
11
Euch kühlt des Monds
12
Freundlicher Zauberhauch,
13
Und euch betauen, ach,
14
Aus diesen Augen
15
Der ewig belebenden Liebe
16
Voll schwellende Tränen.
Aus: Goethe, Johann Wolfgang: Werke, Kommentare und Register. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Hg. von Erich Trunz. Band 1. München: C. H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung ¹⁴1989, S. 103 f. Material 2 In den Nachmittag geflüstert Georg Trakl
1
Sonne herbstlich dünn und zag,
2
Und das Obst fällt von den Bäumen.
3
Stille wohnt in blauen Räumen
4
Einen langen Nachmittag.
5
Sterbeklänge von Metall;
6
Und ein weißes Tier bricht nieder.
7
Brauner Mädchen rauhe Lieder
8
Sind verweht im Blätterfall.
9
Stirne Gottes Farben träumt,
10
Spürt des Wahnsinns sanfte Flügel.
11
Schatten drehen sich am Hügel
12
Von Verwesung schwarz umsäumt.
13
Dämmerung voll Ruh und Wein;
14
Traurige Gitarren rinnen.
15
Und zur milden Lampe drinnen
16
Kehrest du wie im Traume ein.
Aus: Trakl, Georg: Sämtliche Werke und Briefwechsel. Innsbrucker Ausgabe. Band 2. Hg. von Eberhard Sauermann und Hermann Zwerschena. Basel/Frankfurt a. M.: Stroemfeld/Roter Stern 1995, S. 151.
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Einleitung
- Johann Wolfgang Goethes Gedicht Im Herbst 1775 setzt sich in poetisch verdichteter Sprache mit dem Thema der Reife, des Übergangs und der tief empfundenen Beziehung zwischen Mensch und Natur auseinander.
- Der Herbst erscheint dabei nicht als Symbol des Verfalls, sondern als Höhepunkt des Naturgeschehens – ein Moment des inneren Gleichklangs und der Erfüllung.
- Zugleich lässt sich in der Darstellung eine leise Melancholie und ein Bewusstsein für die Vergänglichkeit erkennen. Das Gedicht stellt somit eine poetische Reflexion über das Verhältnis von Natur, Zeit und Gefühl dar.
Hauptteil
Inhaltliche Analyse- Das lyrische Ich blickt aus dem Fenster auf eine herbstliche Szenerie, in der Weinranken an einer Hauswand emporwachsen.
- Bereits zu Beginn tritt das Motiv der Reife in den Vordergrund: Das Laub soll „fetter“ (V. 1) und „grüne[r]“ (V. 1) werden, die Beeren reifen „schneller“ (V. 6) und „voller“ (V. 6). Der Appell an die Natur verdeutlicht die tiefe Sehnsucht nach Erfüllung und Ganzwerdung – nicht nur im botanischen, sondern auch im übertragenen Sinn.
- Die Natur wird dabei nicht nur beschrieben, sondern direkt angesprochen. Durch die Anrede „du“ (V. 1) entsteht eine enge Verbindung zwischen Sprecher und Natur, die sich wie eine intime Beziehung anfühlt. Die nächsten Verse weiten die Betrachtung aus: Kosmische Kräfte wie Sonne, Mond und Himmel werden als mitwirkende Instanzen personifiziert – sie nähren, kühlen, umsorgen die Pflanzen. Die Natur erscheint als ein lebendiges, liebendes System, das in seinem Wirken harmonisch und schöpferisch ist (Vgl. 7-12).
- In den letzten drei Versen erfährt das Gedicht eine Wendung zur subjektiven Empfindung des lyrischen Ichs. Tränen treten in dessen Augen – nicht aus Trauer, sondern als Ausdruck einer tief bewegten Liebe zur Welt, zur Schöpfung und zur Natur (Vgl. V. 13-16).
- Diese Tränen symbolisieren eine seelische Reife und Berührtheit, die im Einklang mit dem äußeren Reifeprozess der Natur steht.
- Formal ist das Gedicht geprägt von einem freien, ungebundenen Rhythmus ohne regelmäßiges Metrum oder Reimschema. Die Rede fließt in unregelmäßigen Satzfragmenten, häufig unterbrochen durch Enjambements, die den Eindruck eines natürlichen, atmenden Sprechens hervorrufen.
- Dadurch entsteht ein besonders unmittelbarer und lebendiger Sprachfluss, der die persönliche Hinwendung zur Natur verstärkt.
- Zahlreiche Stilmittel unterstreichen die inhaltlichen Aussagen. Besonders auffällig ist die Verwendung von Personifikationen, etwa in „Mutter Sonne“ (V. 7) oder im „freundliche[n] Zauberhauch“ (V. 12) des Mondes, die den Naturkräften menschliche Züge verleihen.
- Diese Formulierungen lassen die Natur als eine liebevoll gestaltende Instanz erscheinen. Alliterationen wie „holden Himmels“ (V. 9) oder „fruchtende Fülle“ (V. 10) intensivieren die Klangwirkung des Textes und verstärken seine Musikalität.
- Auch sprachlich wird der Prozess der Reifung betont – etwa durch Verben wie „quillet“ (V. 4), „reifet“ (v. 5), „brütet“ (V. 7). Diese verdeutlichen die Kraft und Dynamik der Natur. Die wiederholte Anredeform „Euch“ schafft zudem einen beschwörenden Tonfall, der den emotionalen Gehalt des Textes unterstreicht. Der Einsatz der Interjektion „ach“ (V. 13) in Verbindung mit der Metapher der „voll schwellenden Tränen“ (V. 16) bringt schließlich das tiefe persönliche Ergriffensein des lyrischen Ichs zum Ausdruck.
Fazit
- Goethes Gedicht Im Herbst 1775 ist eine poetische Meditation über den Zustand der Reife, die Beziehung zwischen Mensch und Natur sowie über die emotionalen Erfahrungen, die mit der Wahrnehmung herbstlicher Schönheit einhergehen.
- Der Herbst wird hier nicht als Zeit des Abschieds, sondern als Symbol für die Fülle und Erfüllung des Lebens gedeutet. Im harmonischen Zusammenwirken von Natur, Kosmos und Gefühl offenbart sich eine tieferliegende Ordnung, in der das Individuum sich als Teil eines größeren Ganzen erkennen kann.
- Goethes lyrisches Ich erfährt diesen Zustand nicht nur mit dem Verstand, sondern tief im Herzen – in Form von Tränen, die Ausdruck einer berührten, liebenden Seele sind.
Teilaufgabe 2
Überleitung
- Die Gedichte Im Herbst 1775 von Johann Wolfgang Goethe und In den Nachmittag geflüstert von Georg Trakl setzen sich auf unterschiedliche Weise mit dem Motiv des Herbstes auseinander.
- Beide lyrischen Texte verwenden die herbstliche Natur als Spiegel innerer Befindlichkeiten, doch stehen sie dabei jeweils in ganz verschiedenen poetologischen, historischen und weltanschaulichen Kontexten.
- Während Goethe in seinem frühen Gedicht den Herbst als Zeit der Reife, Fülle und schöpferischen Harmonie gestaltet, zeigt sich bei Trakl ein tiefgreifender Weltschmerz, in dem Natur, Sprache und Subjekt zunehmend zerfallen.
- Ein Vergleich der beiden Texte zeigt nicht nur die Vielschichtigkeit herbstlicher Metaphorik, sondern auch einen grundlegenden Wandel im Selbst- und Weltverständnis zwischen Klassik und literarischer Moderne.
Hauptteil
1. Inhaltlicher Vergleich der Motivgestaltung- In Goethes Gedicht wird der Herbst als Inbegriff reifer Natur und erfüllten Daseins dargestellt. Schon in den ersten Versen wird das Laub zur Reifung aufgefordert: „Fetter grüne, du Laub“ (V. 1).
- Die herbstliche Natur wird nicht als Verfall, sondern als Höhepunkt des Wachstums inszeniert: „Zwillingsbeeren […] reifet / Schneller und glänzend voller“ (V. 5–6). Der Kosmos – Sonne, Mond und Himmel – wirkt als unterstützende Kraft: „Der Mutter Sonne / Scheideblick“, „Des holden Himmels / Fruchtende Fülle“ (V. 7–10), „Des Monds / Freundlicher Zauberhauch“ (V. 11–12).
- Diese harmonische Weltordnung löst beim lyrischen Ich eine zutiefst emotionale Reaktion aus: „Und euch betauen, ach, / Aus diesen Augen / Der ewig belebenden Liebe / Voll schwellende Tränen“ (V. 13–16). Die Reife in der Natur entspricht hier einer inneren Reifung, einer seelischen Bewegung im Einklang mit der Welt.
- In Trakls „In den Nachmittag geflüstert“ hingegen dominiert das Gegenteil. Der Herbst erscheint als Zeit des Niedergangs und der seelischen Zerrissenheit.
- Schon in der ersten Zeile heißt es, das Laub fällt „Dünn und zag“ (V.1), was auf Schwäche und Vergänglichkeit verweist. Der Mensch wirkt isoliert (Vgl. V. 3 ff.), und das lyrische Ich zieht sich „zur milden Lampe drinnen“ (V. 15) zurück. Die Natur ist nicht mehr heilsam, sondern voller Fremdheit: „Ein weißes Tier bricht nieder“ (V. 6), „Wahnsinn“ (V. 10) und „Schatten drehen sich am Hügel / Von Verwesung schwarz umsäumt“ (V. 11 f.).
- Trakl inszeniert den Herbst als Projektionsfläche existenzieller Ausweglosigkeit – der Mensch ist nicht mehr Teil der Natur, sondern ihr Opfer.
- Goethe verwendet freie Rhythmen und Enjambements, die dem Text einen lebendigen, natürlichen Fluss geben. Die Sprache ist anschaulich und positiv konnotiert: „glänzend voller“ (V. 6), „freundlicher Zauberhauch“ (V. 12), „fruchtende Fülle“ (V. 10).
- Stilmittel wie Alliterationen („holden Himmels“, V. 9) und Personifikationen („Mutter Sonne“, V. 7) beleben das Naturbild und schaffen Nähe zum lyrischen Ich.
- Trakl dagegen arbeitet mit strengem vierhebigen Trochäus und regelmäßigem Versmaß, was einen monotonen, beinahe erstarrten Klang erzeugt.
- Seine Sprache ist bildhaft verschlüsselt und emotional aufgeladen: Farben („blaue Räume“, V. 3; „weißes Tier“, V. 6), Symbole („Schatten“, (V. 11; Traum (Vgl. V. 9), „Sterbeklänge“, V. 5) und Abstrakta wie „Wahnsinn“ (V. 10) schaffen eine albtraumhafte Atmosphäre. Während Goethe auf Transparenz und Sinn vertraut, evoziert Trakl emotionale Dichte durch Ambivalenz und Symbolsprache.
- Goethes Gedicht spiegelt das klassisch-humanistische Ideal einer harmonischen Weltordnung. Die Natur steht in engem Austausch mit dem Menschen, sie bietet Orientierung und sinnstiftende Erfahrung. Der Mensch ist Teil eines größeren kosmischen Ganzen, in dem Reifung und Wandel als sinnvoll erlebt werden.
- Trakls Lyrik hingegen verweist auf die Krise des Subjekts in der literarischen Moderne. Sprache, Natur und Ich verlieren ihre stabilen Bedeutungen. Der Herbst wird hier zur Chiffre für seelische Vereinsamung, für das Verschwinden von Sinn und die Erfahrung innerer Leere. Trakls Gedicht ist Ausdruck einer tiefgreifenden Welterfahrung, die von Brüchen und Unsicherheiten geprägt ist.
Schluss
- Im Vergleich zeigt sich deutlich, wie unterschiedlich das Motiv des Herbstes poetisch gestaltet werden kann: Bei Goethe steht es für Vollendung, Liebe und das Einssein mit der Natur; bei Trakl hingegen ist es Zeichen des Zerfalls, der Isolation und innerer Zerrüttung.
- Diese Gegensätzlichkeit spiegelt nicht nur verschiedene poetische Handschriften, sondern auch unterschiedliche weltanschauliche Grundhaltungen wider. Die Gestaltung des Herbstes fungiert dabei als Ausdruck innerer Zustände – als Spiegel seelischer Prozesse, die im Einklang oder in Konflikt mit der Außenwelt stehen.
- So zeigt der Vergleich beider Gedichte eindrucksvoll, wie Literatur über Naturbilder grundlegende Fragen menschlicher Existenz verhandelt.