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Thema 2

Interpretation eines literarischen Textes

Thema:
Franz Kafka (* 1883 - † 1924): Das Schweigen der Sirenen (1917)
Gustav Schwab (* 1792 - † 1850): Odysseus (1840, Auszug)
Aufgabenstellung:
  • Interpretiere den Text Das Schweigen der Sirenen von Franz Kafka.
  • (ca. 70 %)
  • Vergleiche Franz Kafkas Text Das Schweigen der Sirenen mit der klassischen Sage von Odysseus hinsichtlich der Gestaltung der Figuren des Odysseus und der Sirenen.
  • (ca. 30 %)
Material 1
Das Schweigen der Sirenen (1917)
Franz Kafka
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Beweis dessen, daß auch unzulängliche, ja kindische Mittel zur Rettung dienen können:
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Um sich vor den Sirenen zu bewahren, stopfte sich Odysseus Wachs in die Ohren und ließ
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sich am Mast festschmieden. Ähnliches hätten natürlich seit jeher alle Reisenden tun können,
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außer denen, welche die Sirenen schon aus der Ferne verlockten, aber es war in der ganzen
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Welt bekannt, daß dies unmöglich helfen konnte. Der Sang der Sirenen durchdrang alles, und
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die Leidenschaft der Verführten hätte mehr als Ketten und Mast gesprengt. Daran aber dachte
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Odysseus nicht, obwohl er davon vielleicht gehört hatte. Er vertraute vollständig der Handvoll
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Wachs und dem Gebinde Ketten und in unschuldiger Freude über seine Mittelchen fuhr er den
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Sirenen entgegen.
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Nun haben aber die Sirenen eine noch schrecklichere Waffe als den Gesang, nämlich ihr
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Schweigen. Es ist zwar nicht geschehen, aber vielleicht denkbar, daß sich jemand vor ihrem
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Gesang gerettet hätte, vor ihrem Schweigen gewiß nicht. Dem Gefühl, aus eigener Kraft sie
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besiegt zu haben, der daraus folgenden alles fortreißenden Überhebung kann nichts Irdisches
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widerstehen.
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Und tatsächlich sangen, als Odysseus kam, die gewaltigen Sängerinnen nicht, sei es, daß sie
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glaubten, diesem Gegner könne nur noch das Schweigen beikommen, sei es, daß der Anblick
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der Glückseligkeit im Gesicht des Odysseus, der an nichts anderes als an Wachs und Ketten
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dachte, sie allen Gesang vergessen ließ.
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Odysseus aber, um es so auszudrücken, hörte ihr Schweigen nicht, er glaubte, sie sängen,
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und nur er sei behütet, es zu hören. Flüchtig sah er zuerst die Wendungen ihrer Hälse, das
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tiefe Atmen, die tränenvollen Augen, den halb geöffneten Mund, glaubte aber, dies gehöre zu
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den Arien, die ungehört um ihn verklangen. Bald aber glitt alles an seinen in die Ferne
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gerichteten Blicken ab, die Sirenen verschwanden förmlich vor seiner Entschlossenheit, und
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gerade als er ihnen am nächsten war, wußte er nichts mehr von ihnen.
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Sie aber – schöner als jemals – streckten und drehten sich, ließen das schaurige Haar offen
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im Winde wehen und spannten die Krallen frei auf den Felsen. Sie wollten nicht mehr
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verführen, nur noch den Abglanz vom großen Augenpaar des Odysseus wollten sie so lange
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als möglich erhaschen.
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Hätten die Sirenen Bewußtsein, sie wären damals vernichtet worden. So aber blieben sie, nur
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Odysseus ist ihnen entgangen.
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Es wird übrigens noch ein Anhang hierzu überliefert. Odysseus, sagt man, war so listenreich,
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war ein solcher Fuchs, daß selbst die Schicksalsgöttin nicht in sein Innerstes dringen konnte.
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Vielleicht hat er, obwohl das mit Menschenverstand nicht mehr zu begreifen ist, wirklich
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gemerkt, daß die Sirenen schwiegen, und hat ihnen und den Göttern den obigen
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Scheinvorgang nur gewissermaßen als Schild entgegengehalten.

Aus: Franz Kafka: Sämtliche Erzählungen. Hg. von Paul Raabe. Frankfurt a. M.: S. Fischer 1970, S. 304 f.
Material 2
Odysseus (1840, Auszug)
Gustav Schwab
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Nachdem wir die Gebeine unseres verunglückten Genossen auf der Insel Äa verbrannt und
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bestattet, dem Toten auch einen Grabhügel aufgehäuft und eine Denksäule daraufgesetzt
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hatten, wurden wir von Kirke noch einmal sehr freundlich empfangen und bewirtet. Dann
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führten wir, von ihr vor allerlei Gefahren gewarnt und reichlich mit Lebensmitteln versorgt,
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weiter.
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Das erste Abenteuer, das wir zu bestehen hatten, erwartete uns am Eiland der Sirenen. Dort
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wohnen Nymphen, die jedermann betören, der auf ihr Lied horcht. Am grünen Gestade sitzen
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sie und singen ihre Zauberweisen den Vorüberfahrenden zu. Wer sich aber zu ihnen
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hinüberlocken läßt, ist ein Kind des Todes; man sieht an ihrem Ufer des modernden Gebeins
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genug. Bei der Insel dieser verführerischen Frauen angekommen, hielt unser Schiff still, denn
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der Wind, der uns bisher gelinde vorangetrieben, hörte mit einem Male auf zu wehen, das
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Gewässer schimmerte wie ein Spiegel. Meine Begleiter bargen die Segel und setzten sich an
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die Ruder, um das Fahrzeug vorwärts zu bringen. Ich aber dachte an das Wort, das Kirke, die
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mir dies alles vorausgesagt, gesprochen hatte. „Wenn du an die Insel der Sirenen kommst, so
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verklebe die Ohren deiner Freunde mit Wachs, damit sie nichts hören; begehrst du selbst, ihr
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Lied zu vernehmen, so befiehl, daß man dich, an Händen und Füßen gefesselt, an den Mast
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binde. Je sehnlicher du flehst, dich zu befreien, desto fester sollen sie dich in Stricke
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schnüren!“
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Daran dachte ich jetzt, zerschnitt eine große Wachsscheibe und knetete sie mit meinen
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Fingern; das weiche Wachs strich ich meinen Reisegenossen in die Ohren. Sie aber banden
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mich auf mein Geheiß aufrecht an den Mast; dann setzten sie sich wieder an die Ruder und
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trieben das Fahrzeug vorwärts. Als die Sirenen es heranschwimmen sahen, standen sie in der
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Gestalt reizender Mädchen am Ufer und begannen mit wundersüßer heller Kehle ihren
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Gesang, der also lautete:
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Komm, Odysseus, Gepriesener, Ruhm der Achaïer,
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Lenke das Schiff an Land, um unsere Lieder zu hören. –
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Denn noch ruderte keiner vorbei im dunkelen Schiffe,
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Eh’ er aus unserem Munde die Honigstimme vernommen.
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Jeder sodann kehrt fröhlich zurück, hat vieles erfahren. –
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Denn wir wissen wohl, was in den Ebenen Trojas
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Griechen und Troer nach der Tat der Götter erduldet, –
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Wissen, was irgend geschah auf der ernährenden Erde.
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So sangen sie. Mir schwoll das Herz vor Begierde, mehr zu vernehmen; ich winkte meinen
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Begleitern mit dem Kopfe, mich loszubinden. Aber mit ihren tauben Ohren stürzten sie sich
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nur um so rascher aufs Ruder, und zwei von ihnen, Eurylochos und Perimedes, kamen herbei
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und legten mir, wie ich vorher befohlen hatte, stärkere Stricke an und schnürten auch die alten
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fester zusammen. Erst als wir glücklich vorübergesteuert und ganz aus dem Bereiche der
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Sirenen waren, nahmen meine Freunde sich selbst das Wachs aus den Ohren und lösten mir
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die Fesseln. Ich dankte ihnen herzlich für ihre Beharrlichkeit.

Aus: Schwab, Gustav: Die schönsten Sagen des klassischen Altertums. Bayreuth: Gondrom 1974, S. 447 f.

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