Thema 3
Erörterung eines literarischen Textes
Thema: Jan Wittmann (* 1983): Kriminalistisches Wissen und richterliches Urteilen in Zehs Zukunftsentwurf Corpus Delicti (2018, Auszug) Juli Zeh (* 1974): Corpus Delicti (2009) Aufgabenstellung:- Stelle die wesentlichen Aussagen des Textauszugs von Jan Wittmann dar und formuliere schlussfolgernd den zentralen Interpretationsansatz.
- Erörtere auf der Basis Ihrer Kenntnisse zum Roman Corpus Delicti. Ein Prozess, ob bzw. inwiefern Wittmanns Aussagen über den Justizapparat auf dessen Vertreter Sophie Stock und Lutz Rosentreter zutreffen.
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Der Roman zeigt […] eine hochstpolitische Instrumentalisierung des Rechts, das die Kritik als
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Gefährdung brandmarkt und die Gegner gewaltsam unterdrückt. Das Recht ist hier, so zeigt
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der Text, kein autonomes System, das dem Schutz übergeordneter Rechtsgüter, sondern
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vielmehr dem Erhalt eines Gesellschaftsmodells dient.
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Insbesondere das am Ende des Romans erzählte Verfahren gegen Mia Holl stellt den
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Inszenierungscharakter und die Performativität einer Strafrechtspflege aus, der eine system-
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und weniger eine rechtssichernde Funktion zukommt. […]
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Kennzeichnend sind zum einen die als „schwarze Puppen“ betitelten Justizfiguren, zu denen
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neben den Richtern auch der Staatsanwalt und der Verteidiger zählen. Diese Umschreibung
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hebt auf die schwarzen Roben ab, die als vorgeschriebene Kleidung während der
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Gerichtsverhandlung ihre Träger von der außergerichtlichen Welt abgrenzen und markieren,
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dass sich ihr Handeln außerhalb des gewöhnlichen und eigentlichen Lebens bewegt. Zudem
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dient die Robe der sichtbaren Differenzierung der im Gerichtssaal anwesenden Menschen
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zwischen denjenigen, die über die Taten des Angeklagten zu Gericht sitzen, und jenen
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Außenstehenden, die das Verfahren durch Zeugnisse unterstützen oder ihm beobachtend
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beiwohnen. Allerdings bleibt es im Text nicht bei einer bloßen Referenz auf die
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konventionalisierte Berufskleidung, vielmehr ist dem Begriff „Puppe“ eine Wertung
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eingeschrieben, die neben dem Spielcharakter des Gericht-Haltens die Justizfiguren als
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marionettenhaft und persönlichkeitlos beschreibt.
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Diese subtextuell vermittelte Charakterisierung von Richtern, Staatsanwälten und
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Verteidigern als fremdgesteuerte Ausführungsorgane einer Staatsideologie fügt sich in das
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vom Roman entworfene Bild der Justiz, die das vermeintliche Allgemeininteresse schützt und
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zugleich die „METHODE“ stützt. […]
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Dass der Roman kein rechtsstaatliches Verfahren zeigt, sondern gerade dieser Prozess gegen
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Mia Holl von der Instrumentalisierung des Rechts durch die Staatsideologie erzählt, wird auch
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bei dem Blick auf die Verteidigung durch die Figur Rosentreter erkennbar. Der Anwalt
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verzichtet nach der Verlesung der Anklage durch Staatsanwalt Bell entgegen dem
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Waffengleichheit garantierenden Grundsatz der Pflichtverteidigung „aufgrund der
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erdrückenden Beweislage […] auf einen Gegenantrag“ (JZ CD, 253) und „beruft sich auf den
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Selbstschutz von Justizorganen im Strafprozess“ (JZ CD, 254). Die Wahrung der Rechte des
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Angeklagten durch einen hierzu bestellten Verteidiger stellt eine zentrale Errungenschaft des
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modernen Prozessrechts dar, in dem Anklage, Verteidigung und Urteilsfindung nicht mehr im
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Amt des Inquirenten zusammenfallen, sondern institutionell getrennt sind. Die Verteidigung
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des Angeklagten ist somit ein zentrales Merkmal einer ausdifferenzierten und demokratischen
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Rechtspflege, die in der erzählten Welt nicht zuletzt durch diese Einlassung Rosentreters
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aufgehoben wird. Der Anwalt verzichtet auf die Vertretung Mia Holls, weil er sich „durch die
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Verteidigung eines Gefährders [nicht] zum Methodenfeind machen“ (JZ CD, 253) möchte.
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Diese Begründung offenbart, dass das Verfahren nicht der Durchsetzung des Rechts dient,
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das die Gemeinschaft ebenso wie den Angeklagten schützt, sondern primär dem Schutz der
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Staatsideologie. Auch hier wird erkennbar, dass das Recht nicht als ein autonomes System
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entworfen ist, sondern vielmehr als abhängiges Ausführungsorgan eines totalitären Staates.
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Das Richterhandeln weist ebenso auf diese Verschränkung zwischen Staatspolitik und
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Rechtspflege hin, da die Gerichtsentscheidung ganz im Sinne eines ausschließlich für die
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Öffentlichkeit inszenierten Prozesses bereits vor der richterlichen Ermittlung feststeht: „Ich
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komme zur Verlesung der Urteilsformel.“ Er zieht einen Zettel aus der Akte, von dem
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angenommen werden muss, dass er schon vor der Verhandlung geschrieben wurde.“ (JZ CD,
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258). Das vorab gefasste Urteil macht eine Untersuchung der Tatumstände und aller
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relevanten Fakten überflüssig, da die richterliche Ermittlung und Entscheidung grundsätzlich
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aufeinander bezogen sind: Der Richter ermittelt, um auf Grundlage dieser Erkenntnisse
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anschließend die Sache zu entscheiden. Insgesamt kommt der Richterfigur in diesem
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Gerichtsssetting keine ermittelnde Funktion zu, vielmehr ist er Verfahrensleiter, der die
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Durchführung des formalen Prozessablaufs sicherstellt, aber selbst keine Untersuchung
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vornimmt.
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Es ist deutlich geworden, dass der Roman einen Strafprozess erzählt, der in erster Linie durch
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die Sicherung des politischen Gemeinzeils bestimmt ist. […]
Anmerkungen zum Autor:
Jan Wittmann (*1983) ist Germanist, Rechtswissenschaftler und Lehrer. Aus: Wittmann, Jan: Recht sprechen. Richterfiguren bei Kleist, Kafka und Zeh. Stuttgart: J. B. Metzler Verlag 2018, S. 230–233.
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Einleitung
- Der Auszug aus Jan Wittmanns Text analysiert die Instrumentalisierung des Rechts im Roman Corpus Delicti von Juli Zeh und zeigt, wie das Justizsystem als verlängerter Arm der totalitären Staatsideologie fungiert.
- Das zentrale Thema ist die Umfunktionierung des Rechts von einem objektiven Schutzsystem hin zu einem Herrschaftsinstrument zur Durchsetzung ideologischer Ziele.
Hauptteil
- Schon in den Anfangszeilen wird klargestellt, dass das Recht nicht mehr autonom agiert, sondern der Absicherung eines politischen Gesellschaftsmodells dient (Vgl. Z. 1–4) .
- Besonders deutlich wird dies am Strafprozess gegen Mia Holl, der laut Wittmann weniger rechtsstaatlichen Prinzipien folgt, sondern vielmehr Inszenierungscharakter trägt (Vgl. Z. 5–7).
- Diese performative Dimension des Verfahrens zeige sich u. a. in der Verwendung der Bezeichnung „,schwarze Puppen'“ (Z. 8) für alle Justizfiguren (Vgl. Z. 8–19). Die Robe wird dabei nicht nur als Berufskleidung gedeutet, sondern steht symbolisch für das marionettenhafte, fremdgesteuerte Verhalten der Juristen (Vgl. Z. 17–19).
- Ein zentraler Beleg für die systematische Aushöhlung rechtsstaatlicher Grundsätze ist die Figur des Pflichtverteidigers Rosentreter (Vgl. Z. 24–41).
- Dieser verweigert die Verteidigung Mia Holls mit dem Verweis auf die „erdrückende Beweislage“ (Z. 29) und den „Selbstschutz von Justizorganen“ (Z. 30), was die Rolle des Verteidigers als reine Formalie entlarvt.
- Die richterliche Entscheidungsfindung ist ebenso wenig unabhängig: Das Urteil steht bereits vor der Verhandlung fest (Vgl. Z. 42–47), wodurch die eigentliche Funktion des Richters – das Ermitteln und Abwägen – hinfällig wird (Vgl. Z. 48–53).
- Der Text kommt somit zu dem Ergebnis (Vgl. Z. 54 f.), dass das Strafverfahren im Roman nicht der Wahrheitsfindung dient, sondern der Sicherung der politischen Ordnung.
Fazit
- Insgesamt zeigt Wittmanns Analyse, dass Corpus Delicti ein Rechtssystem entwirft, das nicht auf der Trennung von staatlicher Macht und Justiz basiert, sondern ein durchideologisiertes, manipulierbares Werkzeug zur Herrschaftssicherung darstellt.
- Die im Roman auftretenden Juristen erscheinen als systemkonforme, entindividualisierte Akteure, die keine unabhängige Instanz mehr bilden, sondern lediglich den staatlichen Willen vollziehen.
Teilaufgabe 2
Überleitung
- Jan Wittmann beschreibt in seinem Beitrag zur juristischen Deutung von Corpus Delicti die Justiz im Zukunftsstaat der METHODE als vollständig politisch instrumentalisiertes Machtinstrument.
- Richter, Staatsanwälte und Verteidiger würden – gleichsam als „schwarze Puppen“ (Z. 8) – nicht autonom handeln, sondern seien ausführende Organe einer ideologisierten Staatsräson.
- Diese Analyse wirft die Frage auf, ob die Figuren Sophie Stock und Lutz Rosentreter, wie sie in Juli Zehs Roman gezeichnet werden, tatsächlich in diesem Maße systemtreu und fremdbestimmt agieren – oder ob ihre Handlungen differenzierter zu bewerten sind.
Hauptteil
- Sophie Stock erscheint zunächst als prototypische Vertreterin des repressiven Justizsystems. Ihre Rolle als Richterin ist geprägt von äußerlicher Strenge und konsequenter Regelbefolgung, etwa im Kapitel „Der Härtefall“, wo sie trotz der Tragweite der Anklage gegen Mia Holl nur mit formaler Härte reagiert.
- Die Symbolik ihres Namens – „Stock“ – betont ihre starre, unbewegliche Haltung und unterstützt die von Wittmann vertretene Interpretation, sie sei Teil einer Justiz, die sich nicht an individueller Gerechtigkeit, sondern an der Erhaltung der gesellschaftlichen Ordnung orientiert.
- So lehnt sie nicht nur Mias Härtefallantrag ab, sondern spricht auch eine zweijährige Bewährungsstrafe aus, obwohl sie die emotionale Belastung der Angeklagten durchaus erkennt. Ihr Verhalten lässt sie wie eine funktionierende, aber nicht hinterfragende Vollstreckerin der METHODE erscheinen – genau jene „Puppe“, von der Wittmann spricht.
- Allerdings zeigt Sophie Stock auch empathische Züge. Im Kapitel Saftpresse etwa bemüht sie sich um ein Verständnis für Mias emotionale Lage, bietet Hilfestellung zur Bewältigung ihrer Krise an und geht auf deren Aussagen ein.
- Sie lässt Rosentreters Antrag auf Einführung verfahrensfremden Materials zu und widerspricht öffentlich dem Chefideologen Kramer – ein Verhalten, das nicht völlig systemkonform ist. Auch als sie das Fehlurteil gegen Moritz erkennt, ist sie sichtlich erschüttert („sie sitzt mit offenen Haaren auf ihrem Platz und bemüht sich nicht einmal, das Gesicht zu verstecken“, Der Härtefall).
- Diese Szenen zeigen, dass Sophie trotz ihrer grundsätzlichen Loyalität gegenüber dem System durchaus innere Konflikte und emotionale Regungen hat. Insofern lässt sich Wittmanns These zwar belegen, muss jedoch in Bezug auf ihre Figur leicht relativiert werden.
- Noch ambivalenter gestaltet sich die Figur Lutz Rosentreter. Er gehört formal dem repressiven System an, erscheint aber zunächst als dessen Kritiker. Seine Funktion als Pflichtverteidiger wird zwar im Text mehrfach als bloße Alibifunktion entlarvt – insbesondere durch seinen Verzicht auf Gegenanträge mit Verweis auf den Selbstschutz der Justiz (Vgl. JZ CD, 253–254) – doch wird zugleich deutlich, dass seine Handlungsmotive komplexer sind.
- Rosentreter ist ein „Unglücklicher“, der unter dem Zwang leidet, seine Beziehung geheim zu halten, weil die „Zentrale Partnervermittlung“ seine Lebensführung bestimmt (Which side are you on). Seine Kritik am System scheint zunächst glaubwürdig, ebenso seine Solidarität mit Mia.
- Doch spätestens im Kapitel Der Härtefall wird deutlich, dass Rosentreter auch eigene Interessen verfolgt: Er nutzt Mias Fall, um medienwirksam einen Justizskandal aufzudecken, positioniert sich als Opponent der METHODE, agiert letztlich aber nicht aus juristischer Integrität, sondern aus persönlichem Kalkül.
- Seine Aufdeckung des Falls dient als Initialzündung zur Systemkritik – zugleich aber verrät er Mia, als er sein Mandat niederlegt und sich vom Verfahren distanziert. Wittmanns Einschätzung, dass der Pflichtverteidiger letztlich kein Vertreter rechtsstaatlicher Prinzipien mehr ist, sondern ein Spielball und Opportunist innerhalb der Diktatur, trifft somit zu.
- Rosentreter ist weder klassischer Held noch reine Marionette – seine Figur schwankt zwischen Systemopfer, Mitläufer und eigennütziger Strippenzieher.
Schluss
- Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Wittmanns Analyse des Justizapparats in Corpus Delicti auf beide Figuren in wesentlichen Punkten zutrifft: Sowohl Sophie Stock als auch Lutz Rosentreter erscheinen als Teil eines Systems, das Rechtsprechung nicht im Sinne individueller Gerechtigkeit, sondern als Mittel zur Machtsicherung betreibt.
- Beide erfüllen dabei Rollen, die ihnen eine eigenständige moralische Urteilskraft erschweren oder verwehren. Allerdings zeigt die literarische Gestaltung, dass beide Figuren – besonders Rosentreter – über Handlungsspielräume verfügen und ihre Rollen nicht vollständig fremdgesteuert ausfüllen.
- Die Bezeichnung „schwarze Puppen“ (Z. 8) trifft daher nur in begrenztem Maße zu und muss durch eine differenziertere Sicht auf die psychologischen und moralischen Konflikte der Figuren ergänzt werden. In diesem Spannungsfeld zwischen systemischer Funktionalität und individueller Ambivalenz liegt letztlich die Stärke von Zehs Justizdarstellung.