Lerninhalte in Deutsch

Thema 3

Erörterung eines literarischen Textes

Thema:
Jan Wittmann (* 1983): Kriminalistisches Wissen und richterliches Urteilen in Zehs Zukunftsentwurf Corpus Delicti (2018, Auszug)
Juli Zeh (* 1974): Corpus Delicti (2009)
Aufgabenstellung:
  • Stelle die wesentlichen Aussagen des Textauszugs von Jan Wittmann dar und formuliere schlussfolgernd den zentralen Interpretationsansatz.
  • (ca. 30 %)
  • Erörtere auf der Basis Ihrer Kenntnisse zum Roman Corpus Delicti. Ein Prozess, ob bzw. inwiefern Wittmanns Aussagen über den Justizapparat auf dessen Vertreter Sophie Stock und Lutz Rosentreter zutreffen.
  • (ca. 70 %)
Material
Kriminalistisches Wissen und richterliches Urteilen in Zehs Zukunftsentwurf Corpus Delicti (2018, Auszug)
Jan Wittmann
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Der Roman zeigt […] eine hochstpolitische Instrumentalisierung des Rechts, das die Kritik als
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Gefährdung brandmarkt und die Gegner gewaltsam unterdrückt. Das Recht ist hier, so zeigt
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der Text, kein autonomes System, das dem Schutz übergeordneter Rechtsgüter, sondern
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vielmehr dem Erhalt eines Gesellschaftsmodells dient.
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Insbesondere das am Ende des Romans erzählte Verfahren gegen Mia Holl stellt den
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Inszenierungscharakter und die Performativität einer Strafrechtspflege aus, der eine system-
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und weniger eine rechtssichernde Funktion zukommt. […]
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Kennzeichnend sind zum einen die als „schwarze Puppen“ betitelten Justizfiguren, zu denen
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neben den Richtern auch der Staatsanwalt und der Verteidiger zählen. Diese Umschreibung
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hebt auf die schwarzen Roben ab, die als vorgeschriebene Kleidung während der
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Gerichtsverhandlung ihre Träger von der außergerichtlichen Welt abgrenzen und markieren,
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dass sich ihr Handeln außerhalb des gewöhnlichen und eigentlichen Lebens bewegt. Zudem
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dient die Robe der sichtbaren Differenzierung der im Gerichtssaal anwesenden Menschen
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zwischen denjenigen, die über die Taten des Angeklagten zu Gericht sitzen, und jenen
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Außenstehenden, die das Verfahren durch Zeugnisse unterstützen oder ihm beobachtend
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beiwohnen. Allerdings bleibt es im Text nicht bei einer bloßen Referenz auf die
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konventionalisierte Berufskleidung, vielmehr ist dem Begriff „Puppe“ eine Wertung
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eingeschrieben, die neben dem Spielcharakter des Gericht-Haltens die Justizfiguren als
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marionettenhaft und persönlichkeitlos beschreibt.
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Diese subtextuell vermittelte Charakterisierung von Richtern, Staatsanwälten und
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Verteidigern als fremdgesteuerte Ausführungsorgane einer Staatsideologie fügt sich in das
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vom Roman entworfene Bild der Justiz, die das vermeintliche Allgemeininteresse schützt und
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zugleich die „METHODE“ stützt. […]
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Dass der Roman kein rechtsstaatliches Verfahren zeigt, sondern gerade dieser Prozess gegen
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Mia Holl von der Instrumentalisierung des Rechts durch die Staatsideologie erzählt, wird auch
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bei dem Blick auf die Verteidigung durch die Figur Rosentreter erkennbar. Der Anwalt
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verzichtet nach der Verlesung der Anklage durch Staatsanwalt Bell entgegen dem
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Waffengleichheit garantierenden Grundsatz der Pflichtverteidigung „aufgrund der
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erdrückenden Beweislage […] auf einen Gegenantrag“ (JZ CD, 253) und „beruft sich auf den
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Selbstschutz von Justizorganen im Strafprozess“ (JZ CD, 254). Die Wahrung der Rechte des
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Angeklagten durch einen hierzu bestellten Verteidiger stellt eine zentrale Errungenschaft des
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modernen Prozessrechts dar, in dem Anklage, Verteidigung und Urteilsfindung nicht mehr im
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Amt des Inquirenten zusammenfallen, sondern institutionell getrennt sind. Die Verteidigung
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des Angeklagten ist somit ein zentrales Merkmal einer ausdifferenzierten und demokratischen
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Rechtspflege, die in der erzählten Welt nicht zuletzt durch diese Einlassung Rosentreters
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aufgehoben wird. Der Anwalt verzichtet auf die Vertretung Mia Holls, weil er sich „durch die
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Verteidigung eines Gefährders [nicht] zum Methodenfeind machen“ (JZ CD, 253) möchte.
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Diese Begründung offenbart, dass das Verfahren nicht der Durchsetzung des Rechts dient,
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das die Gemeinschaft ebenso wie den Angeklagten schützt, sondern primär dem Schutz der
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Staatsideologie. Auch hier wird erkennbar, dass das Recht nicht als ein autonomes System
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entworfen ist, sondern vielmehr als abhängiges Ausführungsorgan eines totalitären Staates.
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Das Richterhandeln weist ebenso auf diese Verschränkung zwischen Staatspolitik und
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Rechtspflege hin, da die Gerichtsentscheidung ganz im Sinne eines ausschließlich für die
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Öffentlichkeit inszenierten Prozesses bereits vor der richterlichen Ermittlung feststeht: „Ich
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komme zur Verlesung der Urteilsformel.“ Er zieht einen Zettel aus der Akte, von dem
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angenommen werden muss, dass er schon vor der Verhandlung geschrieben wurde.“ (JZ CD,
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258). Das vorab gefasste Urteil macht eine Untersuchung der Tatumstände und aller
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relevanten Fakten überflüssig, da die richterliche Ermittlung und Entscheidung grundsätzlich
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aufeinander bezogen sind: Der Richter ermittelt, um auf Grundlage dieser Erkenntnisse
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anschließend die Sache zu entscheiden. Insgesamt kommt der Richterfigur in diesem
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Gerichtsssetting keine ermittelnde Funktion zu, vielmehr ist er Verfahrensleiter, der die
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Durchführung des formalen Prozessablaufs sicherstellt, aber selbst keine Untersuchung
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vornimmt.
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Es ist deutlich geworden, dass der Roman einen Strafprozess erzählt, der in erster Linie durch
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die Sicherung des politischen Gemeinzeils bestimmt ist. […]

Anmerkungen zum Autor:
Jan Wittmann (*1983) ist Germanist, Rechtswissenschaftler und Lehrer.
Aus: Wittmann, Jan: Recht sprechen. Richterfiguren bei Kleist, Kafka und Zeh. Stuttgart: J. B. Metzler Verlag 2018, S. 230–233.

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