Aufgabe 1
Gedichtinterpretation mit weiterführendem Vergleich
Thema:Ulla Hahn (* 1945): Nicht die Liebenden (1993) Bertolt Brecht (* 1898 - † 1956): Die Liebenden (1928) Aufgabenstellung:
- Interpretiere das Gedicht Nicht die Liebenden von Ulla Hahn. (60 %)
- Vergleiche die Bedeutung der Liebe im Gedicht von Ulla Hahn mit der in Brechts Die Liebenden.
Berücksichtige dabei sowohl inhaltliche als auch sprachliche und formale Aspekte. (40 %)
1
Nicht die Liebenden fliegen im Wind.
2
Einer des anderen Klotz am Bein
3
beschweren sie paar
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weise ihr luftiges Ich. So
5
wachsen sie zwischen Himmel und Erde
6
geraten sie aus dem Gleichgewicht.
7
Taumeln. Fallen
8
über die eigenen Füße in
9
Wälder und Wiesen ein
10
über das andere her.
11
Krallen sich zeugend fest
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an der Welt.
13
Aber die Einsamen: Unerreichbar allen
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Sorten von Chloroform
15
hängen sie in der Luft
16
wurzeln im Raum wirbeln
17
im freien Fall um sich selbst
18
sich selbst verdoppelnd. So
19
bleibt ihnen die Erde leicht
20
verweht sie der Wind
21
von ihrer Stätte nie und nimmer
22
am Ziel.
Aus: Hahn, Ulla: Liebesgedichte. Stuttgart 1993, S. 72. Material 2 Die Liebenden (1993) Bertolt Brecht
1
Seht jene Kraniche in großem Bogen!
2
Die Wolken, welche ihnen beigegeben
3
Zogen mit ihnen schon als sie entflogen
4
Aus einem Leben in ein anderes Leben.
5
In gleicher Höhe und mit gleicher Eile
6
Scheinen sie alle beide nur daneben.
7
Daß so der Kranich mit der Wolke teile
8
Den schönen Himmel, den sie kurz befliegen
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Daß also keines länger hier verweile
10
Und keines anderes sehe als das Wiegen
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Des andern in dem Wind, den beide spüren
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Die jetzt im Fluge beieinander liegen:
13
So mag der Wind sie in das Nichts entführen.
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Wenn sie nur nicht vergehen und sich bleiben
15
So lange kann sie beide nichts berühren
16
So lange kann man sie von jedem Ort vertreiben
17
Wo Regen drohen oder Schüsse schallen.
18
So unter Sonn und Monds verschiedenen Scheiben
19
Fliegen sie hin, einander ganz verfallen.
20
– Wohin ihr? - Nirgend hin. Von wem davon? – Von allen.
21
Ihr fragt, wie lange sind sie schon beisammen?
22
Seit kurzem, - Und wann werden sie sich trennen? – Bald.
23
So scheint die Liebe Liebenden ein Halt.
Aus: Brecht, Bertolt: Die Gedichte von Bertolt Brecht in einem Band. Frankfurt a. M. 1981, S. 1129 f. Rechtschreibung und Zeichensetzung entsprechen der Textquelle.
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Einleitung
- Das 1993 erschienene Gedicht Nicht die Liebenden von Ulla Hahn thematisiert auf nachdenklich-reflexive Weise zwei gegensätzliche Lebensentwürfe: das Leben in einer Liebesbeziehung auf der einen Seite und ein Leben in Einsamkeit auf der anderen.
- Dabei hinterfragt das Gedicht, inwiefern Liebesbeziehungen mit Einschränkungen verbunden sind und ob ein freies, alleinstehendes Leben tatsächlich erfüllender ist.
- Die Gegenüberstellung beider Daseinsformen erfolgt anhand einer Vielzahl sprachlicher Bilder und Kontraste, wodurch die Ambivalenz existenzieller Entscheidungen deutlich wird.
Hauptteil
Inhaltliche Analyse- Bereits der Titel Nicht die Liebenden verweist auf eine Abgrenzung. Er stellt nicht das Ideal der Liebenden in den Mittelpunkt, sondern explizit deren Gegenbild – die „Einsamen“. In der ersten Strophe werden die Liebenden dargestellt, in der zweiten die Alleinstehenden.
- Die erste Strophe beschreibt die Liebenden als Menschen, die durch ihre Beziehung an Beweglichkeit und Leichtigkeit verlieren: „Nicht die Liebenden fliegen im Wind“ (V. 1) ist eine klare Absage an romantische Ideale von Freiheit in der Liebe. Vielmehr wirken Liebesbeziehungen in dieser Darstellung belastend: Der Ausdruck „Klotz am Bein“ (V. 2) verweist auf die Einschränkung individueller Bewegungsfreiheit. Auch die Formulierungen „beschweren“ (V. 3) und „luftiges Ich“ (V. 4) verstärken diese Symbolik.
- Die Liebenden verlieren durch ihre Beziehung das „Gleichgewicht“ (V. 6), geraten ins „Taumeln“ (V. 7)und „Fallen“ (V. 7). Diese Metaphern stehen für Unsicherheit, Kontrollverlust und möglicherweise auch für emotionale Abhängigkeit. Sie bewegen sich zwar noch durch Raum und Natur („Wälder und Wiesen“, V. 9), doch sie tun dies „über die eigenen Füße“ (V. 8) – ein Bild für eine gewisse Unbeholfenheit oder Orientierungslosigkeit. Diese Bewegung endet nicht in Freiheit, sondern in Bindung an die Welt: „Krallen sich zeugend fest / an der Welt“ (V. 11 f.) ist ein Bild für biologische wie emotionale Verankerung durch Fortpflanzung und Verantwortung.
- Die zweite Strophe kontrastiert diese Darstellung mit dem Bild der Einsamen. Sie erscheinen zunächst als unzugängliche, beinahe entrückte Wesen: „Aber die Einsamen: Unerreichbar allen / Sorten von Chloroform“ (V. 13 f.) deutet ihre Unbetäubbarkeit oder Resistenz gegen emotionale Abhängigkeit an. Sie hängen „in der Luft“ (V. 15), was zugleich auf Haltlosigkeit wie auf Freiheit verweist.
- Die Verse 16–18 beschreiben eine Bewegung „im freien Fall“ (V. 17), die zur Verdopplung des Selbst führt (Vgl. V. 18) – ein starkes Bild für Selbstreflexion und möglicherweise Selbstbezogenheit. Die Einsamen sind nicht geerdet („bleibt ihnen die Erde leicht“, V. 19), sie „verweht [sie] der Wind“ (V. 20), was ihre Orientierungslosigkeit oder Isolation symbolisieren könnte. Der letzte Vers „am Ziel“ (V. 22) steht isoliert, ist aber semantisch negativ aufgeladen: Sie erreichen diesen Ort nie, denn „von ihrer Stätte“ (V. 21) gehen sie „nie und nimmer“ (V. 21) fort – es gibt keinen Fortschritt, kein Ankommen.
- Insgesamt ergibt sich ein ambivalentes Bild: Die Liebenden verlieren Freiheit, gewinnen aber Verbindung und Verankerung. Die Einsamen bewahren Freiheit, zahlen dafür aber mit Haltlosigkeit und Isolation.
- Das Gedicht thematisiert die Spannung zwischen Bindung und Freiheit. Die Liebenden gewinnen Nähe, Geborgenheit, Verankerung und Fortpflanzung, verlieren aber ihre Selbstbestimmtheit. Die Einsamen hingegen bleiben autonom, aber um den Preis der Erdung, Zielgerichtetheit und möglicherweise auch Sinnstiftung. Es ist keine eindeutige Wertung erkennbar – beide Lebensformen erscheinen gleichzeitig begrenzt und erfüllend. So lädt das Gedicht zu einer existenziellen Reflexion ein: Was ist das „richtige“ Leben – Bindung trotz Einschränkung oder Freiheit trotz Einsamkeit?
- Das Gedicht besteht aus zwei unterschiedlich langen Strophen (12 und 10 Verse), die den Kontrast zwischen den beiden Daseinsformen auch formal unterstreichen. Der freie Vers, der Verzicht auf Reim und Metrum, sowie unregelmäßiger Rhythmus und zahlreiche Enjambements (z. B. V. 3–4, V. 8–9, V. 16–17) betonen die Assoziativität und Zerrissenheit der Darstellung.
- Die Sätze sind oft elliptisch oder bestehen aus kurzen Hauptsätzen, was zum Eindruck von Atemlosigkeit oder Fragmentierung beiträgt – etwa in V. 7: „Taumeln. Fallen“ (V. 7). Diese Stilmittel unterstützen die dargestellte Bewegungslosigkeit oder Haltlosigkeit.
- Die Raummetaphorik („zwischen Himmel und Erde“, V. 5) betont die existenzielle Dimension menschlicher Existenz.
- Die Pflanzenmetaphorik („wachsen“, V. 5; „wurzeln“, V. 16) verweist auf Verankerung bzw. deren Fehlen.
- Die Metaphern der Bewegung differenzieren die Daseinsformen: Die Liebenden „fallen“ (V. 7) und „taumeln“ (V. 7), die Einsamen „wirbeln“ (V. 16) umher, sie „verweht [sie] der Wind“ (V. 20) – beides verweist auf Unkontrollierbarkeit, aber mit unterschiedlicher Semantik: bei den Liebenden eher durch Bindung, bei den Einsamen durch Abwesenheit davon.
- Die Antithetik zwischen „die Liebenden“ (V. 1) und „die Einsamen“ (V. 13) strukturiert das Gedicht und stiftet Bedeutung durch Kontrast.
- Die Tautologie „nie und nimmer“ (V. 21) verstärkt die Endgültigkeit des Ausschlusses aus einer zielgerichteten Existenz.
- Durch Inversion in der ersten Zeile wird die Aussagekraft verstärkt: „Nicht die Liebenden fliegen im Wind“ (V. 1) – eine Verneinung romantischer Ideale.
- Die Wiederholung „um sich selbst / sich selbst verdoppelnd“ (V. 17 f.) unterstreicht die Selbstzentriertheit der Einsamen.
- Die Polysemie und das Spiel mit Doppeldeutigkeiten („Fallen“, V. 7) erzeugen zusätzliche Lesetiefen.
Fazit
- Ulla Hahns Gedicht Nicht die Liebenden entfaltet in eindringlicher Bildsprache ein komplexes Spannungsfeld zwischen Nähe und Freiheit, Bindung und Selbstständigkeit.
- Durch den kontrastiven Aufbau, starke Metaphorik und eine ambivalente Grundhaltung regt das lyrische Ich zur Reflexion über zwei gleichwertig mögliche, aber jeweils begrenzte Daseinsformen an.
- Es wird deutlich, dass sowohl die Liebe als auch die Einsamkeit mit Verlusten und Gewinnen verbunden sind – eine abschließende Wertung bleibt bewusst offen. Das Gedicht lädt so zur persönlichen Auseinandersetzung mit der Frage nach dem gelingenden Leben ein.
Teilaufgabe 2
Überleitung
- Nachdem das Gedicht Nicht die Liebenden von Ulla Hahn inhaltlich und formal analysiert wurde, soll nun ein Vergleich mit dem Gedicht „Die Liebenden“ von Bertolt Brecht erfolgen. Beide lyrischen Texte setzen sich auf unterschiedliche Weise mit der Bedeutung von Liebe auseinander und stellen dabei jeweils spezifische Konzepte des Liebesverhältnisses sowie des individuellen Daseins in den Mittelpunkt.
- Im Folgenden werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede beider Gedichte herausgearbeitet und analysiert, wobei sowohl inhaltliche als auch sprachlich-formale Aspekte berücksichtigt werden.
Hauptteil
Gemeinsamkeiten beider Gedichte- Beide Texte lassen sich der Gattung der Gedankenlyrik zuordnen, da sie Reflexionen über das Wesen und die Auswirkungen von Liebe in einem überindividuellen, teils philosophischen Rahmen präsentieren. Inhaltlich thematisieren sie ambivalente Erfahrungen von Liebe sowie die Suche nach Halt und Sicherheit im Leben. Dabei ist insbesondere die Naturmetaphorik zentral, welche die jeweiligen Daseinskonzepte verbildlicht. Beide Gedichte arbeiten mit dem Bildbereich des Fliegens, wobei das Motiv jeweils eine unterschiedliche Bedeutung erhält.
- So steht in Hahns Gedicht die Feststellung „Nicht die Liebenden fliegen im Wind“ (V. 1) im Zentrum, was die eingeschränkte Bewegungsfreiheit der Liebenden betont. Die Gebundenheit wird negativ konnotiert und mit Begriffen wie „Klotz am Bein“ (V. 2), „beschweren“ (V. 3) oder „Krallen sich zeugend fest / an der Welt“ (V. 11 f.) sprachlich hervorgehoben. Die Darstellung der Liebenden erfolgt somit als Verlust von Leichtigkeit und als Preis für Bindung.
- Auch Brechts Gedicht bedient sich der Metaphorik des Fliegens, jedoch mit gegenteiliger Konnotation: Die beiden Liebenden werden mit „Kraniche[n]“ (V. 1) verglichen, die „in großem Bogen“ (V. 1) gemeinsam mit den „Wolken“ (V. 2) fliegen. Die Bewegung in „den schönen Himmel“ (V. 8) steht für ein Aufgehen in der Liebe und für ein Losgelöstsein von irdischen Begrenzungen. Dennoch wird auch hier die Liebe nicht idealisiert. Die Liebenden bleiben verletzlich („So mag der Wind sie in das Nichts entführen“, V. 13) und sind äußeren Gefahren ausgesetzt („Wo Regen drohen oder Schüsse schallen“, V. 17). Beide Gedichte zeigen also, dass Liebe keinen absoluten Schutz bietet, sondern mit Risiken verbunden ist.
- Der zentrale Unterschied liegt in der Bewertung der Liebe als Lebensform. Ulla Hahn stellt das Leben in einer Liebesbeziehung als Einschränkung individueller Freiheit dar, während Brecht in der Liebe trotz Vergänglichkeit einen temporären Halt erkennt. In Hahns Text werden die Liebenden als existenziell eingeschränkt und haltlos beschrieben („geraten sie aus dem Gleichgewicht“, V. 6; „Taumeln. Fallen“, V. 7; „über die eigenen Füße“, V. 8). Der Kontrast zu den „Einsamen“ (Z. 13) in Strophe 2, die zwar „im freien Fall“ (V. 17) sind, aber sich selbst genügen, betont ein alternatives Lebenskonzept, das Freiheit über Bindung stellt („verweht sie der Wind / von ihrer Stätte nie und nimmer / am Ziel“, V. 20–22).
- Demgegenüber zeigt Brechts Gedicht eine starke, fast symbiotische Verbindung der Liebenden: „In gleicher Höhe und mit gleicher Eile / Scheinen sie alle beide nur daneben“ (V. 5 f.). Das Bild des Miteinander-Verfliegens betont Gleichklang und Harmonie. Gleichzeitig bleibt die Liebe nicht als Zustand gesichert, sondern ist bedroht durch das Vergehen („Wenn sie nur nicht vergehen“, V. 14) und durch äußere Umstände. Die Liebe wird somit nicht als statischer Halt, sondern als fragile Balance gezeigt – und dennoch bleibt sie ein bedeutungsvoller Anker: „So scheint die Liebe Liebenden ein Halt“ (V. 23).
- Formal zeigt sich Hahns Gedicht durch freie Rhythmen, unregelmäßige Verslängen (Strophe 1: 12 Verse; Strophe 2: 10 Verse) und häufige Enjambements („paar / weise“, V. 3 f.; „über die eigenen Füße / in Wälder“, V. 8 f.), was die Instabilität des beschriebenen Daseins reflektiert. Der elliptische Stil („Taumeln. Fallen“, V. 7) und die Metaphorik („Klotz am Bein“, V. 2; „sich selbst verdoppelnd“, V. 18) verdeutlichen die existenzielle Tiefe und Unsicherheit der Liebeserfahrung bzw. des Alleinseins.
- Brecht hingegen greift auf eine traditionellere Form zurück: regelmäßiger Aufbau, durchgehende Reime (Paarreime) und eine ruhig fließende Syntax. Dies unterstreicht den hymnischen, fast epischen Charakter des Gedichts. Die Naturbilder („Kraniche“, V. 1; „Wolken“, V. 2; „Himmel“, V. 8) wirken sanft und symbolisieren eine idealisierte Liebeserfahrung, die zwar nicht ewig währt, aber von innerer Tiefe geprägt ist.
- Sprachlich verwendet Hahn eher reflektive, teils distanzierende Ausdrücke („beschweren“, V. 3; „verweh[en]“, V. 20), während Brecht einen erzählenden, fast mythischen Ton anschlägt, der emotional verbindender wirkt („verfallen“, V. 19; „beieinander liegen“, V. 12).
Schluss
- Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass beide Gedichte die Ambivalenz der Liebe thematisieren, jedoch zu unterschiedlichen Deutungen gelangen.
- Während Ulla Hahn die Liebe kritisch hinterfragt und als Einschränkung individueller Freiheit darstellt, beschreibt Bertolt Brecht sie als wertvolle, wenngleich vergängliche Verbindung, die den Liebenden temporären Halt bieten kann. In formaler Hinsicht stehen sich eine moderne, freie Gestaltung (Hahn) und eine klassische, gereimte Form (Brecht) gegenüber, die jeweils die inhaltliche Aussage konsequent unterstützen.
- Beide Texte stellen damit verschiedene Konzepte von Nähe, Freiheit und Bindung zur Diskussion und laden zur Reflexion über die Bedingungen menschlichen Zusammenlebens ein.