Lerninhalte in Deutsch

Aufgabe 2

Erörterung eines literarischen Textes

Thema:
Brigitte Kronauer (* 1914 - † 2019): Dankrede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung (2005)
Aufgabenstellung:
  • Stelle die wesentlichen Aussagen des Textauszugs von Brigitte Kronauer dar und formuliere schlussfolgernd, wie Kronauer die Figur des Woyzeck interpretiert. (30 %)
  • Erörtere diesen Interpretationsansatz. Beziehe dabei deine Kenntnisse zu Büchners Dramentext ein. (70 %)
Material
Dankrede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung (Auszug) (2005)
Brigitte Kronauer

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Warum bloß, frage ich Sie, sehr geehrte Damen und Herren, und nicht weniger
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mich, hat Georg Büchner die hier gleich folgenden Worte von jemandem
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sprechen lassen, aus dessen Mund sie dermaßen unnatürlich, ja unglaubwürdig
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klingen: „… so ein schöner, fester, grauer Himmel, man könnte Lust bekommen,
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einen Kloben hineinzuschlagen und sich dran zu hängen, nur wegen des
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Gedankenstrichels zwischen Ja und Nein und wieder Ja – und Nein. Ja und Nein?
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Ist das Nein am Ja oder das Ja am Nein schuld?“
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Nicht der eloquent müde Revolutionär Danton sagt die verblüffenden Sätze,
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nicht der graziös ennuyierte Prinz Leonce, nicht der in den Wahnsinn kippende
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Schriftsteller Lenz. Ihnen allen wäre solch spitzfindig formulierter Tief- oder
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Unsinn ohne weiteres zuzutrauen. Aber Woyzeck? Ihm doch wohl eigentlich
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nicht, nicht Woyzeck, dem vierten Protagonisten von Büchners in fundamentaler
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Unterschiedlichkeit und notgedrungener Eile errichteten Universen. Trotzdem, er,
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das arme Stück Mensch, wahlweise tauglich für erniedrigend idiotische
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Experimente oder, in tödlicher Variante, als Kanonenfutter, er hat’s geäußert.
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Jedoch: Darf er das?
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Nicht seine Überlegung an sich ist das mögliche Ärgernis, nur der Umstand, daß
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er, Woyzeck, sie anstellt. Obwohl er uns allerdings vorwarnte mit der ebenfalls
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für einen wie ihn befremdlichen Bemerkung, manchmal habe man „so ’nen
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Charakter, so ’ne Struktur“. Ein hier von mir unterschlagenes, von Büchner
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zwischengeschobenes „Herr Hauptmann“ und ein paar, je nach Ausgabe,
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volksnah stimmend und in dialektnaher Manier weggelassene n’s am Ende, ein
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„schlage“ und „hänge“ tun dabei kaum was zur Sache. Was Woyzeck da in
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großer Not entschlüpft, ist richtigergehend intellektuell, klingt keineswegs nach
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urtümlich schlichtem Gemüt, hört sich unpassend akrobatisch, ja, um Himmels
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willen, heraus mit dem bösen Wort, artifiziell an!
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Liegt aber der literaturhistorische Ruhm Büchners nicht zu einem großen Teil
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darin begründet, daß er, ungeschönt und Mitgefühl weckend, einen jener
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Rechtlosen zum ersten Mal auf die Bühne brachte als das, was er war und ist: ein
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von der relevanten Gesellschaft allenfalls als Dreiviertelmensch angesehenes und
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benutztes Wesen, ohne Bildung und daher fast unzivilisiert, das sein vermutlich
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ungeschlachtet Innenleben lieber, wenn’s schon sein muß, leihweise in
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sogenannten Volksliedern oder Bibelversen artikulieren und eventuell goutierbar
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machen sollte? Gilt Büchner nicht jedem Schulkind als Revolutionär auch
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deshalb, weil er, im Gegensatz zum ungeliebten Schiller, die Wirklichkeit nicht
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idealisiert, sondern endlich in ihrer realen Erscheinung darstellte?
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Und dann ausgerechnet bei unserem Woyzeck, dem uns inzwischen so teuren
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Prachtexemplar des Geringen, des leidend Anspruchslosen derart komplizierte
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Gedanken und Gedankenstrichel! […]
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Woyzeck […] konstatiert zu seiner Verzweiflung, jedoch ab sofort zu unserem
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Trost: „Jeder Mensch ist ein Abgrund.“
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Wir atmen auf! Ist das nicht plötzlich in unseren Ohren Engelsmusik? […] Auch
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Hinz und Kunz, oder, wie der Dichter Ror Wolf sagen würde, Noll, Lemm, Sapp
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und Klomm, sind: vielfältig? Sind jeder für sich: unergründlich, gerade so wie Sie
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und ich? […]
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Das ist die Revolution, eine Binsenweisheit, aber eine dauerhaft revolutionäre:
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Nicht die Erkenntnis, daß, recht unverbindlich, alle Menschen Menschen und
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irgendwie auch Brüder sind. Vielmehr, daß kein Mensch, ob Überflieger oder
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nicht, flach ist, simpel ist! Keiner, was er an Floskeln auch daherredet,
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gedankenlos, hilflos, Einverständnis heischend, ist, egal was Augenschein und
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Verabredung behaupten mögen, nur mit dieser einen, von ihm verbalisierten
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Dimension ausgestattet. […]


Anmerkungen zur Autorin:
Brigitte Kronauer (1940–2019) war Schriftstellerin.
Aus: Dankrede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung (Letzter Zugriff: 05.02.2024)
Rechtschreibung und Zeichensetzung entsprechen der Textquelle.

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