Lerninhalte in Deutsch

Aufgabe 3

Interpretation eines literarischen Textes

Thema:
Herta Müller (* 1953): Mutter, Vater und der Kleine (1982)
Aufgabenstellung:
  • Interpretiere den Prosatext Mutter, Vater und der Kleine von Herta Müller.
Material
Mutter, Vater und der Kleine (1982)
Herta Müller

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Viele Grüße von der sonnigen Schwarzmeerküste. Wir sind gut angekommen.
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Das Wetter ist schön. Das Essen ist gut. Die Kantine ist unten im Hotel, und der
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Strand ist gleich neben dem Hotel.
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Und Mutter kann die Lockenwickler nicht zu Hause lassen, und Vaters Schlafan-
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zug und Mutters Morgenrock und Mutters Hausschuhe mit den seidernen Quasten
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auch nicht.
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Vater ist der einzige, der im Anzug und mit Krawatte in der Kantine sitzt. Doch
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Mutter will’s nicht anders.
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Das fertige Essen steht auf dem Tisch, dampft und dampft, und die Kellnerin ist
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wieder mal freundlich zu Vater, und das bestimmt nicht zufällig. Und Mutter
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welkt das Gesicht, Mutter tropft die Nase. Mutter schwillt eine Ader am Hals,
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Mutter fällt eine Haarsträhne in die Augen, Mutter zittert der Mund, Mutter senkt
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den Löffel tief in die Suppe hinein.
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Vater zuckt die Schultern, Vater schaut weiter auf die Kellnerin und vertropft die
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Suppe auf dem Weg zum Mund, spitzt dennoch die Lippen vor dem leeren Löffel
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und schlürft und steckt den Löffel bis zum Stiel in den Mund. Vater schwitzt auf
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der Stirn.
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Und schon hat der Kleine das Glas umgekippt. Das Wasser tropft durch Mutters
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Kleid zu Boden, schon hat er sich den Löffel in den Schuh gesteckt, schon hat er
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die Blumen aus der Vase zerpflückt und über den grünen Salat gestreut.
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Vater reißt die Geduld, Vaters Augen werden milchig und eiskalt, und Mutters
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Augen werden dick und heiß. Es ist schließlich auch dein Kind, genauso wie es
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meines ist. Mutter, Vater und der Kleine gehen am Bierstand vorbei.
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Vater verlangsamt den Schritt, und Mutter sagt, dass Biertrinken nicht in Frage
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kommt, nein, davon kann gar nicht die Rede sein.
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Und Vater hasst das vom Sonnenbrand schon am ersten Tag krebssrot verbrannte
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Kind und hat Mutters schlürfenden Gang hinter sich, weiß, ohne sich umzudrehn,
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dass ihr auch diese Schuhe zu eng sind, dass auch daraus ihr Fleisch hervorquillt,
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wie aus allen anderen, dass keine Schuhe der Welt breit genug für ihre Füße
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sind, für ihren kleinen Zeh, der immer gekrümmt und wundgerieben und banda-
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giert ist.
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Mutter zerrt das Kind neben sich her und sagt einen Satz vor sich hin, der so
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lang ist wie der Weg, dass Kellnerinnen Huren sind, verdorbene Geschöpfe, arm-
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selige Dinger, die es zu nichts bringen auf dieser Welt. Der Kleine weint und lässt
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sich im Gehen hängen und zu Boden fallen, und Mutters Fingerspuren leuchten
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röter auf seinen Wangen als der Sonnenbrand.
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Mutter findet die Zimmerschlüssel nicht und stülpt die Handtasche um, und Vater
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ekelt es vor ihrer speckigen Brieftasche, ihrem ewig zerknüllten Geld, ihrem kleb-
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rigen Kamm, ihren ewigen nassen Taschentüchern.
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Da sind die Schlüssel endlich in Vaters Rocktasche, und Mutters Augen werden
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nass, Mutter krümmt sich und weint.
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Und das Licht zuckt, und die Tür klemmt, und der Lift stockt. Vater vergisst das
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Kind im Lift. Mutter hämmert mit beiden Händen ein auf die Zimmertür.
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Nachmittags gibt’s das Mittagsschläfchen.
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Vater schwitzt und schnarcht, Vater liegt auf dem Bauch, Vater vergräbt sein Ge-
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sicht und befleckt im Traum das Kissen mit Speichel. Der Kleine zerrt an der De-
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cke, wühlt mit den Füßen, runzelt die Stirn und sagt im Traum das Gedicht von
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der Abschlussfeier im Kindergarten auf. Mutter liegt wach und starr in der
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schlechtgewaschenen Bettwäsche, unter der schlechtgeweißten Zimmerdecke,
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hinter den schlechtgewaschenen Fensterscheiben. Auf dem Stuhl liegt ihre Hand-
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arbeit.
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Mutter strickt einen Arm. Mutter strickt einen Rücken, Mutter strickt einen Kra-
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gen, Mutter strickt ein Knopfloch in den Kragen.
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Mutter schreibt eine Ansichtskarte: Hier sieht man das Hotel, in dem wir wohnen.
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Unser Fenster habe ich mit einem Kreuzchen angezeichnet. Das andere Kreuz
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unten im Sand zeigt den Platz, wo wir immer Sonnenbad machen.
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Wir gehen schon frühmorgens los, damit wir die ersten sind, damit uns kein an-
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derer den Platz besetzt.


Aus: Müller, Herta: Niederungen, Rotbuch Verlag 1984, S. 135–137.
Rechtschreibung und Zeichensetzung wurden behutsam angepasst.

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