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Basiswissen

Aufgabe 2

Erörterung eines literarischen Textes

Thema:
David G. Richards (* 1935): Georg Büchners „Woyzeck”. Interpretation und Textgestaltung (1975)
Aufgabenstellung:
  • Stelle David G. Richards’ Interpretationsansatz dar. (ca. 30 %)
  • Erörtere Richards’ Interpretationsansatz im Hinblick auf die Frage, ob das Dramenfragment Woyzeck zum Umsturz der gesellschaftlichen Verhältnisse aufruft. (ca. 70 %)
Material
Georg Büchners „Woyzeck”. Interpretation und Textgestaltung
David G. Richards
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Der Hauptmann ist ein geistloser Vertreter der von der Kirche gelehrten
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konventionellen Moral, und der Doktor ist durch sein monomanes Interesse an
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der medizinischen Wissenschaft vollkommen entmenschlicht. Als Verkörperungen
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von Ideen und Verhaltensweisen stellen sie die Art von leblosen, mechanischen
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Puppen dar, die Büchner charakteristisch für die idealistische Kunst hält; als
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„idealisierte Natur“ stehen sie den Fleisch-und-Blut-Naturen gegenüber, die
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Büchners Kunst verlangt.
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Insofern sie Woyzeck degradieren, mißbrauchen und verletzen, dienen sie auch
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als Träger sozialer Kritik. Interpretationen, die diesen Aspekt der sozialkritischen
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Problematik hervorheben, übertreiben nicht nur das, was von relativ geringer
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und oberflächlicher Bedeutung ist, sondern werden auch dem tieferen und weit
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revolutionäreren Gehalt des Stücks nicht gerecht. Die Analyse der
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aufeinanderfolgenden Stufen in der Entwicklung des Dramas zeigt, daß Büchner
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es absichtlich vermied, einen melodramatischen Konflikt zwischen den guten
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Menschen und den bösen Vertretern einer schlechten Gesellschaft zu schaffen.
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[...] Anstatt uns mit Grauen und Haß zu erfüllen, kommen sie uns eher grotesk
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und lächerlich vor. Sie fungieren nicht als Bedrücker, sondern als die Mittel,
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durch welche die Beschränktheit, Unzulänglichkeit und Starrheit der christlichen
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Moral und die Gefühllosigkeit der experimentellen Wissenschaft parodiert und
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verspottet wird. [...]
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Der Doktor zeigt sogar noch größere Kaltblütigkeit und Erbarmungslosigkeit dem
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Hauptmann gegenüber als im Verkehr mit Woyzeck. Was Woyzecks Situation von
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der des Hauptmanns unterscheidet, ist die Verantwortlichkeit, die er für den
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Unterhalt seiner kleinen Familie auf sich genommen hat, denn dadurch wird er
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gezwungen, alle sich ihm bietenden Verdienstmöglichkeiten anzunehmen, selbst
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so gefährliche wie die, sich als Versuchstier verwenden zu lassen.
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Die in dieser Situation immanente Kritik richtet sich nicht gegen ein Individuum
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oder eine bestimmte soziale Schicht, sondern gegen die Struktur einer
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Gesellschaft, in der ein Mann wie Woyzeck eine kleine Familie nicht unterhalten
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kann, ohne sich Tag und Nacht mit erschöpfender und oft entwürdigender Arbeit
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abzuarbeiten. Die Botschaft des „Hessischen Landboten“ kehrt hier in
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dramatischer Form wieder. Die Gesetze und Einrichtungen des Staates werden
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von den Reichen für die Reichen entworfen, um Ordnung aufrechtzuerhalten. Für
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die Armen bedeutet die bestehende Ordnung nur Hunger und Überarbeitung. Die
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Schlußfolgerung, die aus der Situation Woyzecks gezogen werden muß,
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entspricht der der politischen Flugschrift: Die Gesetze und Einrichtungen des
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Staates müssen geändert werden, so daß die Armen größeren Nutzen aus ihrer
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eigenen Arbeit gewinnen und ein menschenwürdigeres Leben führen können.

David G. Richards ist ein amerikanischer Literaturwissenschaftler.
Aus: Richards, David G.: Georg Büchners Woyzeck. Interpretation und Textgestaltung. Bonn: Bouvier Verlag Herbert Grundmann 1975, S. 53–57.
Rechtschreibung und Zeichensetzung entsprechen der Textquelle.

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