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Basiswissen

Aufgabe 2

Analyse eines literarischen Textes mit weiterführendem Schreibauftrag

Thema:
Hilmar Klute (*1967): Es ist uns kein Anliegen
Aufgabenstellung:
  • Analysiere den Text. Berücksichtige dabei den Argumentationsgang, die sprachlich-stilistische Gesaltung sowie die Intention des Textes.
    (ca. 80 %)
  • Beurteile die Überzeugungskraft der Argumentation von Hilmar Klute. (ca. 20 %)
Material
Es ist uns kein Anliegen (Auszug) 2021
Hilmar Klute
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Das Reden über Literatur ist seit einiger Zeit wieder aufgeregt und aufgeladen, einerseits weil
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alles nur noch aufgeregt und aufgeladen ist, andererseits: weil einige Menschen derzeit wieder
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vieles von der Literatur fordern. Die einen möchten, dass literarische Texte mit der Sprache
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eine Gerechtigkeit herstellen, die wünschenswert ist, die es in der Wirklichkeit aber leider nicht
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immer gibt. Andere wünschen sich, dass Autoren möglichst rasch und eindeutig die Karten auf
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den Tisch legen, wie sie zur Genderfrage stehen, welche Kerben die Corona-Maßnahmen in
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ihren inneren Bildschirm geschlagen haben und ob sie auch auf die Lieferung der sortenreinen
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Edelhölzer für den Kamin in ihrer Schreibhütte warten oder etwa nicht. Dringend erwartet wird
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unterdessen auch endlich der Roman zum Klimawandel.
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Zuletzt angemahnt wurde dieser Roman in der Zeit, wo Bernd Ulrich immer wieder nervös auf
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die Uhr schaut, auf der es aber immer noch fünf vor zwölf ist. Höchste Zeit, dass die deutschen
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Autorinnen und Autoren sich jetzt mal sputen. Wie kann es sein, dass sich die deutschen
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Schrifitsteller so störrisch geben und den Roman über unser wichtigstes Anliegen, den
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Klimaschutz, verweigern? Wissen sie denn nicht: Erst wenn auch die erzählende Literatur
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klimaneutral ist, kann der C02-Ausstoß um das notwendige Drittel gesenkt werden.
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Ist nicht aber andererseits das Schöne an der schönen Literatur zum Beispiel dieses Herbstes
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der Umstand, dass sie so gut wie nichts über das blöde Coronavirus und dessen Folgen für
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Mensch, Wohnung und Katze bereitgestellt hat? Es gibt, jedenfalls gilt das für die in den
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Feuilletons besprochenen Bücher, bis jetzt noch keinen Roman über Autos, die auf schmutzigen
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Fluten durch Häusergassen treiben , keinen über dösige Impfverweigerer wie Kimmich. Es
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erschien nicht einmal eine satirische Novelle, in der ein maliziös lächelnder, gespenstisch
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lässiger Sozialdemokrat vorkommt, den noch ein paar Wochen vor der Wahl alle ausgelacht
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haben für seine bizarre Kanzlerkandidatur, und der jetzt Bundeskanzler wird, was wirklich noch
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vor wenigen Minuten kein einziger Zukunftsforscher, geschweige denn die Qualitätspresse oder
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Bernd Ulrich für möglich gehalten hätte, nicht wahr?
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Viele Bücher dieses Herbstes handeln stattdessen auf eindringliche oder sogar besonders
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schöne Weise von unserer Gegenwart, von den Geistern, die seit Jahrhunderten in uns hocken
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und uns daran erinnern, wie sehr wir auch Kinder der Geschichte unserer Mütter und Väter sind
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- Henning Ahrens etwa erzählt davon in seiner überhellen realistischen Art in seinem neuen
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Roman „Mitgift" (Klett-Cotta).
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Es gibt im - vor allem deutschen - Kulturbetrieb die seltsame Neigung, Schriftsteller entweder
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gering zu schätzen oder sie gleich zu Orakeln zu erklären. Wann gab es je so viele Statements,
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offene Briefe, Unterschriftenlisten von Autoren zu sämtlichen tagesaktuellen Anliegen? Und
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warum noch mal brauchen wir Schriftsteller, wie es in der Zeit heißt, gerade jetzt so dringend?
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Wieso nicht gestern? Oder morgen?
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Schriftsteller haben eigentlich die nur von sich selbst an sich selbst gestellte Aufgabe, Bücher
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zu schreiben. Dass sie sich jenseits davon in Debatten einmischen oder Bücher zu aktuellen
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Debatten schreiben müssten, ist ein gelernter Anspruch der spätmodernen Konsumgesellschaft,
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die weiß, dass es für jeden Blödsinn, den sie macht, auch einen verlässlichen Kritiker gibt. In
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der alten Bundesrepublik haben Schriftsteller diese Kritikerrolle gerne gespielt, weil sie auch
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Teilhabe an der politischen Macht bedeuten konnte, selbst wenn sich diese Autoren im
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Widerspruch zur Macht begriffen haben oder eben der SPD-Unterstützer Günter Grass mit
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seinen ständigen unbequemen Einmischungen seinem Heiden Willy Brandt in Wahrheit
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massiv auf die Nerven ging. Nicolas Born, der ein wichtiger Autor der 70er-Jahre war, stellt in
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einem Aufsatz irgendwann entnervt die Frage, ob die Literatur eigentlich auf die Misere
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abonniert sei.
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Born bejaht die Frage und erinnert daran, dass ein Autor, der zur Realität nichts weiter als den
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passenden Realismus zu bieten hat, in der poetischen Falle sitzt. Der gesellschaftskritische
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Autor, schreibt er, „kann nicht verhindern, dass er zum Gewohnheitskritiker wird und zum
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kritischen Partner der Macht". Natürlich sind dies Kämpfe vergangener Zeiten.
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Aber man könnte die Forderung nach einer Klimakrisen-Literatur spaßeshalber ja ernst nehmen
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und sich dann vorstellen, welche Art von Erzählung eigentlich dabei herumkommen soll. Es
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würde, wenn es nach dem Begleitmusik-Wunsch der Aktivisten geht, tatsächlich eine Literatur
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der Misere entstehen, jeder Roman müsste doch ein hoffnungsloses Endzeit-Panorama
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entfalten, in der Klimadiskussion sind Utopien nicht sehr populär - und gerade eben erfahren
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wir, dass wir sogar im Pandemiejahr 2020 hoffnungslos viel Treibhausgas ausgestoßen haben,
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wie soll das erst werden, wenn die Leute alle wieder in den Urlaub fliegen und an Bord Fleisch
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essen? Ein Autor, der dagegen eine Welt beschriebe, in der sich Menschen den veränderten
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Klimabedingungen angepasst haben und - mag sein mit großen Schwierigkeiten - trotzdem ein
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Leben führen, wird sich aus dem Leugnungsvorwurfnur mühsam winden können.
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Wer mit der Autorität des Kulturplatzanweisers fordert, die Literatur möge sich bitte auf das
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kaprizieren, was im Augenblick die Welt (also: ihn) bewegt - ahnt er denn noch das
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komplizierte Gewebe, aus dem literarische Texte gemacht sind? Ein Roman ist das Produkt von
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sehr unterschiedlichen, mitunter einander widerstrebenden Energien, von soziologischen
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Umständen, biografischen Zwängen und poetologischen Positionen. Wer nun, zum Beispiel,
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aus Christa Wolfs „Störfall" allen Ernstes einzig eine Kritik an der Atomindustrie liest, der tut
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Christa Wolf wirklich böse Unrecht.
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Der Wunsch, die Literatur möge einem großen Ganzen dienen, einem höheren Interesse, zum
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Wohle aller, ist nicht neu, und er erfüllte sich auch regelmäßig in der Gestalt sogenannter
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engagierter Autoren. Im Jahr 1930 führte der große Lyriker und unglückliche Hautarzt Gottfried
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Benn, der den reinen Kunstanspruch an die Literatur erhob und deshalb leider wegen Elite- und
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Auslesewahnsinn kurzzeitig an die Nazis geriet, ein Gespräch mit dem parteidienerischen
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kommunistischen Lyriker Johannes R. Becher. Benn fragte mit seiner raffiniert hinterfotzigen
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Sprechstundenstimme Becher, was dieser mit seiner Literatur denn eigentlich erreichen wolle.
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Becher: „Ich diene mit meinen Dichtungen ausschließlich der geschichtlichen Bewegung, von
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deren Durchbruch in der Zukunft das Schicksal der gesamten Menschheit abhängt." Nicht dass
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Benn als moralisches Vorbild taugt. Aber aus Becher ist literarisch gleich mal nichts mehr
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geworden. Einfluss hatte er nur noch als Kulturminister der DDR, seine Gedichte waren nichts
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als Kaderkitsch und leere Rhetorik.
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Übrigens liegt im bebenden Pathos der Klimaaktivisten, das ja immer auch die Rührung am
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eigenen Zutun mit sich trägt, womöglich mehr Literatur als in der Vorstellung der Welt als
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Wüste aus Sand und Meer. Dieses Pathos, schöne Buchidee ...

Anmerkung zum Autor:
Hilmar Klute ist Journalist und Schriftsteller.
Aus: Klute, Hilmar (26.10.2021): Es ist uns kein Anliegen, letzter Zugriff am 13.02.2022.

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