Aufgabe 3
Interpretation eines literarischen Textes
Thema: Wolfgang Borchert (* 1921 - † 1947): Draußen vor der Tür. Ein Stück, das kein Theater spielen und kein Publikum sehen will (1947) Aufgabenstellung:- Interpretiere die zweiteilige Exposition des Dramas.
Ein Stück, das kein Theater spielen und kein Publikum sehen will (1947) Wolfgang Borchert
Ein Soldat kehrt aus der Kriegsgefangenschaft heim.
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Ein Mann kommt nach Deutschland.
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Er war lange weg, der Mann. Sehr lange. Vielleicht zu lange. Und er kommt ganz anders wieder,
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als er wegging. Äußerlich ist er ein naher Verwandter jener Gebilde, die auf den Feldern stehen,
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um die Vögel (und abends manchmal auch die Menschen) zu erschrecken. Innerlich – auch. Er
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hat tausend Tage draußen in der Kälte gewartet. Und als Eintrittsgeld mußte er mit seiner
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Kniescheibe bezahlen. Und nachdem er nun tausend Nächte draußen in der Kälte gewartet hat,
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kommt er endlich doch noch nach Hause.
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Ein Mann kommt nach Deutschland.
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Und da erlebt er einen ganz tollen Film. Er muß sich während der Vorstellung mehrmals in den
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Arm kneifen, denn er weiß nicht, ob er wacht oder träumt. Aber dann sieht er, daß es rechts und
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links neben ihm noch mehr Leute gibt, die alle dasselbe erleben. Und er denkt, daß es dann
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doch wohl die Wahrheit sein muß. Ja, und als er dann am Schluß mit leerem Magen und kalten
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Füßen wieder auf der Straße steht, merkt er, daß es eigentlich nur ein ganz alltäglicher Film
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war, ein ganz alltäglicher Film. Von einem Mann, der nach Deutschland kommt, einer von
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denen. Einer von denen, die nach Hause kommen und die dann doch nicht nach Hause kommen,
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weil für sie kein Zuhause mehr da ist. Und ihr Zuhause ist dann draußen vor der Tür. Ihr
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Deutschland ist draußen, nachts im Regen, auf der Straße.
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Das ist ihr Deutschland.
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Vorspiel
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(Der Wind stöhnt. Die Elbe schwappt gegen die Pontons. Es ist Abend. Der
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Beerdigungsunternehmer. Gegen den Abendhimmel die Silhouette eines Menschen.)
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DER BEERDIGUNGSUNTERNEHMER (rülpst mehrere Male und sagt dabei jedesmal):
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Rums! Rums! Wie die – Rums! Wie die Fliegen! Wie die Fliegen, sag ich.
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Aha, da steht einer. Da auf dem Ponton. Sieht aus, als ob er Uniform an hat. Ja, einen alten
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Soldatenmantel hat er an. Mütze hat er nicht auf. Seine Haare sind kurz wie eine Bürste. Er
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steht ziemlich dicht am Wasser. Beinahe zu dicht am Wasser steht er da. Das ist verdächtig.
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Die abends im Dunkeln am Wasser stehn, das sind entweder Liebespaare oder Dichter. Oder
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das ist einer von der großen grauen Zahl, die keine Lust mehr haben. Die den Laden
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hinwerfen und nicht mehr mitmachen. Scheint auch so einer zu sein von denen, der da auf
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dem Ponton. Steht gefährlich dicht am Wasser. Steht ziemlich allein da. Ein Liebespaar kann
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es nicht sein, das sind immer zwei. Ein Dichter ist es auch nicht. Dichter haben längere
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Haare. Aber dieser hier auf dem Ponton hat eine Bürste auf dem Kopf. Merkwürdiger Fall,
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der da auf dem Ponton, ganz merkwürdig. (Es gluckst einmal schwer und dunkel auf. Die
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Silhouette ist verschwunden.) Rums! Da! Weg ist er. Reingesprungen. Stand zu dicht am
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Wasser. Hat ihn wohl untergekriegt. Und jetzt ist er weg. Rums. Ein Mensch stirbt. Und?
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Nichts weiter. Der Wind weht weiter. Die Elbe quasselt weiter. Die Straßenbahn klingelt
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weiter. Die Huren liegen weiter weiß und weich in den Fenstern. Herr Kramer dreht sich auf
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die andere Seite und schnarcht weiter. Und keine – keine Uhr bleibt stehen. Rums! Ein
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Mensch ist gestorben. Und? Nichts weiter. Nur ein paar kreisförmige Wellen beweisen, daß
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er mal da war. Aber auch die haben sich schnell wieder beruhigt. Und wenn die sich
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verlaufen haben, dann ist auch er vergessen, verlaufen, spurlos, als ob er nie gewesen wäre.
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Weiter nichts. Hallo, da weint einer. Merkwürdig. Ein alter Mann steht da und weint. Guten
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Abend.
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DER ALTE MANN (nicht jämmerlich, sondern erschüttert): Kinder! Kinder! Meine Kinder!
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BEERDIGUNGSUNTERNEHMER: Warum weinst du denn, Alter?
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DER ALTE MANN: Weil ich es nicht ändern kann, oh, weil ich es nicht ändern kann.
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BEERDIGUNGSUNTERNEHMER: Rums! Tschuldigung! Das ist allerdings schlecht. Aber
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deswegen braucht man doch nicht gleich loszuheulen wie eine verlassene Braut. Rums!
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Tschuldigung!
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DER ALTE MANN: Oh, meine Kinder! Es sind doch alles meine Kinder!
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BEERDIGUNGSUNTERNEHMER: Oho, wer bist du denn?
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DER ALTE MANN: Der Gott, an den keiner mehr glaubt.
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BEERDIGUNGSUNTERNEHMER: Und warum weinst du? Rums! Tschuldigung!
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GOTT: Weil ich es nicht ändern kann. Sie erschießen sich. Sie hängen sich auf. Sie ersaufen
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sich. Sie ermorden sich, heute hundert, morgen hunderttausend. Und ich, ich kann es nicht
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ändern.
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BEERDIGUNGSUNTERNEHMER: Finster, finster, Alter. Sehr finster. Aber es glaubt eben
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keiner mehr an dich, das ist es.
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GOTT: Sehr finster. Ich bin der Gott, an den keiner mehr glaubt. Sehr finster. Und ich kann es
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nicht ändern, meine Kinder, ich kann es nicht ändern. Finster, finster.
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BEERDIGUNGSUNTERNEHMER: Rums! Tschuldigung! Wie die Fliegen! Rums! Verflucht!
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GOTT: Warum rülpsen Sie denn fortwährend so ekelhaft? Das ist ja entsetzlich!
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BEERDIGUNGSUNTERNEHMER: Ja, ja, greulich! Ganz greulich! Berufskrankheit. Ich bin
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Beerdigungsunternehmer.
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GOTT: Der Tod? – Du hast es gut! Du bist der neue Gott. An dich glauben sie. Dich lieben sie.
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Dich fürchten sie. Du bist unumstößlich. Dich kann keiner leugnen! Keiner lästern. Ja, du
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hast es gut. Du bist der neue Gott. An dir kommt keiner vorbei. Du bist der neue Gott, Tod,
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aber du bist fett geworden. Dich hab ich doch ganz anders in Erinnerung. Viel magerer,
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dürrer, knochiger, du bist aber rund und fett und gut gelaunt. Der alte Tod sah immer so
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verhungert aus.
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TOD: Naja, ich hab in diesem Jahrhundert ein bißchen Fett angesetzt. Das Geschäft ging gut.
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Ein Krieg gibt dem andern die Hand. Wie die Fliegen! Wie die Fliegen kleben die Toten an
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den Wänden dieses Jahrhunderts. Wie die Fliegen liegen sie steif und vertrocknet auf der
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Fensterbank der Zeit.
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GOTT: Aber das Rülpsen? Warum dieses gräßliche Rülpsen?
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TOD: Überfressen. Glatt überfressen. Das ist alles. Heutzutage kommt man aus dem Rülpsen
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gar nicht heraus. Rums! Tschuldigung!
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GOTT: Kinder, Kinder. Und ich kann es nicht ändern! Kinder, meine Kinder! (geht ab)
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TOD: Na, dann gute Nacht, Alter. Geh schlafen. Paß auf, daß du nicht auch noch ins Wasser
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fällst. Da ist vorhin erst einer reingestiegen. Paß gut auf, Alter. Es ist finster, ganz finster.
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Rums! Geh nach Haus, Alter. Du änderst es doch nicht. Wein nicht über den, der keine
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Plumps gemacht hat. Der mit dem Soldatenmantel und der Bürstenfrisur. Du weinst dich
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zugrunde! Die heute abends am Wasser stehen, das sind nicht mehr Liebespaare und Dichter.
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Der hier, der war nur einer von denen, die nicht mehr wollen oder nicht mehr mögen. Die
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einfach nicht mehr können, die steigen dann abends irgendwo still ins Wasser. Plumps.
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Vorbei. Laß ihn, nicht heul, Alter. Du heulst dich zugrunde. Das war nur einer von denen,
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die nicht mehr können, einer von der großen grauen Zahl ... einer ... nur ...
Aus: Borchert, Wolfgang: Das Gesamtwerk. Rowohlt Verlag, Hamburg 1993, S. 102 – 105.
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- Wolfgang Borcherts Drama Draußen vor der Tür aus dem Jahr 1947 gilt als eines der bedeutendsten Werke der deutschen Trümmerliteratur. Es beschreibt das Schicksal eines vom Krieg traumatisierten Heimkehrers, der nach seiner Rückkehr in eine zerstörte Heimat keine soziale und emotionale Zugehörigkeit mehr findet.
- Die Exposition des Dramas, bestehend aus einem epischen und einem dramatischen Teil, stellt die thematische und atmosphärische Grundlage des Stücks dar.
- Sie führt nicht nur in die existenzielle Verlorenheit des Protagonisten ein, sondern reflektiert zugleich eine ganze Generation nach dem Zweiten Weltkrieg.
- In der vorliegenden Analyse soll untersucht werden, wie diese doppelte Exposition inhaltlich und formal gestaltet ist und welche sprachlichen und symbolischen Mittel Borchert einsetzt, um die Thematik der Desillusionierung und Isolation zu vermitteln.
Hauptteil
Inhaltliche Analyse
- Im epischen Teil wird die Figur des Mannes bzw. Soldaten eingeführt, der „lange weg“ (Z. 2) war und nun heimkehrt. Durch seine äußere Erscheinung wird bereits angedeutet, dass er durch den Krieg sowohl physisch als auch psychisch schwer gezeichnet ist.
- Die Form der Erzählung verstärkt dabei die Distanz und Objektivierung seines Schicksals, was seine Isolation noch betont.
- Die wiederholte Nennung des Landes „Deutschland“ (Z. 1, 8, 14, 18) sowie des Begriffs „nach Hause“ (Z. 7, 15) macht deutlich, dass der Heimkehrer keinen Anschluss mehr an sein früheres Leben findet. Statt Sicherheit erfährt er „Kälte“ (Z. 6),und eine existentielle Fremdheit.
- Die Realität der Nachkriegszeit ist für ihn eine völlig neue, entfremdete Welt, in der seine alte Identität keinen Platz mehr hat. Der Mann wird zum Symbol einer ganzen verlorenen Generation, deren persönliche Krise zugleich Ausdruck einer gesellschaftlichen Katastrophe ist.
- Im dramatischen Teil (Vorspiel) tritt der Soldat zunächst nur als Randfigur auf, beobachtet von zwei allegorisch aufgeladenen Figuren: dem Beerdigungsunternehmer/Tod und dem alten Mann/Gott. Der Beerdigungsunternehmer verkörpert eine nihilistische Haltung, für die der Tod zur Normalität geworden ist.
- Er verspottet die Sinnsuche und das individuelle Leid der Menschen, verweist auf die Bedeutungslosigkeit des Einzelnen angesichts einer übermäßigen Anzahl von Toten: „Wie die Fliegen liegen sie steif und vertrocknet auf der Fensterbank der Zeit“ (Z. 73 f.).
- Der alte Mann, eine entthronte Gottesfigur, ist ohnmächtig und resigniert: Er bemitleidet sich selbst, weil niemand mehr an ihn glaubt (Vgl. Z. 51 f.). In seiner Hilflosigkeit kann er das Elend der Menschheit nur noch beklagen, ohne eingreifen zu können („Kinder! Kinder! Meine Kinder!“, Z. 44, 50, 78).
- Der Suizid des Soldaten, der sich in die Elbe stürzt, wird nicht verhindert – er geschieht still und wird allenfalls beobachtet, aber nicht betrauert oder aufgehalten.
- Die Analogie zum epischen Teil liegt auf der Hand: Das individuelle Schicksal des Soldaten steht exemplarisch für die Isolation, Verzweiflung und Heimatlosigkeit einer ganzen Generation in der Nachkriegszeit.
- Die Exposition endet in einem Zustand völliger Hoffnungslosigkeit, in dem der Tod die einzige Konsequenz zu sein scheint.
Formale Analyse
- Borchert nutzt eine Vielzahl sprachlich-stilistischer Mittel, um die innere Leere und Orientierungslosigkeit der Figuren sowie die Ausweglosigkeit der Nachkriegssituation eindrucksvoll zu vermitteln.
- Im epischen Teil fällt vor allem die Wiederholung auf, etwa im Satz: „Er war lange weg, der Mann. Sehr lange. Vielleicht zu lange“ (Z. 2). Diese Reihung verstärkt das Gefühl von Fremdheit und Desorientierung.
- Die Ellipse („Vielleicht zu lange“, Z. 2) deutet das Unaussprechliche an und lässt Raum für Interpretation.
- Die Metapher der „Kälte“ (Z. 6) beschreibt nicht nur die physische Umgebung, sondern auch den emotionalen Zustand des Heimkehrers.
- Besonders eindrucksvoll ist die Metapher der Vogelscheuche (Vgl. Z. 3 f.) zur Verdeutlichung seiner Entfremdung: „Äußerlich ist er ein naher Verwandter jener Gebilde, die auf den Feldern stehen.“ (Z. 3 f.)
- Der Film als metafiktionales Motiv („Und da erlebte er einen ganz tollen Film“, Z. 9) verweist auf die surreale Qualität der neuen Realität, in die der Soldat nach dem Krieg eintaucht – als wäre sie inszeniert, nicht lebbar.
- Weitere Antithetiken („… ob er wacht oder träumt“, Z. 10) und metaphorische Bilder („Eintrittsgeld“, Z. 5) dienen der Darstellung einer zerrissenen, absurden Welt.
- Im dramatischen Teil ist die Sprache dialogisch, wirkt aber oft wie ein Selbstgespräch. Die Personifikation des Windes („Der Wind stöhnt“, Z. 20) unterstreicht die düstere Stimmung am Ufer der Elbe.
- Die Figur des Todes verwendet stakkatoartige, parataktische Sätze („Die den Laden hinwerfen und nicht mehr mitmachen“, Z. 28–29) und Onomatopoesien („Rums! Rums!“, Z. 23), um seine zynische und gleichgültige Haltung zu verdeutlichen.
- Zentrale stilistische Elemente sind die wiederholte Verwendung des Wortes „weiter“ (Z. 36–39) sowie die Interjektion „Und?“ (Z. 35, 39), die die Belanglosigkeit des Todes gegenüber dem menschlichen Leid zeigen. Die Sprache Gottes hingegen ist durch Exklamationen und emotionale Ausbrüche geprägt („Kinder! Kinder!“, Z. 44), was seine Verzweiflung sichtbar macht. Dennoch bleibt er machtlos – eine tragische Gottfigur in einer gottverlassenen Welt.
- Die Symbolik des Wassers (Vgl. Z. 26, 27, 30, 35, 79, 83, 85) deutet auf das Vergessen, das Versinken des Individuums im Strom der Geschichte hin.
- Die Metapher der „grauen Zahl“ (V. 28, 87) steht für die Anonymität des Todes in der Masse.
- Die Anapher „steht“ (V. 30) hebt den Moment des Selbstmords hervor und die Akkumulation suizidaler Handlungen (Vgl. Z. 54–55) macht die Ausweglosigkeit einer ganzen Generation sichtbar.
Schluss
- Die zweigeteilte Exposition von Borcherts Drama Draußen vor der Tür stellt in ihrer epischen und dramatischen Form die zentrale Aussage des Werkes vor: die völlige Desillusionierung eines Heimkehrers angesichts einer entfremdeten, nach dem Krieg orientierungslos gewordenen Gesellschaft.
- Durch den Einsatz zahlreicher sprachlicher Stilmittel und symbolischer Figuren wird das individuelle Schicksal des Mannes mit dem Leiden einer ganzen Generation verknüpft. Der Suizid des Soldaten erscheint nicht als Ausnahme, sondern als Ausdruck eines kollektiven Phänomens der Mutlosigkeit.
- Damit entwirft Borchert ein eindringliches Bild einer Epoche, in der die Ideale von Glaube, Hoffnung und Menschlichkeit unter den Trümmern des Krieges begraben zu sein scheinen.