Lerninhalte in Deutsch

Aufgabe 4

Analyse eines pragmatischen Textes mit weiterführendem Schreibauftrag

Thema: Helmut Berschin (* 1940): Sehr geehrte Persönlichkeiten (2022)
Aufgabenstellung:
  • Stelle den Argumentationsgang des Textes von Helmut Berschin dar und erläutere die Intention des Textes.
    (ca. 40 %)
  • Erörtere die Position des Autors unter Berücksichtigung deiner Kenntnisse zu Sprache in politisch-gesellschaftlichen Verwendungszusammenhängen.
    (ca. 60 %)
Material
Sehr geehrte Persönlichkeiten! (2022)
Helmut Berschin

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Eigentlich könnten die rund 90 Millionen Muttersprachler des Deutschen mit ihrer Sprache
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zufrieden sein: Sie funktioniert als Kommunikationsmittel für alle Sprecher, unabhängig von
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deren Herkunft, Geschlecht, Alter, Religion und den politischen Umständen. Auch in den 40
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Jahren der politischen Teilung Deutschlands blieb die Nation sprachlich geeint. Zunehmend
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macht sich aber Unmut über den Sprachgebrauch staatlicher Stellen und des
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gebührenfinanzierten Fernsehens breit: Leserbriefe kritisieren „die unnötige Verkomplizierung
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der deutschen Sprache“, ihre „Verhunzung“ und ihren „Missbrauch für eine
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gesellschaftspolitisch und ideologisch motivierte Agenda“.
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Eine Sprache braucht an sich keinen Staat, sie funktioniert von allein. Umgekehrt gilt aber: Der
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Staat braucht die Sprache; denn Staaten sind Kommunikationsgemeinschaften, und politisches
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Handeln läuft über die Sprache: Revolutionäre wie Robespierre in Frankreich, Lenin in
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Russland, Fidel Castro in Kuba haben vor allem „geredet“: in ihrer Sprache, die sie perfekt
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benutzten. Sie wären nie auf die Idee gekommen, die Grammatik des Französischen,
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Russischen oder Spanischen zu ändern.
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Schon die alten Römer wussten: Caesar non est supra grammaticos, auch der Kaiser steht nicht
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über den Grammatiken – oder moderner übersetzt: „Der Staat kann der Grammatik nichts
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befehlen.“ Genau dies weiß der deutsche Staat heute nicht mehr und fördert unter dem Namen
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„geschlechtergerechte (geschlechtersensible) Sprache“ eine Grammatikänderung, die als
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„Gendern“ bezeichnet wird.
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Dabei geht es um das grammatische Geschlecht (Genus) von Personenbezeichnungen. Im
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Deutschen gilt hierzu die Faustregel: Männliche Personen stehen grammatisch im Maskulinum,
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weibliche im Femininum. In zahlreichen Fällen ist die Personenbezeichnung allerdings
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geschlechtsneutral: der Star, der Säugling (und sonstige Bezeichnungen auf -ling), die Geisel,
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die Persönlichkeit, das Opfer, das Kind.
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Nun ist das biologische Geschlecht (Sexus) einer Person, über die gesprochen wird, häufig
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unbekannt: Wer sagt: „Der Nächste bitte!“ oder in einem Notfall fragt: „Ist ein Arzt an Bord?“,
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weiß noch nicht, ob es sich um eine Frau oder einen Mann handelt. Die
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Geschlechtszugehörigkeit ist hier auch sachlich uninteressant, genauso wie bei größeren
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Personengruppen, die ja meistens geschlechtergemischt sind: Im Satz „München hat rund 1,5
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Millionen Einwohner“ bezieht sich das Maskulinum Einwohner nicht nur auf Männer, sondern
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auf Männer und Frauen.
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Grammatisch bezeichnet man diese Funktion als allgemeines oder „generisches“ Maskulinum.
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Dieses generische Maskulinum soll aus der grammatischen Struktur des Deutschen
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verschwinden, und zwar durch Gendern, was zu „geschlechtergerechten“ Formulierungen führt
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wie: „Der oder die Nächste bitte!“, „Ist ein Arzt oder eine Ärztin an Bord?“, „München hat rund
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1,5 Millionen Einwohner⁶“ (die Stadt Köln verwendet bereits diese Bezeichnung). Aber kann
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sich eine solche Grammatikänderung in der Sprachpraxis durchsetzen?
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Richtiges Gendern ist kompliziert: Es genügt nicht, einfach an die Personenbezeichnung ein
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-er oder -innen anzuhängen (was zu Fehlbildungen wie Mitgliederinnen oder
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Krankenschwestern führen kann), man muss zum Beispiel auch die pronominalen Bezüge
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beachten: Das geflügelte Wort „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die
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Wahrheit spricht“ lautet auf Genderdeutsch: „Wer einmal lügt, dem oder der glaubt man nicht,
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und wenn er oder sie auch die Wahrheit spricht.“
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Wer nicht sprachwissenschaftlich vorgebildet ist, muss Gendern lernen – und das kostet Zeit:
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Der 2021 erschienene Ratgeber „Richtiges Gendern für Dummies (Anfänger)“ hat 160 Seiten
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und das „Handbuch geschlechtergerechter Sprache“ (2022) 272 Seiten. Befolgt man alle
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Genderregeln solcher Ratgeber, ist das generische Maskulinum aus einem Text aber
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keineswegs verschwunden: Bei direkten, anredfähigen Personenbezeichnungen wird es zwar
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ersetzt (die Bürger werden zu Bürgerinnen und Bürger), aber in Wortableitungen (bürger-lich,
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Bürger-tum) bleibt es durchaus erhalten, ebenso als Erstglied von Wortzusammensetzungen:
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Bürger-beteiligung, Bürger-dialog, bürger-freundlich, Bürger-geld, Bürger-rechte.
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Der Umfang dieses Wortschatzes ist enorm – allein zu Bürger gibt es im Rechtschreibduden
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mehr als 50 einschlägige Wortbildungen. Die Gender-Ratgeber empfehlen deshalb, diese
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Wörter gar nicht zu gendern, womit ihr Ziel, das generische Maskulinum abzuschaffen,
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illusorisch wird: Ein Wort wie Lehrermangel müsste ja nach der Genderlehre bedeuten, dass
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nur männliche Lehrer fehlen, und deshalb durch Lehrer- und Lehrerinnenmangel ersetzt
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werden.
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Aber auch die Beschränkung des Genderns auf direkte Personenbezeichnungen führt in der
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Sprachpraxis nicht dazu, dass „richtig“ und, vor allem, systematisch gegendert wird. Meistens
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bleiben viele generische Maskulinformen ungegendert.
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Nehmen wir als Beispiel den Koalitionsvertrag von 2021 zwischen SPD, Grünen und FDP –
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ein Text, der von der politischen Führungselite des Landes formuliert wurde. Der 177 Seiten
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umfassende Vertrag enthält korrekt gegenderte Paarformen wie „Anglerinnen und Angler“,
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„Bürgerinnen und Bürger“, „Landwirtinnen und Landwirte“. Andererseits werden
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Personengruppen wie „Teilnehmer“ (an Meisterkursen), „Waldbesitzer“, „Verfassungsfeinde“
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im generischen Maskulin genannt. Und schließlich kommt dieselbe Personenbezeichnung
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gegendert und ungegendert vor: Es gibt „Nutzerinnen und Nutzer“ neben „Nutzer“, „ein oder
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eine Tierschutzbeauftragte“ neben „einem (geplanten) Meeresbeauftragten“, „Akteurinnen und
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Akteure“ neben „Akteuren“.
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Kurzum: ein sprachliches Durcheinander, bei dem sich die Frage stellt, ob die Verfasser
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gendern nicht können oder nicht ernst nehmen. Jedenfalls ist „richtiges Gendern“ für die hohe
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Politik Nebensache; es geht nur darum, sprachsymbolisch ab und zu ein Gendersignal zu
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senden, um seine positive Einstellung zu zeigen.
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Dieses selektive Gendern hat gegenüber dem systematischen Gendern kommunikativ drei
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Vorteile: Man kann erstens dabei sprachlich kaum Fehler machen, weil es sich auf einige
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Floskeln wie „Bürgerinnen und Bürger“ beschränkt. Zweitens wird das Publikum, das bei
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penetrantem Gendern erfahrungsgemäß „abschaltet“, nicht gelangweilt. Drittens hat der Autor
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bei einem nicht oder wenig gegenderten Text mehr Formulierungsmöglichkeiten als bei einem
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systematisch gegenderten. Es gibt deshalb bisher keinen Schriftsteller, der auf Genderdeutsch
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schreibt.
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Die Genderquote – das Verhältnis gegenderter zu genderbaren Personenbezeichnungen – ist
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beim selektiven Gendern relativ niedrig: In ZDF-Nachrichtensendungen und bei genderwilligen
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Zeitungen liegt sie bei etwa zehn Prozent (mehr gendern würde die Texte aufblähen und
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stilistisch holprig machen).
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Gendern fällt also sprachlich auf, und das soll es ja: Es dient als politisches Bekenntnissymbol.
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Aber wofür? Irgendwie für „modern“, „weltoffen“, „Vielfalt“, „Fortschritt“,
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„Gleichberechtigung“. Gendern soll zeigen, dass jemand die richtige Haltung und Gesinnung
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hat, es ist eine Frage der Moral, wobei die deutsche Sprache nur als „Aufhänger“ dient. Einen
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sachlichen Informationswert hat das Gendern nicht: Die Schlagzeile „EU erschwert Einreise
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für Russinnen und Russen“ sagt nicht mehr aus als „EU erschwert Einreise für Russen“.
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Mit dem Sprachfeminismus, der in den 1980er-Jahren entstand, und in der „Männersprache
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Deutsch“ die Frauen „sichtbar“ machen wollte, hat die heutige Debatte um das Gendern als
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Zeichen sprachlicher „Geschlechtergerechtigkeit“ nichts mehr zu tun. Der Sprachfeminismus
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ging von zwei Geschlechtern aus: „männlich“ und „weiblich“. Aber diese „binäre“
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Geschlechterordnung ist seit dem 1. Oktober 2017 nicht mehr zeitgemäß, als das
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Bundesverfassungsgericht ein „drittes Geschlecht“ anerkannte, das im Personenstandsregister
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nun als „divers“ oder „ohne Angabe“ erscheint.
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Für dieses dritte Geschlecht – die Anzahl der Betroffenen schätzte das Bundesverfassungs-
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gericht auf 160 000, standesamtlich registriert sind weniger als 10 000 – reichte die beim
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Gendern übliche Paarformel (Bürgerinnen und Bürger) nicht mehr aus. So entstanden
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künstliche Wortbildungen, in denen die Diversen grafisch ein Sonderzeichen dargestellt
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werden: Genderstern (Bürger*innen), Unterstrich (Bürger_innen), Doppelpunkt
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(Bürger:innen).
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Am verbreitetsten ist heute der Genderstern, den die Universität Bielefeld ihren Studenten 2019
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so erklärte: „Symbolisch stehen die Strahlen des Sternchens, die in verschiedene Richtungen
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zeigen, für die unterschiedlichen Geschlechtsidentitäten. Das Gendersternchen bildet Vielfalt
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ab.“ Aber wie soll man das Sternchen aussprechen? Indem zwischen Wortstamm und Endung
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eine kurze Pause (‧) gemacht wird: Bürger‧innen. Im Rundfunk wird diese Aussprache
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ausprobiert, allerdings verstehen die Zuhörer meistens Bürgerinnen, also „weibliche Bürger“.
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Mit dem dritten Geschlecht stellt sich übrigens das Problem der geschlechtergerechten Anrede:
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„Meine Damen und Herren!“ geht nicht mehr, weil es nur zwei Geschlechter anspricht. Die
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Politik ist hier mit einer Änderung noch zurückhaltend – im Bundestag lautet die
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Standardanrede weiter „Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!“ –, aber die Universität
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Regensburg hat schon einen Vorschlag gemacht: „Sehr geehrte Persönlichkeiten!“
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Was hat das Gendern gebracht? Für die Deutschsprecher nichts, außer einer gewissen
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Verunsicherung im öffentlichen Sprachgebrauch: Darf man noch „Studenten“ sagen,
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„Ausländer“ und „Demonstranten“ – oder muss es heißen: „Studierende, Menschen mit
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ausländischem Pass, Demonstrierende“?
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Positiv wirkt sich das Gendern für dessen Protagonisten aus: Sie können mit Planstellen in
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staatlichen Einrichtungen rechnen, vor allem an Universitäten, wo die Genderwissenschaften
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aufblühen und eine „wissenschaftliche“ Begründung für das Gendern liefern. Hauptargument:
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Frauen fühlen sich durch das generische Maskulinum nicht angesprochen.
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[…]
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Für die Politik ist Gendern ein nützliches Mittel, um Sachfragen in Sprachfragen aufzulösen,
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wie die faktische Benachteiligung von Frauen: Die Durchschnittsrente von Frauen betrug 2020
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in Westdeutschland 730 Euro, für Männer 1210 Euro. Altersarmut trifft also in erster Linie
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Frauen – daran ändert auch nichts, dass sie in der Floskel „Rentnerinnen und Rentner“ politisch
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hervorgehoben werden.
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„Nun sag, wie hast du’s mit der Religion?“, fragt in Goethes „Faust“ Margarete. Diese
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„Gretchenfrage“ stellt sich heute für viele beim Gendern: Wer es tut, bekennt sich aktiv oder
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als Mitläufer zu einer quasireligiösen „Bewegung“. Gendern ist zwar schlechter Stil und seine
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Begründung sprachwissenschaftlich falsch, aber politisch ein Ausdruck von Meinungsfreiheit
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– die jedoch da endet, wo man anderen vorschreibt zu gendern.


Aus: Berschin, Helmut: Sehr geehrte Persönlichkeiten! In: Nürnberger Zeitung (22.09.2022), S. 16.

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