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Vorschlag A

Interpretation eines literarischen Textes

Thema:
E. T. A. Hoffmann (* 1776 - † 1822): Der Sandmann (1816)
E. T. A. Hoffmann (* 1776 - † 1822): Der unheimliche Gast (1820)
Aufgabenstellung:
  • Interpretiere den vorliegenden Auszug aus E. T. A. Hoffmanns Erzählung Der unheimliche Gast auch unter Berücksichtigung epochentypischer Merkmale der Romantik. (Material)
  • (60 BE)
  • Setze den vorliegenden Textauszug (Material) in Beziehung zu E. T. A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann im Hinblick auf den Umgang mit dem Unheimlichen.
  • (40 BE)
Material
Der unehimliche Gast (1820)
E. T. A. Hoffmann
Bei dem vorliegenden Textauszug handelt es sich um den Beginn der Erzählung.
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Der Sturm brauste durch die Lüfte, den heranziehenden Winter verkündigend, und trieb die schwarzen
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Wolken vor sich her, die zischende, prasselnde Ströme von Regen und Hagel hinabschleuderten.
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„Wir werden“, sprach, als die Wanduhr sieben schlug, die Obristin v. G. zu ihrer Tochter, Angelika,
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geheißen, „wir werden heute allein bleiben, das böse Wetter verscheucht die Freunde. Ich wollte nur,
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daß mein Mann heimkehrte.“ In dem Augenblick trat der Rittmeister Moritz von R. hinein. Ihm folgte
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der junge Rechtsgelehrte, der durch seinen geistreichen, unerschöpflichen Humor den Zirkel belebte,
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der sich jeden Donnerstag im Hause des Obristen zu versammeln pflegte, und so war, wie Angelika
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bemerkte, ein einheimischer Kreis beisammen, der die größere Gesellschaft gern vermissen ließ […]
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Der Punsch dampfte, das Feuer knisterte im Kamin, man setzte sich enge beisammen an den kleinen
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Tisch. Da fröstelten und schauerten alle, und so munter und laut man erst im Saal auf und niedergehend
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gesprochen, entstand jetzt eine augenblickliche Stille, in der die wunderlichen Stimmen, die der
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Sturm in den Rauchfängen aufgestört hatte, recht vernehmbar pfiffen und heulten.
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„Es ist“, fing Dagobert, der junge Rechtsgelehrte, endlich an, „es ist nun einmal ausgemacht, daß
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Herbst, Sturmwind, Kaminfeuer und Punsch ganz eigentlich zusammen gehören, um die heimlichsten
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Schauer in unserm Innern aufzufördern.“ – „Die aber gar angenehm sind“, fiel ihm Angelika in die
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Rede. „Ich meines Teils kenne keine hübschere Empfindung, als das leise Frösteln, das durch alle
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Glieder fährt, und indem man, der Himmel weiß wie, mit offenen Augen einen jähen Blick in die selt-
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samste Traumwelt hineinwirft.“ – „Ganz recht“, fuhr Dagobert fort, „ganz recht. Dieses angenehme
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Frösteln überfällt uns eben jetzt alle, und bei dem Blick, den wir dabei unwillkürlich in die Traumwelt
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werfen mußten, wurden wir ein wenig stille. Wohl uns, daß das vorüber ist, und daß wir sobald aus der
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Traumwelt zurückgekehrt sind in die schöne Wirklichkeit, die uns dies herrliche Getränk darbietet!“
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Damit stand er auf und leerte, sich anmutig gegen die Obristin verneigend, das vor ihm stehende Glas.
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„Ei“, sprach nun Moritz, „ei, wenn du, so wie das Fräulein, so wie ich selbst, alle Süßigkeit jener
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Schauer, jenes träumerischen Zustandes empfindest, warum nicht gerne darin verweilen?“ – „Er-
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laube“, nahm Dagobert das Wort, „erlaube, mein Freund, zu bemerken, daß hier von jener Träumerei,
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in welcher der Geist sich in wunderlichem wirrem Spiel selbst verlustigt, gar nicht die Rede ist. Die
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„echten Sturmwind-Kamin- und Punschschauer sind nichts anders, als der erste Anfall jenes unbegrif-
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flichen geheimnisvollen Zustandes, der tief in der menschlichen Natur begründet ist, gegen den der
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Geist sich vergebens auflehnet, und vor dem man sich wohl hüten muß. Ich meine das Grauen – die Ge-
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spensterfurcht. Wir wissen alle, daß das unheimliche Volk der Spukgeister nur des Nachts, vorzüglich
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wenn bei bösem Unwetter der dunklen Heimat entsteigt und seine irre Wanderung beginnt; billig
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ist’s daher, daß wir zu solcher Zeit irgendeines grauenhaften Besuchs gewärtig sind.“ – „Sie scherzen“,
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sprach die Obristin, „Sie scherzen Dagobert, und auch das darf ich Ihnen nicht einräumen, daß das
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kindische Grauen, von dem wir manchmal befallen, ganz unbedingt in unserer Natur begründet sein
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solle, vielmehr rechne ich es den Ammenmärchen und tollen Spukgeschichten zu, mit denen uns die
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gestrengen Mütter und unsere Wärterinnen überschütteten.“
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„Nein“, rief Dagobert lebhaft, „nein, gnädige Frau! Nie würden jene Geschichten, die uns als Kinder
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doch die allerliebsten waren, so tief und ewig in unserer Seele widerhallen, wenn nicht die wiedertö-
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nenden Saiten in unserm eignen Innern lägen. Nicht wegzuläugnen ist die geheimnisvolle Geisterwelt,
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die uns umgibt, und die oft in seltsamen Klängen, ja in wunderbaren Visionen sich uns offenbart.“
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Die Schauder der Furcht, des Entsetzens mögen nur herrühren von dem Drange des bildenden Organismus.
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Es ist das Weh des eingekerkerten Geistes, das sich darin ausspricht.“ – „Sie sind“, sprach die Obristin,
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„ein Geisterseher wie alle Menschen von reiner Phantasie. Gehe ich aber auch wirklich ein in Ihre
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Ideen, glaube ich wirklich, daß es einer unbekannten Geisterwelt erlaubt sei, in vernehmbaren Tönen,
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ja in Visionen sich uns zu offenbaren, so sehe ich doch nicht ein, warum die Natur die Vasallen jenes
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geheimnisvollen Reichs so feindselig uns gegenüber gestellt haben sollte, daß sie nur Grauen, zerstö-
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rendes Entsetzen über uns zu bringen vermögen.“ – „Vielleicht“, fuhr Dagobert fort, „vielleicht liegt da-
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rin die Strafe der Mutter, deren Pflege, deren Zucht wir entartete Kinder entflohen. Ich meine, daß in
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jener goldenen Zeit, als unser Geschlecht noch in innigstem Einklange mit der ganzen Natur lebte, kein
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Grauen, kein Entsetzen uns verstörte, eben weil es in dem tiefsten Frieden, in der seligsten Harmonie
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alles Seins keinen Feind gab, der dergleichen über uns bringen konnte. Ich sprach von seltsamen Geis-
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terstimmen, aber wie kommt es denn, daß alle Naturalteure, deren Ursprung wir genau anzugeben wiß-
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sen, uns wie der schneidendste Jammer tönen und unsere Brust mit dem tiefsten Entsetzen erfüllen? –
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Der merkwürdigste jener Naturtöne ist die Luftmusik oder sogenannte Teufelsstimme auf Ceylon und
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in den benachbarten Ländern, deren Schubert in seinen Ansichten von der Nachtseite der Naturwis-
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senschaft gedenkt. Diese Naturstimme läßt sich in stillen heitern Nächten, den Tönen einer tiefklagen-
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den Menschstimme ähnlich, bald wie aus weiter – weiter Ferne daherschwebend, bald ganz in der
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Nähe schallend, vernehmen. Sie äußert eine solche tiefe Wirkung auf das menschliche Gemüt, daß die
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ruhigsten, verständigsten Beobachter sich des tiefsten Entsetzens nicht erwehren können.“ – „So ist
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es“, unterbrach Moritz den Freund, „so ist es in der Tat. Nie war ich auf Ceylon, noch in den be-
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nachbarten Ländern, und doch hörte ich jenen entsetzlichen Naturlaut, und nicht ich allein, jeder, der
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ihn vernahm, fühlte die Wirkung, wie sie Dagobert beschrieben.“ – „So wirst du“, erwiderte Dagobert,
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„mich recht erfreuen und am besten die Frau Obristin überzeugen, wenn du erzählst, wie sich alles be-
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geben.“
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„Sie wissen“, begann Moritz, „daß ich in Spanien unter Wellington wider die Franzosen focht. Mit
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einer Abteilung spanischer und englischer Kavallerie bivouacquirte ich vor der Schlacht bei Vikto-
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ria zur Nachtzeit auf offenem Felde. Ich war von dem Marsch am gestrigen Tage, bis zum Tode er-
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müdet, fest eingeschlafen, da weckte mich ein schneidender Jammerlaut. Ich fuhr auf, ich glaubte
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nicht anders, als daß sich dicht neben mir ein Verwundeter gelagert, dessen Todesschrei ich vernom-
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men. Doch schrankten die Kameraden um mich her, und nichts ließ sich weiter hören. Die ersten
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Strahlen des Frührots brachen durch die dicke Finsternis, ich stand auf und schritt über die Schläfer
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wegsteigend weiter und fort, um vielleicht den Verwundeten oder Sterbenden zu finden. Es war eine stille
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Nacht, nur leise, leise fing sich der Morgenwind an zu regen und das Laub zu schütteln. Da ging zum
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zweitenmal ein langer Klageruf durch die Lüfte und verhallte dumpf in tiefer Ferne. Es war, als
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schwärmten sich die Geister der Erschlagenen von den Schlachtfeldern abermals in einer tief entsetzli-
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chen Wehklage des Himmels Raum. Meine Brust erbebte, ein Gefühl reinen tiefes namenloses
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Grauen. – Was war aller Jammer, den ich jemals aus menschlicher Kehle ertönen gehört, gegen diesen
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herzschneidenden Laut! Die Kameraden rappelten sich nun auf aus dem Schlafe. Zum dritten Mal er-
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füllte stärker und gräßlicher der Jammerlaut die Lüfte. Wir erstarrten im tiefsten Entsetzen, selbst die
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Pferde wurden unruhig und schnaubten und stampften. Mehrere von den Spaniern sanken auf die Knie
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nieder und beteten laut. Ein englischer Offizier versicherte, daß er dies Phänomen, das sich in der At-
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mosphäre erzeuge, und elektrischen Ursprungs sei, schon öfters in südlichen Gegenden bemerkt
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habe, und daß wahrscheinlich die Witterung sich ändern werde. Die Spanier, zum Glauben an das
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Wunderbare geneigt, hörten die gewaltigen Geisterstimmen überirdischer Wesen, die das Ungeheure
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verkündeten, das sich nun begeben werde. Sie fanden ihren Glauben bestätigt, als folgenden Tages die
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Schlacht mit all’ ihren Schrecken daher donnerte.“
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„Dürfen wir“, sprach Dagobert, „dürfen wir denn nach Ceylon gehen oder nach Spanien, um die wun-
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derbaren Klagetöne der Natur zu vernehmen? Kann uns das dumpfe Geheul des Sturmwinds, das Ge-
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prassel des herabstürzenden Hagels, das Ächzen und Krächzen der Windfahnen nicht eben so gut, wie
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jener Ton mit tiefem Grausen erfüllen? – Ei! gönnen wir doch nur ein geneigtes Ohr der tollen Musik,
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die hundert abscheuliche Stimmen hier im Kamin aborgeln, oder horchen wir doch nur was weniges
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auf das gespenstische Liedlein, das eben jetzt die Teemaschine zu singen beginnt!“
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„O herrlich!“ rief die Obristin, „o überaus herrlich! – Sogar in die Teemaschine bannt unser Dagobert
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Gespenster, die sich uns in grausigen Klagelauten offenbaren sollen!“ „Ganz unrecht“, nahm Angelika
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das Wort, „ganz unrecht, liebe Mutter, hat unser Freund doch nicht. Das wunderliche Pfeifen und
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Knattern und Zischen im Kamin könnte mir wirklich Schauer erregen, und das Liedchen, was die Tee-
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maschine so tiefklagend absingt, ist mir so unheimlich, daß ich nur gleich die Lampe auslöschen
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will, damit es schnell ende.“ […]

Aus: E. T. A. Hoffmann: Der unheimliche Gast, in: E. T. A. Hoffmann: Die Serapions-Brüder, Sämtliche Werke Bd 4, hg. v. W. Segebrecht, Frankfurt am Main 2002, S. 722–727.

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