Vorschlag A
Interpretation eines literarischen Textes
Thema: E. T. A. Hoffmann (* 1776 - † 1822): Der Sandmann (1816) E. T. A. Hoffmann (* 1776 - † 1822): Der unheimliche Gast (1820) Aufgabenstellung:- Interpretiere den vorliegenden Auszug aus E. T. A. Hoffmanns Erzählung Der unheimliche Gast auch unter Berücksichtigung epochentypischer Merkmale der Romantik. (Material)
- Setze den vorliegenden Textauszug (Material) in Beziehung zu E. T. A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann im Hinblick auf den Umgang mit dem Unheimlichen.
(60 BE)
(40 BE)
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Der Sturm brauste durch die Lüfte, den heranziehenden Winter verkündigend, und trieb die schwarzen
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Wolken vor sich her, die zischende, prasselnde Ströme von Regen und Hagel hinabschleuderten.
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„Wir werden“, sprach, als die Wanduhr sieben schlug, die Obristin v. G. zu ihrer Tochter, Angelika,
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geheißen, „wir werden heute allein bleiben, das böse Wetter verscheucht die Freunde. Ich wollte nur,
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daß mein Mann heimkehrte.“ In dem Augenblick trat der Rittmeister Moritz von R. hinein. Ihm folgte
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der junge Rechtsgelehrte, der durch seinen geistreichen, unerschöpflichen Humor den Zirkel belebte,
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der sich jeden Donnerstag im Hause des Obristen zu versammeln pflegte, und so war, wie Angelika
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bemerkte, ein einheimischer Kreis beisammen, der die größere Gesellschaft gern vermissen ließ […]
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Der Punsch dampfte, das Feuer knisterte im Kamin, man setzte sich enge beisammen an den kleinen
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Tisch. Da fröstelten und schauerten alle, und so munter und laut man erst im Saal auf und niedergehend
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gesprochen, entstand jetzt eine augenblickliche Stille, in der die wunderlichen Stimmen, die der
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Sturm in den Rauchfängen aufgestört hatte, recht vernehmbar pfiffen und heulten.
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„Es ist“, fing Dagobert, der junge Rechtsgelehrte, endlich an, „es ist nun einmal ausgemacht, daß
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Herbst, Sturmwind, Kaminfeuer und Punsch ganz eigentlich zusammen gehören, um die heimlichsten
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Schauer in unserm Innern aufzufördern.“ – „Die aber gar angenehm sind“, fiel ihm Angelika in die
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Rede. „Ich meines Teils kenne keine hübschere Empfindung, als das leise Frösteln, das durch alle
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Glieder fährt, und indem man, der Himmel weiß wie, mit offenen Augen einen jähen Blick in die selt-
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samste Traumwelt hineinwirft.“ – „Ganz recht“, fuhr Dagobert fort, „ganz recht. Dieses angenehme
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Frösteln überfällt uns eben jetzt alle, und bei dem Blick, den wir dabei unwillkürlich in die Traumwelt
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werfen mußten, wurden wir ein wenig stille. Wohl uns, daß das vorüber ist, und daß wir sobald aus der
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Traumwelt zurückgekehrt sind in die schöne Wirklichkeit, die uns dies herrliche Getränk darbietet!“
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Damit stand er auf und leerte, sich anmutig gegen die Obristin verneigend, das vor ihm stehende Glas.
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„Ei“, sprach nun Moritz, „ei, wenn du, so wie das Fräulein, so wie ich selbst, alle Süßigkeit jener
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Schauer, jenes träumerischen Zustandes empfindest, warum nicht gerne darin verweilen?“ – „Er-
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laube“, nahm Dagobert das Wort, „erlaube, mein Freund, zu bemerken, daß hier von jener Träumerei,
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in welcher der Geist sich in wunderlichem wirrem Spiel selbst verlustigt, gar nicht die Rede ist. Die
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„echten Sturmwind-Kamin- und Punschschauer sind nichts anders, als der erste Anfall jenes unbegrif-
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flichen geheimnisvollen Zustandes, der tief in der menschlichen Natur begründet ist, gegen den der
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Geist sich vergebens auflehnet, und vor dem man sich wohl hüten muß. Ich meine das Grauen – die Ge-
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spensterfurcht. Wir wissen alle, daß das unheimliche Volk der Spukgeister nur des Nachts, vorzüglich
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wenn bei bösem Unwetter der dunklen Heimat entsteigt und seine irre Wanderung beginnt; billig
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ist’s daher, daß wir zu solcher Zeit irgendeines grauenhaften Besuchs gewärtig sind.“ – „Sie scherzen“,
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sprach die Obristin, „Sie scherzen Dagobert, und auch das darf ich Ihnen nicht einräumen, daß das
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kindische Grauen, von dem wir manchmal befallen, ganz unbedingt in unserer Natur begründet sein
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solle, vielmehr rechne ich es den Ammenmärchen und tollen Spukgeschichten zu, mit denen uns die
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gestrengen Mütter und unsere Wärterinnen überschütteten.“
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„Nein“, rief Dagobert lebhaft, „nein, gnädige Frau! Nie würden jene Geschichten, die uns als Kinder
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doch die allerliebsten waren, so tief und ewig in unserer Seele widerhallen, wenn nicht die wiedertö-
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nenden Saiten in unserm eignen Innern lägen. Nicht wegzuläugnen ist die geheimnisvolle Geisterwelt,
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die uns umgibt, und die oft in seltsamen Klängen, ja in wunderbaren Visionen sich uns offenbart.“
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Die Schauder der Furcht, des Entsetzens mögen nur herrühren von dem Drange des bildenden Organismus.
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Es ist das Weh des eingekerkerten Geistes, das sich darin ausspricht.“ – „Sie sind“, sprach die Obristin,
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„ein Geisterseher wie alle Menschen von reiner Phantasie. Gehe ich aber auch wirklich ein in Ihre
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Ideen, glaube ich wirklich, daß es einer unbekannten Geisterwelt erlaubt sei, in vernehmbaren Tönen,
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ja in Visionen sich uns zu offenbaren, so sehe ich doch nicht ein, warum die Natur die Vasallen jenes
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geheimnisvollen Reichs so feindselig uns gegenüber gestellt haben sollte, daß sie nur Grauen, zerstö-
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rendes Entsetzen über uns zu bringen vermögen.“ – „Vielleicht“, fuhr Dagobert fort, „vielleicht liegt da-
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rin die Strafe der Mutter, deren Pflege, deren Zucht wir entartete Kinder entflohen. Ich meine, daß in
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jener goldenen Zeit, als unser Geschlecht noch in innigstem Einklange mit der ganzen Natur lebte, kein
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Grauen, kein Entsetzen uns verstörte, eben weil es in dem tiefsten Frieden, in der seligsten Harmonie
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alles Seins keinen Feind gab, der dergleichen über uns bringen konnte. Ich sprach von seltsamen Geis-
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terstimmen, aber wie kommt es denn, daß alle Naturalteure, deren Ursprung wir genau anzugeben wiß-
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sen, uns wie der schneidendste Jammer tönen und unsere Brust mit dem tiefsten Entsetzen erfüllen? –
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Der merkwürdigste jener Naturtöne ist die Luftmusik oder sogenannte Teufelsstimme auf Ceylon und
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in den benachbarten Ländern, deren Schubert in seinen Ansichten von der Nachtseite der Naturwis-
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senschaft gedenkt. Diese Naturstimme läßt sich in stillen heitern Nächten, den Tönen einer tiefklagen-
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den Menschstimme ähnlich, bald wie aus weiter – weiter Ferne daherschwebend, bald ganz in der
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Nähe schallend, vernehmen. Sie äußert eine solche tiefe Wirkung auf das menschliche Gemüt, daß die
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ruhigsten, verständigsten Beobachter sich des tiefsten Entsetzens nicht erwehren können.“ – „So ist
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es“, unterbrach Moritz den Freund, „so ist es in der Tat. Nie war ich auf Ceylon, noch in den be-
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nachbarten Ländern, und doch hörte ich jenen entsetzlichen Naturlaut, und nicht ich allein, jeder, der
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ihn vernahm, fühlte die Wirkung, wie sie Dagobert beschrieben.“ – „So wirst du“, erwiderte Dagobert,
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„mich recht erfreuen und am besten die Frau Obristin überzeugen, wenn du erzählst, wie sich alles be-
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geben.“
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„Sie wissen“, begann Moritz, „daß ich in Spanien unter Wellington wider die Franzosen focht. Mit
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einer Abteilung spanischer und englischer Kavallerie bivouacquirte ich vor der Schlacht bei Vikto-
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ria zur Nachtzeit auf offenem Felde. Ich war von dem Marsch am gestrigen Tage, bis zum Tode er-
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müdet, fest eingeschlafen, da weckte mich ein schneidender Jammerlaut. Ich fuhr auf, ich glaubte
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nicht anders, als daß sich dicht neben mir ein Verwundeter gelagert, dessen Todesschrei ich vernom-
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men. Doch schrankten die Kameraden um mich her, und nichts ließ sich weiter hören. Die ersten
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Strahlen des Frührots brachen durch die dicke Finsternis, ich stand auf und schritt über die Schläfer
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wegsteigend weiter und fort, um vielleicht den Verwundeten oder Sterbenden zu finden. Es war eine stille
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Nacht, nur leise, leise fing sich der Morgenwind an zu regen und das Laub zu schütteln. Da ging zum
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zweitenmal ein langer Klageruf durch die Lüfte und verhallte dumpf in tiefer Ferne. Es war, als
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schwärmten sich die Geister der Erschlagenen von den Schlachtfeldern abermals in einer tief entsetzli-
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chen Wehklage des Himmels Raum. Meine Brust erbebte, ein Gefühl reinen tiefes namenloses
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Grauen. – Was war aller Jammer, den ich jemals aus menschlicher Kehle ertönen gehört, gegen diesen
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herzschneidenden Laut! Die Kameraden rappelten sich nun auf aus dem Schlafe. Zum dritten Mal er-
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füllte stärker und gräßlicher der Jammerlaut die Lüfte. Wir erstarrten im tiefsten Entsetzen, selbst die
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Pferde wurden unruhig und schnaubten und stampften. Mehrere von den Spaniern sanken auf die Knie
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nieder und beteten laut. Ein englischer Offizier versicherte, daß er dies Phänomen, das sich in der At-
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mosphäre erzeuge, und elektrischen Ursprungs sei, schon öfters in südlichen Gegenden bemerkt
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habe, und daß wahrscheinlich die Witterung sich ändern werde. Die Spanier, zum Glauben an das
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Wunderbare geneigt, hörten die gewaltigen Geisterstimmen überirdischer Wesen, die das Ungeheure
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verkündeten, das sich nun begeben werde. Sie fanden ihren Glauben bestätigt, als folgenden Tages die
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Schlacht mit all’ ihren Schrecken daher donnerte.“
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„Dürfen wir“, sprach Dagobert, „dürfen wir denn nach Ceylon gehen oder nach Spanien, um die wun-
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derbaren Klagetöne der Natur zu vernehmen? Kann uns das dumpfe Geheul des Sturmwinds, das Ge-
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prassel des herabstürzenden Hagels, das Ächzen und Krächzen der Windfahnen nicht eben so gut, wie
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jener Ton mit tiefem Grausen erfüllen? – Ei! gönnen wir doch nur ein geneigtes Ohr der tollen Musik,
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die hundert abscheuliche Stimmen hier im Kamin aborgeln, oder horchen wir doch nur was weniges
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auf das gespenstische Liedlein, das eben jetzt die Teemaschine zu singen beginnt!“
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„O herrlich!“ rief die Obristin, „o überaus herrlich! – Sogar in die Teemaschine bannt unser Dagobert
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Gespenster, die sich uns in grausigen Klagelauten offenbaren sollen!“ „Ganz unrecht“, nahm Angelika
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das Wort, „ganz unrecht, liebe Mutter, hat unser Freund doch nicht. Das wunderliche Pfeifen und
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Knattern und Zischen im Kamin könnte mir wirklich Schauer erregen, und das Liedchen, was die Tee-
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maschine so tiefklagend absingt, ist mir so unheimlich, daß ich nur gleich die Lampe auslöschen
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will, damit es schnell ende.“ […]
Aus: E. T. A. Hoffmann: Der unheimliche Gast, in: E. T. A. Hoffmann: Die Serapions-Brüder, Sämtliche Werke Bd 4, hg. v. W. Segebrecht, Frankfurt am Main 2002, S. 722–727.
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Einleitung
- In E. T. A. Hoffmanns Erzählung Der unheimliche Gast, erschienen 1820, wird im vorliegenden Auszug das Gespräch einer kleinen Abendgesellschaft geschildert, die sich bei aufziehendem Sturm im Kaminzimmer eines Hauses versammelt.
- Während draußen Regen und Wind toben, entspinnen sich im Inneren Gespräche über das Unheimliche, über übersinnliche Erscheinungen und die psychologischen Ursachen für Angst und Furcht.
- Im Zentrum steht die Figur Dagoberts, der seine Theorie des Unheimlichen entwickelt und durch atmosphärisch dichte Schilderungen untermauert. Der Text vereint typische Merkmale der Romantik – etwa Naturmystik, Traum und Unbewusstes – mit einer ausgeprägten Affinität zur Schauerromantik.
Hauptteil
Inhaltliche Analyse- Die Handlung setzt an einem stürmischen Herbstabend ein. Die Obristin von G. und ihre Tochter Angelika befinden sich im Wohnzimmer, während draußen ein tobender Sturm den nahenden Winter ankündigt (Vgl. Z. 1–2).
- Das prasselnde Unwetter, das durch lautmalerische Verben wie „zischende, prasselnde Ströme“ (Z. 2) charakterisiert ist, erzeugt eine bedrohliche Atmosphäre.
- Diese Wetterlage sorgt dafür, dass die erwarteten Gäste ausbleiben, sodass die Gastgeberinnen nur mit zwei eintreffenden Herren, Moritz von R. und dem jungen Rechtsgelehrten Dagobert, eine kleine gesellige Runde bilden.
- In dieser geschützten Innenwelt um das Kaminfeuer wird schließlich das Thema des Abends eingeführt: das Unheimliche.
- Das Gespräch nimmt seinen Ausgangspunkt, als Dagobert scheinbar beiläufig äußert, dass der Herbst, das Kaminfeuer und der Punsch auf geheimnisvolle Weise zusammengehören (Vgl. Z. 13–14). Damit leitet er eine ernsthafte Reflexion über das Unheimliche ein.
- Seine These: Das Unheimliche manifestiere sich nicht allein in äußeren Erscheinungen, sondern auch in körperlich-seelischen Reaktionen wie dem „Frösteln“ (Z. 16). Dieses wird als eine „hübschere Empfindung“ (Z. 16) beschrieben, ein lustvoller Schauder, der zwischen Angenehmem und Grauen changiert – ein typisches Motiv der Schauerromantik.
- Dagobert knüpft daran eine Theorie, die das Unheimliche als Ausdruck einer „Geisterwelt“ (Z. 39) begreift, die durch Visionen, Klänge und Träume mit der realen Welt verbunden ist (Vgl. Z. 37–41). Diese Erklärungen rufen Widerspruch bei der Obristin hervor.
- Moritz, der bis dahin zurückhaltend geblieben ist, erzählt nun eine eigene Kriegserfahrung aus Spanien. In seinem Bericht schildert er, wie er nachts bei Ceylon eine unheimliche Stimme hörte, die aus der Ferne wie ein Klagelied erklang und ihn sowie seine Kameraden zutiefst erschütterte (Vgl. Z. 65–77).
- Besonders eindrucksvoll ist die kollektive Reaktion: selbst die Pferde geraten in Panik, Soldaten sinken auf die Knie (Vgl. Z. 78–80). Die suggestive Kraft des Unheimlichen wird hier nicht durch äußere Gestalt, sondern allein durch Klang erzeugt.
- Ein englischer Offizier liefert dafür die naturwissenschaftliche Erklärung einer elektrischen Luftströmung (Z. 82-83), aber die spanischen Soldaten glauben an „Geisterstimmen“ (Z. 84). Damit steht Moritz’ Bericht exemplarisch für den romantischen Zwiespalt zwischen Rationalismus und metaphysischer Deutung.
- Das Gespräch kulminiert in der Frage, ob man das Grauen nicht auch in banalen Alltagsgeräuschen finden könne. Dagobert ironisiert dies, indem er auf das „gespenstische Liedlein“ (Z. 92) der „Teemaschine“ (Z. 92) verweist, was die Situation auflöst und das zuvor aufgebaute Grauen relativiert.
- Gerade diese Mischung aus Ernst und Ironie, Unheimlichem und Alltäglichem, ist ein stilistisches und inhaltliches Kennzeichen der romantischen Erzählweise.
- Dagobert tritt als engagierter Theoretiker des Unheimlichen auf. Seine Beiträge sind ausführlich, rhetorisch ausgeschmückt und von tiefer Überzeugung getragen.
- Er verweist auf die Verbindung des Unheimlichen mit Träumen und Visionen (Vgl. Z. 39–41), auf das „Frösteln“ (Z. 16) als physisches Symptom (Z. 17–21) und auf die Existenz einer parallelen Geisterwelt.
- Seine bildreiche Sprache – etwa „in seltsamen Klängen, ja in wunderbaren Visionen“ (Z. 40) – macht ihn zum Wortführer des romantischen Denkens.
- Moritz tritt zunächst zurückhaltend auf, bringt dann jedoch einen eindrucksvollen Erfahrungsbericht ein. Sein Beitrag ergänzt Dagoberts Theorie um eine reale, sinnlich erfahrbare Komponente.
- Er schildert mit einfachen, aber eindringlichen Worten, wie er nachts eine gespenstische Stimme hörte, die sowohl ihn als auch seine Mitkämpfer in Panik versetzte (Vgl. Z. 65 ff.). Seine Schilderung wirkt glaubwürdig, da sie auf Emotion statt Theorie setzt.
- Die Obristin zeigt sich als rational und skeptisch. Sie reagiert auf Dagoberts Ausführungen mit kritischen Bemerkungen: „ein Geisterseher wie alle Menschen von reger Phantasie“ (Z. 43).
- Ihre Funktion besteht darin, eine Gegenposition zu verkörpern und so die Vielstimmigkeit des Diskurses zu ermöglichen. Am Schluss reagiert sie deutlich ironisch auf Dagoberts Vergleich mit der Teemaschine (Vgl. Z. 93).
- Angelika beteiligt sich mit wenigen, aber prägnanten Bemerkungen. Sie beschreibt das Unheimliche als „angenehm“ (Z. 15) und verteidigt Dagobert gegen die skeptische Mutter.
- Ihre Rolle verkörpert die romantische Empfänglichkeit für das Irrationale, das Schöne im Schrecklichen.
- Atmosphärische Dichte durch Naturbeschreibung: Der Text setzt zu Beginn stark auf personifizierte Wetterbilder, um eine bedrohliche Grundstimmung aufzubauen (Vgl. Z. 1–2). Der Sturm wird als aktiv handelnde Figur geschildert („brauste“, Z. 1; „trieb die schwarzen Wolken“, Z. 1-2), die Außenwelt wirkt feindlich. Auch später bleibt das Wetter Träger des Unheimlichen („dumpfe Geheul“, Z. 88; „Ächzen und Krächzen der Windfahnen“, Z. 89).
- Atmosphärische Dichte durch Naturbeschreibung: Hoffmann nutzt auditive Reize („pfiffen“, „heulten“, Z. 12), um das Unsichtbare sinnlich erfahrbar zu machen. Besonders wirksam ist die Beschreibung der „hundert abscheulichen Stimmen“ (Z. 91), die das Innenleben der Figuren erschüttern. Diese sensorische Überreizung entspricht der romantischen Vorstellung vom empfindsamen, innerlich bewegten Menschen.
- Rhetorik und Sprachstruktur:Dagoberts Rede ist geprägt von rhetorischen Fragen (Z. 87–89), Wiederholungen und Ausrufen („O herrlich!“, Z. 93).
- Diese Mittel dienen der Emotionalisierung und betonen die Unmittelbarkeit seiner Empfindungen. Auch Angelikas Formulierung des „angenehm[en]" (Z. 15) Fröstelns zeigt, wie das Unheimliche als lustvolle Empfindung stilisiert wird.
- Ironisierung und Diminutivgebrauch: Am Schluss wird das Gesagte durch die Verharmlosung „das Liedchen“ (Z. 97) gebrochen. Diese ironische Brechung des zuvor aufgebauten Schreckens ist eine typische romantische Strategie, um Ambivalenz zu erzeugen.
- Naturmystik und Sensibilisierung: Natur wird als beseeltes, unberechenbares Gegenüber dargestellt (Vgl. Z. 1–2).
- Unbewusstes und Traum: Die Verbindung des Unheimlichen mit Träumen, inneren Bildern und dem Unterbewusstsein ist zentral (Vgl. Z. 37–41).
- Zwielicht, Nacht, Grenze zwischen Realem und Irrealem: Die Handlung spielt am Abend, Moritz’ Erfahrung bei Nacht. Dunkelheit als Auslöser des Grauen (Vgl. Z. 65–80).
- Schauerromantik: Der Lust-Schrecken, die Unklarheit über Realität oder Wahn entsprechen der Ästhetik der schwarzen Romantik.
- Sehnsucht nach vergangener Harmonie: Dagoberts Idealbild einer goldenen Vergangenheit („in jener goldenen Zeit“, Z. 48 f.) verweist auf ein romantisches Naturideal.
Fazit
- In E. T. A. Hoffmanns Der unheimliche Gast verbindet sich eine gesellige Kaminrunde mit tiefgreifenden Reflexionen über das Unheimliche.
- Der Text entfaltet dabei ein vielschichtiges Bild romantischer Weltwahrnehmung: Das Grauen liegt nicht nur in äußeren Erscheinungen, sondern entspringt dem Innersten der Seele.
- Durch das Zusammenspiel von Naturstimmung, subjektiver Wahrnehmung und übernatürlicher Projektion entsteht eine dichte Atmosphäre, die typisch für die Schauerromantik ist. Die romantische Grundhaltung – eine Mischung aus Sehnsucht, Angst, Skepsis und kindlicher Faszination – durchzieht die Erzählung bis in die ironische Auflösung am Ende.
Teilaufgabe 2
Überleitung
- Das Unheimliche ist ein zentrales Motiv sowohl im vorliegenden Materialtext als auch in E. T. A. Hoffmanns Erzählung Der Sandmann.
- Beide Texte thematisieren die menschliche Reaktion auf übernatürliche oder unerklärliche Phänomene – jedoch auf unterschiedliche Weise. Im Folgenden werden zentrale Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Umgang mit dem Unheimlichen herausgearbeitet.
Hauptteil
- Ein wesentlicher Vergleichspunkt liegt in der funktionalen Bedeutung des Unheimlichen . Im Materialtext dient es der Unterhaltung, indem es eine ambivalente Atmosphäre schafft und zum Gesprächsanlass wird. Dagegen erscheint das Unheimliche in Hoffmanns Erzählung als zentrales Thema, das tief in das Seelenleben Nathanaels eingreift. Für ihn stellt es eine reale Bedrohung dar, die ihn schließlich in den Wahnsinn treibt.
- Auch die Sinneswahrnehmung spielt in beiden Texten eine Rolle, wenn auch unterschiedlich gewichtet. Während in Der unheimliche Gast vor allem akustische Eindrücke wie Geräusche oder Stimmen für das unheimliche Empfinden verantwortlich sind, betont Hoffmann das Visuelle – insbesondere über das Augenmotiv, das sich durch die gesamte Erzählung zieht (vgl. etwa die bedrohliche Figur des Coppelius bzw. Coppola).
- Zudem lässt sich ein ideengeschichtlicher Gegensatz zwischen Romantik und Aufklärung feststellen, der in beiden Texten durch verschiedene Figurenpaare verkörpert wird. In Der Sandmann stehen Nathanael und Clara exemplarisch für diese Konfrontation: Nathanael glaubt an das Übersinnliche, Clara hingegen appelliert an den Verstand. Im Materialtext wird ein ähnliches Spannungsfeld aufgebaut, wenn Figuren wie Dagobert das Übersinnliche bejahen, während andere – etwa die Obristin – es ablehnen oder rational erklären wollen.
- Ein zentrales Mittel des Umgangs mit dem Unheimlichen ist die Rationalisierung und Psychologisierung. Die Obristin in Der unheimliche Gast stellt beispielsweise Geistererscheinungen als Folge übersteigerter Einbildungskraft dar. Diese Entzauberung erinnert an Claras Erklärung in ihrem Brief an Nathanael, wo sie das Geschehen auf eine durch Projektion erzeugte Selbsttäuschung zurückführt. Beide Texte setzen sich kritisch mit irrationalen Ängsten auseinander, ohne diese vollständig zu negieren.
- Die Kindheit als Ursprung unheimlicher Erfahrung ist ebenfalls ein verbindendes Element. In Der unheimliche Gast wird angedeutet, dass frühe Erzählungen von Ammen und Wärterinnen Spuren hinterlassen und die spätere Wahrnehmung prägen. In Der Sandmann spielen solche frühkindlichen Erfahrungen – insbesondere die Geschichten der Amme über den Sandmann – eine entscheidende Rolle für Nathanaels spätere psychische Verfassung.
- Ein weiterer interessanter Vergleichspunkt ist die Art der Reaktion auf das Unheimliche: In Der unheimliche Gast wird das Unheimliche auch ironisiert oder verspottet, etwa wenn Dagobert Geistererscheinungen lächerlich macht. Ähnlich äußert sich in Der Sandmann der Erzähler über Clara, indem er ihre Haltung mit einem „feinen ironischen Lächeln“ kommentiert. Auch der Spott anderer Figuren über Nathanaels Ängste beim Frühstück („Aber lieber Nathaniel…“) zeigt, dass das Unheimliche nicht von allen gleichermaßen ernst genommen wird.
- Schließlich erlaubt auch der metatextuelle Bezug zur literarischen Gattung eine Verbindung: Beide Texte thematisieren das Unheimliche bewusst im Rahmen eines literarischen oder reflektierenden Diskurses. Der Materialtext tut dies über die thematische Rahmung eines Gesprächs über Geisterglauben, Hoffmann reflektiert das Unheimliche hingegen literarisch durch komplexe Erzähltechniken, Perspektivwechsel und uneindeutige Figurenzeichnungen.
Schluss
- Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der beide Werke das Unheimliche aus unterschiedlichen Perspektiven behandeln, dabei jedoch ähnliche Motive aufgreifen: Sinnestäuschung, kindliche Prägung, Widerstreit zwischen Fantasie und Vernunft sowie die gesellschaftliche Einordnung des Unerklärlichen.
- Während das Unheimliche im Materialtext distanziert und teilweise ironisch behandelt wird, entwickelt es sich in Der Sandmann zur alles beherrschenden Kraft, die letztlich zur Zerstörung des Protagonisten führt. Die Gegenüberstellung macht deutlich, wie vielfältig das Unheimliche literarisch inszeniert werden kann – als Spiegel kultureller Diskurse, individueller Ängste und ideengeschichtlicher Konflikte.