Lerninhalte in Deutsch

HT 1

Analyse eines literarischen Textes mit weiterführendem Schreibauftrag

Thema:
Oliver Georgi (* 1977): Schluss mit den Phrasen! (2019; Auszug)
Aufgabenstellung:

  • Analysiere den Artikel Schluss mit den Phrasen! von Oliver Georgi. Berücksichtige dabei die sprachlich-stilistische Gestaltung, die Leserlenkung und die Intention des Textes.
    (42 Punkte)
  • Der Sprachwissenschaftler Ekkehard Felder führt mit Bezug auf den politischen Sprachgebrauch aus:
    „Wiederkehrende Aufgaben können nicht immer in neue Worte gekleidet werden. Zum einen eröffnet uns das Sprachsystem nur einen gewissen Variationsspielraum, den die adressierten Zielgruppen stilistisch (noch) als angemessen empfinden. Zum anderen sind solche Variationen für den Sprecher beim Ausüben seiner Funktion aufwendig und für die Zuhörerschaft nicht so leicht erkennbar wie die Verwendung etablierter Sprachgebrauchsformen. […] Ein bestimmter Sprachgebrauch steht schließlich für die Kontinuität der vertretenen Politikinhalte und die Zuverlässigkeit der Politiker. Neue Formulierungen müssen sich im sprachlichen Wettkampf durchsetzen.“
    Erläutere das Zitat und setze es zu den Ausführungen von Oliver Georgi in Beziehung. Nimm vor diesem Hintergrund abwägend Stellung zu der Frage, inwiefern Phrasen die politisch-gesellschaftliche Kommunikation fördern oder beeinträchtigen.

(30 Punkte)
Material
Oliver Georgi

Schluss mit den Phrasen! (2019; Auszug)

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Wenn Politiker reden, sind Phrasen nicht weit. Sie versprechen nach einer unangenehmen
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Affäre „schonungslose Aufklärung“, wollen das Desaster nach einer Wahlniederlage „scho-
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nungslos aufarbeiten“. Sie wollen „die Zukunft gestalten“ und gehen nach langem Hin und
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Her schließlich doch ein „belastbares Bündnis“ mit der Konkurrenzpartei ein, um „substan-
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zielle Ergebnisse“ für die „kleinen Leute“ zu erreichen. Sie wollen sich nach Niederlagen
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„ehrlich machen“ und die „Leitplanken ihres Handelns neu ausrichten“, weil es „an der Tat-
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sache nichts zu beschönigen“ gibt – „das muss man einmal in aller Deutlichkeit sagen“ – dass
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„die Dinge schnellstens versachlicht werden müssen“, „um Schaden vom Land abzuwenden“.
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Politiker aller Parteien lieben solche Floskeln und Stanzen, mit denen sie viel reden können,
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aber wenig sagen müssen. […]
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Auch die „schonungslose Aufklärung“ ist ein Beispiel dafür, eine Lieblingsfloskel von Politi-
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kern nach Wahlniederlagen und offenkundigen Verfehlungen. „Schonungslos“, das klingt
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nach erbarmungsloser Härte gegenüber eigenen Versäumnissen und denen des politischen
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Gegners, nach einem moralischen Impetus, dem man im Zweifel selbst die eigene Kar-
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riere unterordnen würde. In der Realität aber haben viele Wähler längst begriffen, dass auf
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die Ankündigung der „schonungslosen Aufklärung“ oder der „schonungslosen Aufarbeitung“
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oft nicht mehr viel folgt. Trotzdem bemühen Politiker jeder Couleur die Phrase weiter so
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inflationär, dass ihre Sinnentleerung längst offensichtlich ist.
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Für die Glaubwürdigkeit von Politikern sind derlei Phrasen verheerend. Warum nutzen sie
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sie weiterhin, obwohl den meisten Wählern die Inhaltslosigkeit dieser Sprache längst klar ist?
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Die einfachste Antwort auf diese Frage: Weil Phrasen bequem sind und man muss sich ihnen
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nicht genau festlegt. Wer an einem Wahlabend vor den Kameras schnell eine erste Stellung-
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nahme abgeben muss, eigentlich aber noch nicht viel erklären kann oder will, der greift eben
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in seinen Phrasenbaukasten und sagt, jetzt sei „Stabilität“ die oberste Prämisse und man müsse
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gemeinsam „an der Zukunft des Landes arbeiten“. Das ist inhaltlich so löchrig wie ein Schwei-
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zer Käse, klingt aber staatstragend, und man tritt niemandem auf den Schlips.
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Natürlich nutzen Politiker Phrasen aber auch, um den eigentlichen Sinn ihrer Worte zu über-
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tünchen und die Wähler bewusst im Ungefähren zu lassen – wie bei der „schonungslosen
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Aufklärung“. Selbst wenn man mitnichten schonungslose Aufklärung einer Affäre im Sinn
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hat, klingt die Phrase hehr, und der Politiker muss sich dann – zumindest rhetorisch – nichts
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vorwerfen lassen. Hinzu kommt ein weiterer, viel banalerer Grund: Viele Berufspolitiker
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haben über lange Jahre den Sprachgestus und die technokratischen Floskeln ihrer Vorgänger
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übernommen, ohne groß darüber nachzudenken. Wer als Jugendlicher in der Nachwuchsorga-
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nisation einer Partei beginnt und sich dann in der Politik hochdient, der wird irgendwann mit
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einiger Wahrscheinlichkeit ebenfalls von „paritätischer Finanzierung“ oder der „doppelten
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Haltelinie“ sprechen – so wie alle anderen um ihn herum.
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Das Problem ist, dass viele Politiker sich der Entleerung ihrer Sprache nicht (mehr) bewusst
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sind – und auch nicht der Folgen, die sie für unsere Demokratie hat. Denn die Neigung zu
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hohlen Floskeln, die in den vergangenen Jahren auch durch den immer größeren Hang zum
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streitlosen Konsens in den großen Koalitionen deutlich wurde, ist fatal, weil sie die Entfrem-
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dung zwischen Politik und Bürgern verstärkt. Wenn Wähler sich ganz konkret um ihre stei-
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gende Miete sorgen oder um ihr Auskommen im Alter, die Politik aber lediglich nebulös da-
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von spricht, jetzt müsse man „die Zukunft gestalten“ und ein „Signal des Aufbruchs“ senden,
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dann wird diese Entfremdung auch sprachlich manifest. […]
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Es wird also höchste Zeit, dass die Politiker den Phrasen abschwören und authentischer, prä-
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ziser und auch wieder kontroverser formulieren. Trotzdem wäre es zu einfach, den Volks-
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vertretern allein die Schuld für ihre sprachliche Mutlosigkeit zu geben. Denn es liegt auch
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an den Wählern und Journalisten, dass die Phrasenhaftigkeit der politischen Sprache in den
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letzten Jahren zugenommen hat. Was die Wähler betrifft, hat das mit einer äußerst ambiva-
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lenten Haltung gegenüber Politikern zu tun: Alle wünschen sich „authentische Volksvertre-
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ter“, die „klare Kante“ zeigen und sich ein Stück weit vom politischen Einheitsbrei des als
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„langweilig“ empfundenen Sachpolitikers abheben. Wenn diese Politiker dann aber tatsäch-
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lich einmal kontroverser formulieren als gewohnt, polemisieren oder mit der Selbstironie
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über das Ziel hinausschießen […], dann bricht ein Sturm der Entrüstung los angesichts der
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Individualität, die der Politiker sich da herausnimmt. […]
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Wir wollen klare Worte und lieben die große Show, aber bitte nur solange es nicht zu kontro-
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vers wird. Damit nähren wir bei vielen Politikern die Überzeugung, im Zweifel sei es eher
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gefährlich, zu viel Authentizität und „klare Kante“ zu zeigen. Also ziehen sie sich lieber auf
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ihre ungefährlichen Plastik-Phrasen zurück.
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Der andere Grund, warum Phrasen immer beliebter sind, ist die zeitgenössische „Empörungs-
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demokratie“, wie sie der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen nennt. Die Beschleuni-
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gung des Nachrichtentakts durch Online-Medien und soziale Netzwerke hat dazu geführt,
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dass Politiker mittlerweile fast in Echtzeit Stellungnahmen abgeben müssen. Zwischen einem
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Ereignis und den ersten Reaktionen vergehen mitunter kaum noch fünf Minuten – viel Zeit
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zum Nachdenken bleibt da nicht. Gleichzeitig können einzelne, oft aus dem Kontext geris-
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sene und schnell hingeschriebene Sätze auf Twitter binnen kurzer Zeit einen Shitstorm aus
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lösen, der einen Politiker über Monate beschäftigen – und im schlimmsten Fall sogar seine
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Karriere ruinieren – kann. […]
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Es würde also zu kurz greifen, allein die Politiker für ihre Phrasen-Vorliebe verantwortlich
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zu machen – auch Wähler und Journalisten tragen eine Mitschuld daran. Die einen, weil sie
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ein Verhalten erwarten, das sie dann abstrafen, die anderen, weil sie die Phrasen der Politiker
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in vielen Fällen weiterverbreiten, ohne sie ausreichend zu hinterfragen.
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Was also ist zu tun, um das Dilemma aufzulösen? Die politische Auseinandersetzung muss
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wieder angriffslustiger und härter, aber zugleich differenzierter sein, ohne deshalb rücksichts
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los zu werden. Politiker müssen wieder mehr Mut haben, offen zu streiten, Missstände klar
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zu benennen und Widerspruch auszuhalten, anstatt Ratlosigkeit und Dissens mit einer Plastik
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sprache zu übertünchen. Sie müssen sich wieder trauen, auch dann authentisch zu sein und
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so zu formulieren, wenn sie sich damit angreifbar machen. Sie müssen eine authentischere
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und präzisere Sprache sprechen, die der Versuchung widersteht, diese Klarheit mit dem ver-
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meintlichen „Klartext“ der (Rechts-)Populisten zu verwechseln.
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Und die Wähler und Journalisten? Sie sollten sich der Tatsache bewusst werden, wie ambi-
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valent ihre Ansprüche an Politiker oft sind, wenn sie Authentizität fordern. Sie sollten hart
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näckig nachfragen, wenn die Plastiksprache wieder überhandnimmt, und den offenen, an der
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Sache orientierten Streit wieder schätzen lernen. Und auf Twitter nicht aus jeder Mücke einen
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Elefanten machen


Anmerkung zum Autor:
Kasimir Edschmid (eigentlich Eduard Schmid, * 1890 - † 1966) war ein deutscher Schriftsteller. Der Textauszug entstammt der Einleitung einer von Edschmid verantworteten Büchner-Werkausgabe.
Aus: Kasimir Edschmid: Woyzeck. Shakespeare enfant. In: Georg Büchner: Gesammelte Werke. Hrsg. und eingeleitet von Kasimir Edschmid. München u. a.: Desch 1947, S. 24 - 31 Zitiert nach: Dietmar Goltschnigg (Hrsg.): Georg Büchner und die Moderne. Texte, Analysen, Kommentar. Band 2. 1945 - 1980. Berlin: Erich Schmidt Verlag 2002, S. 139 - 144 (Rechtschreibung und Zeichensetzung entsprechen der Textquelle.)

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