HT 3
Vergleichende Gedichtanalyse
Thema: Eduard Mörike (* 1804 - † 1875): Früh im Wagen (1846) Karl Krolow (* 1915 – † 1999): Gedicht für J. S. (1965) Aufgabenstellung:- Interpretiere Eduard Mörikes Gedicht Früh im Wagen.
(43 Punkte)
- Vergleiche Mörikes Gedicht mit Karl Krolows Gedicht für J. S. im Hinblick auf die Gestaltung der Abschiedssituation. Gehe dabei auf inhaltliche sowie sprachliche und formale Aspekte ein.
(29 Punkte)
Material 1
Früh im Wagen (1846)
Eduard Mörike
1
Es graut vom Morgenreif
2
In Dämmerung das Feld,
3
Da schon ein blasser Streif
4
Den fernen Ost erhellt;
5
Man sieht im Lichte bald
6
Den Morgenstern vergehn,
7
Und doch am Fichtenwald
8
Den vollen Mond noch stehn:
9
So ist mein scheuer Blick,
10
Den schon die Ferne drängt,
11
Noch in das Schmerzensglück
12
Der Abschiedsnacht versenkt.
13
Dein blaues Auge steht
14
Ein dunkler See vor mir,
15
Dein Kuß, dein Hauch umweht,
16
Dein Flüstern mich noch hier.
17
An deinem Hals begräbt
18
Sich weinend mein Gesicht,
19
Und Purpurschwärze webt
20
Mir vor dem Auge dicht.
21
Die Sonne kommt; – sie scheucht
22
Den Traum hinweg im Nu,
23
Und von den Bergen streicht
24
Ein Schauer auf mich zu.
Aus: Eduard Mörike: Früh im Wagen. In: Ders.: Gedichte in einem Band. Hrsg. von Bernhard Zeller. 3. Aufl. Frankfurt a. M. und Leipzig: Insel Verlag 2015, S. 122 f. (Rechtschreibung und Zeichensetzung entsprechen der jeweiligen Textquelle.) Material 2 Gedicht für J. S. (1965) Karl Krolow
1
Auf dem Dezember-Bahnsteig in der ersten Stunde nach Mitternacht
2
Dein Bild in die Kälte geschnitten,
3
Mit hellem Mantel, den Schal übers Haar getan,
4
Und einem im Abschied leuchtenden Gesicht!
5
Ich erfinde dich noch einmal im Augenblick der Trennung,
6
Dunkel vor Zärtlichkeit und dem Verlangen nach Glück,
7
Mit einer von Zuneigung leisen Stimme
8
In der winterlichen Frostluft.
9
Ich erfinde dich noch einmal: geschaffen nun
10
Um mit mir zu gehen, einem anderen:
11
Mann im hochgeschlagenen Mantelkragen,
12
Der das Fenster im Fernzug-Abteil herunterläßt und winkt
13
Du bleibst zurück, auf Fluten grauen Windes treibend,
14
Zurück mit Umarmung und Kuß und dem Geruch deiner Haut.
15
Das schwarze und weiße Schachbrett der Schneenacht
16
Liegt über deinem Gesicht; und ich weiß,
17
Daß nichts an dir für mich bestimmt ist.
Aus: Karl Krolow: Gedicht für J. S. In: Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Der Kanon. Die deutsche Literatur. Band 6: Gedichte. Frankfurt a. M. und Leipzig: Insel Verlag 2005, S. 206 (Rechtschreibung und Zeichensetzung entsprechen der jeweiligen Textquelle.)
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Einleitung
- Eduard Mörikes Gedicht Früh im Wagen ist ein lyrisches Werk aus dem Jahr 1846, das tief in den romantischen Traditionen verankert ist. Es spiegelt die Stimmung der Übergänge, des Ungewissen und des Schmerzes wider, während der Sprecher sich in einer Art „Abschied“ von der Nacht und einer bevorstehenden Reise befindet.
- Das lyrische Ich ist auf einer nächtlichen Fahrt, die von einer intensiven Seelenbewegung geprägt ist. Die Natur- und Stimmungsbilder des Gedichts sind eindrucksvoll und symbolisieren den emotionalen Zustand des Ichs.
- Das Gedicht arbeitet mit den Motiven des Morgens, des Abschieds und der Unruhe, die die innere Zerrissenheit des Ichs wiederspiegeln.
Hauptteil
Inhaltliche Analyse- Im ersten Vers wird die Morgenröte beschrieben, „Es graut vom Morgenreif“ (V. 1), was den Übergang von der Dunkelheit der Nacht zum ersten Licht des Tages symbolisiert. „Morgenreif“ (V.1) deutet auf den anbrechenden Tag hin, auf eine Zeit des Umbruchs. In den folgenden Versen wird die Stimmung der Dämmerung weiter ausgeführt: „Da schon ein blasser Streif / Den fernen Ost erhüllt.“ (V. 3 f.) Diese Verse veranschaulichen den Beginn des Morgens als einen blassen, schwachen Anfang, der in den Osten zieht, was metaphorisch für den Horizont der Zukunft steht.
- Der Übergang von der Nacht zum Morgen wird in den weiteren Versen fortgesetzt. Der „Morgenstern“ (V. 6) verschwindet, was als Symbol für das Ende der Nacht und den Beginn des Tages verstanden werden kann. Doch am „Fichtenwald“ (V. 7) bleibt der „volle Mond“ noch stehen, was die Verbindung zur Nacht und zur vollen Intensität der Gefühle des Sprechers verdeutlicht. Der „volle Mond“ (V. 8) könnte hier das Gefühl der unerfüllten Sehnsucht oder der Verwirrung darstellen, das der Sprecher noch mit sich trägt, auch wenn der Tag anbricht.
- Im weiteren Verlauf des Gedichts wird die innere Zerrissenheit des lyrischen Ichs deutlich. Der Vers „So ist mein scheuer Blick“ (V. 9) verweist auf eine Zurückhaltung oder Unsicherheit, die der Sprecher empfindet. Der Blick richtet sich auf die „Ferne“ (V. 10), die für den bevorstehenden Abschied oder die Distanz zu einem anderen Menschen steht. Diese „Ferne“ wird als ein „Schmerzensglück“ (V. 11) beschrieben, was einen bittersüßen Moment der Trennung und des Loslassens ausdrückt. Der „Abschiedsnacht“ (V. 12) symbolisiert dabei das Ende eines Abschnitts oder die Nähe einer entscheidenden Veränderung.
- In der nächsten Strophe wird der Zustand des lyrischen Ichs noch weiter entfaltet. Die Worte „Dein blaues Auge steht“ (V. 13) wecken ein starkes Bild der Zuneigung, des Blicks eines geliebten Menschen, der gleichzeitig von der Ferne und dem Verlust geprägt ist. Die Metaphern „dunkler See“ (V. 14), „Kuß“ (V. 15) und „Flüstern“ (Z. 16) stellen eine sinnliche Nähe dar, die aber auch mit einer tiefen Trauer oder einem Abschiedswunsch verbunden ist.
- In der nächsten Strophe wird der Übergang von der Dunkelheit zum Licht weiter beschrieben (Vgl. V. 17–20). Die Verse „An deinem Hals begräbt / Sich weinend mein Gesicht“ (V. 17–18) deuten auf eine leidenschaftliche, aber schmerzhafte Nähe hin. Die „Purpurschwärze“ (V. 19) verweist möglicherweise auf den emotionalen Schmerz, der sich körperlich äußert, da der Sprecher die Nähe eines anderen Menschen in seiner Trauer spürt. Das „Vor dem Auge dicht“ (V. 20) könnte die innere Unruhe oder die fast körperliche Nähe dieser Gefühle symbolisieren, die dem Ich sehr nah sind.
- Schließlich beschreibt der letzte Abschnitt (V. 21–24) den endgültigen Übergang von der Nacht zum Tag. „Die Sonne kommt; – sie scheucht / Den Traum hinweg im Nu“ (V. 21–22) zeigt den endgültigen Bruch mit der Nacht und der Traumwelt. Die „Sonne“ ist der Tag, das reale Leben, das die Illusionen und Träume vertreibt. Der letzte Vers (V. 24), „Ein Schauer auf mich zu“, bringt die Unruhe des lyrischen Ichs zum Ausdruck. Die Sonne bringt das Licht, aber auch die Angst oder die Ungewissheit des neuen Tages.
- Das Gedicht ist in 24 Verse gegliedert, die in vier Strophen unterteilt sind, wobei jede Strophe einen eigenen emotionalen Moment in der Reise des lyrischen Ichs widerspiegelt.
- Mörike verwendet eine regelmäßige Struktur mit alternierenden Endreimen und unregelmäßigen Silbenlängen, was die Übergänge und die innere Zerrissenheit des Ichs verstärkt. Der Einsatz des daktylischen Versmaßes (in vielen Versen) verstärkt die Bewegung und das stetige Voranschreiten des Gedichts, das die Reise in den Morgen und die damit verbundenen Gefühlsbewegungen wiedergibt.
- Die Wiederholung von „Morgen“ und „Mond“ in den ersten Strophen (V. 1, 6, 7) unterstreicht den zyklischen Übergang von Nacht zu Tag und symbolisiert die unaufhaltsame Bewegung des Lebens und der Zeit. Auch die Wortwahl, wie „blaues Auge“ (V. 13) und „Purpurschwärze“ (V. 19), erzeugt eine starke bildliche und emotionale Wirkung, die das innere Erleben des lyrischen Ichs widerspiegelt.
- Der „dunkle See“ (V. 14) und die „Ferne“ (V. 10) sind typische Symbole, die in der Romantik verwendet werden, um Entfremdung und den inneren Konflikt zu verdeutlichen.
- Der Gebrauch von Metaphern, wie etwa die „Purpurschwärze“ (V. 19) oder die „Sonne“ als Symbol des Erwachens, trägt zur atmosphärischen Dichte des Gedichts bei. Diese Bilder helfen dabei, die Gemütslage des Sprechers plastisch darzustellen und eine starke emotionale Wirkung zu erzielen.
- Eduard Mörikes Gedicht Früh im Wagen thematisiert den Übergang von der Nacht zum Morgen als Metapher für die innere Zerrissenheit und den Schmerz des lyrischen Ichs. Der Morgen, der in den Versen als schüchtern und blass beschrieben wird, steht dabei als Symbol für den bevorstehenden Abschied und das Ende einer nächtlichen Illusion.
- Die Naturbilder, wie der „Morgenstern“, der „volle Mond“ und die „Sonne“, spiegeln den inneren Konflikt des Sprechers wider. Das Gedicht vermittelt eine tiefsinnige Mischung aus Schönheit, Schmerz und Sehnsucht, wobei der Übergang von der Dunkelheit zum Licht als Ausdruck der Veränderung und des Loslassens gedeutet werden kann.
- Es ist ein Gedicht über den inneren Konflikt zwischen der Sehnsucht nach Nähe und der Notwendigkeit des Abschieds.
Teilaufgabe 2
Überleitung
- Die Gedichte Früh im Wagen von Eduard Mörike und Gedicht für J. S. von Karl Krolow beschäftigen sich beide mit dem Thema Abschied, jedoch auf unterschiedliche Weise. Mörike nutzt dabei eine bildreiche, naturhafte Sprache, um den Abschied emotional und atmosphärisch darzustellen, während Krolow in seinem Gedicht eine reduzierte, fast abstrahierte Sprache verwendet, um den inneren Prozess des Abschiednehmens zu vermitteln.
- Der folgende Vergleich wird sowohl inhaltliche als auch sprachlich-formale Aspekte beider Gedichte untersuchen, um herauszuarbeiten, wie das Thema Abschied in den jeweiligen Gedichten gestaltet wird.
Hauptteil
Inhaltliche Analyse- In Früh im Wagen beschreibt Mörike die Abschiedssituation als einen emotional aufgeladenen Moment, der durch die Naturbilder des Morgens und der Nacht vermittelt wird. Der Sprecher ist auf einer nächtlichen Reise und erlebt eine Mischung aus Sehnsucht und Schmerz. Die Natur fungiert als Spiegelbild seiner Gefühle. Der „Morgenstern“ (Z. 6) und der „volle Mond“ (Z. 8) stehen symbolisch für den Übergang von der Nacht zum Tag, was die unaufhaltsame Veränderung und den Abschied als unumgänglichen Teil des Lebens darstellt.
- Der „blasse Streif“ (Z. 3), der den „fernen Ost“ (Z. 4) erhellt, verweist auf das Aufbrechen des neuen Tages, das zugleich den Verlust einer vergangenen Nacht und den damit verbundenen Moment der Nähe symbolisiert. Die Trennung wird als bittersüßes „Schmerzglück“ (Z. 11) erlebt, wobei der Abschied von der geliebten Person als innere Zerrissenheit wahrgenommen wird. Das lyrische Ich ist sich der Trennung bewusst, jedoch wird es von einer starken Sehnsucht nach Nähe getrieben, die in den sinnlichen Bildern des „blauen Auges“ (Z. 13) und des „dunklen Sees“ (Z. 14) zum Ausdruck kommt.
- Im Gegensatz dazu arbeitet Krolow in Gedicht für J. S. die Abschiedssituation eher psychologisch und reflektiert aus. Die Trennung wird nicht mehr durch ausgedehnte Naturbilder oder äußere Umstände dargestellt, sondern über innerliche Wahrnehmung und Verdichtung. Der Abschied wird in einer minimalistischen Sprache ausgedrückt, die eine intensive, aber komprimierte Wahrnehmung des Verlusts ermöglicht. Krolow verzichtet auf ausgiebige Beschreibungen, sondern konzentriert sich auf die Gefühle und die Distanz, die zwischen den zwei Personen entstehen. Diese Art der Darstellung legt den Fokus auf die mentale Erfahrung des Abschieds, bei der die Nähe zur Person zunehmend in den Hintergrund tritt und die Distanz zwischen den beiden Figuren klarer wird. In diesem Gedicht wird Abschied als innerer Prozess wahrgenommen, in dem die Emotionen im Hintergrund der knappen, präzisen Sprache agieren.
- Trotz der Unterschiede in der Ausdrucksweise haben beide Gedichte ein ähnliches emotionales Zentrum: den schmerzhaften Verlust. Während Mörike diesen Verlust durch das Bild des vergehenden Morgens und der sich entfernenden Nacht darstellt, nutzt Krolow die Abstraktion der Sprache, um den emotionalen Schmerz im Abschied zu erfassen.
- In Früh im Wagen verwendet Mörike eine regelmäßige Struktur mit einem klaren Metrum und Reimschema, das dem Gedicht einen fließenden, fast musikalischen Charakter verleiht. Die Verse sind oft im daktylischen Metrum gehalten, was eine kontinuierliche Bewegung symbolisiert – passend zu der Reise, die der Sprecher antritt. Diese Form unterstützt das romantische Ideal der Natur als Spiegel der Seele und gibt dem Gedicht eine gewisse Harmonie und Melancholie, die den inneren Konflikt des Sprechers widerspiegelt.
- Der Reim und die Bildsprache, wie etwa „blaues Auge“ (Z. 13) oder „Purpurschwärze“ (Z. 19), erzeugen eine dichte Atmosphäre und verstärken das emotionale Erleben des lyrischen Ichs. Mörike nutzt in seinem Gedicht eine Vielzahl an Metaphern und Symbolen, die das Bild der Trennung emotional und visuell aufladen, etwa die Sinneswahrnehmungen, die mit der Nähe zur geliebten Person verbunden sind.
- Krolow hingegen arbeitet mit einer freieren Form und einem reduzierten Reimschema, das den modernen Charakter des Gedichts unterstreicht. Der freie Versbau und die oft elliptischen Sätze erzeugen eine gewisse Kühle und Distanz, die der psychologischen Unmittelbarkeit des Gedichts entsprechen. Die Sprache ist prägnant und minimiert, was den Eindruck einer stark gefilterten Wahrnehmung des Abschieds verstärkt.
- Während Mörike die ästhetische Erfahrung in den Vordergrund stellt, wendet sich Krolow einer abstrakteren, inneren Wahrnehmung zu. Krolow verzichtet auf ausgedehnte Metaphorik und setzt stattdessen auf eine klare, aber subtile Darstellung der inneren Welt des lyrischen Ichs.
Schluss
- Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sowohl Mörike als auch Krolow die Abschiedssituation als zentrales Thema behandeln, jedoch unterschiedliche stilistische Mittel und Ausdrucksformen verwenden. Mörike gestaltet den Abschied mit naturhaften Symbolen und einer romantischen Bildsprache, die den emotionalen Konflikt des Sprechers in einer harmonischen Form verpackt.
- Krolow hingegen wählt eine reduzierte, prägnante Sprache, die den inneren Prozess der Trennung und den psychologischen Abstand zwischen den Figuren fokussiert. Während Mörike das sinnliche Erleben der Trennung in den Vordergrund stellt, konzentriert sich Krolow auf die mentale Auseinandersetzung mit dem Verlust. Beide Gedichte zeigen die Ambivalenz von Nähe und Distanz in der Abschiedssituation, jedoch auf sehr unterschiedliche Weise – Mörike über das Bild der Natur, Krolow durch die psychologische Reduktion der Sprache.