Lerninhalte in Deutsch
Inhaltsverzeichnis

Thema 1

Thema 1: Erörterung pragmatischer Texte

Thema:
Andreas Frey (* 1982): Was gute Sprache mit guten Menschen zu tun hat
Aufgabenstellung:
  • Stelle den Gedankengang des Textes von Andreas Frey dar und erläutere die Intention des Textes. (ca. 40 %)
  • Erörtere ausgehend vom vorliegenden Text die Position des Autors. (ca. 60 %)
Material
Was gute Sprache mit guten Menschen zu tun hat
Andreas Frey
1
[…] Über die Sprache soll das Denken in eine andere Richtung gelenkt werden. Schließlich
2
beeinflusst die Sprache unsere Deutung der Welt und auch unser Handeln. So stellen sich
3
Vertreter der Sprachforschung das Wirkmuster von Deutungsrahmen vor, die unseren Wörtern
4
eine Bedeutung geben, das sogenannte Framing.
5
Deutlicher wird diese Absicht, wenn man zwei aktuelle Debatten betrachtet. Beispielsweise
6
den Streit darüber, ob die Berliner Mohrenstraße umbenannt werden soll. Mohr sei ein zutiefst
7
kolonialistischer und rassistischer Begriff, sagen die Befürworter, die Gegner halten das für
8
unsinnig und geschichtsvergessen. Eine weitere Debatte widmet sich der „Rasse“, die als
9
Begriff aus Gesetzestexten wie dem Grundgesetz entfernt werden soll, weil das Konzept
10
unwissenschaftlich sei und nationalsozialistisch kontaminiert.
11
Die Debatte tobt sehr laut und sehr emotional, und sie ist beispielhaft für eine Reihe von
12
Sprachphänomenen, über die seit Jahrzehnten mit zunehmender Empörung und Polarisierung
13
gestritten wird. Die Front läuft mitten durch die Gesellschaft. „Das sagt man nicht“, meinen die
14
einen, meist von hehren Beweggründen geleitet. „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen“
15
verteidigen es die anderen und wittern Sprachverhunzung, Zensur oder Einschränkung ihrer
16
Freiheit. Die große Mehrheit dürfte sich vermutlich weder dem einen noch dem anderen Ende
17
des Spektrums angehörig fühlen.
18
Wissenschaftlich betrachtet, geht es um die Bedeutung von Wörtern und die Veränderung, die
19
diese erfahren. Es geht um kontroverse Begriffe, um Tabuwörter, um politische Korrektheit,
20
PC. Neuerdings lauern überall Sprachfallen, Menschen sind zunehmend verunsichert. Wer
21
den falschen Begriff verwendet, macht sich angreifbar.
22
Antworten auf die Fragen, warum die Bedeutungen von Wörtern sich ändern oder warum viele
23
das Gefühl haben, dieses oder jenes könne man nicht mehr sagen, gibt die Linguistik,
24
insbesondere die Semantik und die Kognitionsforschung. Beide Disziplinen untersuchen mit
25
den Wörtern auch den Wandel, dem sie unterliegen.
26
Im Gegensatz zum gewöhnlichen Sprachwandel handelt es sich hier nicht um langsame, von
27
niemandem intendierte Verschiebungen – wie etwa das Verschwinden von Kasusendungen –
28
die sich allmählich vollziehen. Vielmehr verfolgen Sprecher mit der Verwendung der
29
geänderten Wörter eine Absicht beim Kommunizieren.
30
Mit der simplen Formel „Sprache ändert sich halt“, mit der Aktivisten neue Bezeichnungen als
31
Teil einer völlig natürlichen Entwicklung hinzustellen geneigt sind, ist es bei diesem
32
Sprachphänomen nicht getan. „Sprecher wollen beeinflussen und im besten Sinne des Wortes
33
etwas zum Ausdruck bringen“, schreibt der Düsseldorfer Linguist Sascha Bechmann in seinem
34
Buch „Sprachwandel – Bedeutungswandel“. Ein Bedeutungswandel findet demnach meist
35
bewusst und willentlich statt, nur die Ursachen unterscheiden sich. Manche wollen sich
36
expressiv ausdrücken und auf sich aufmerksam machen, andere neigen zur Bildhaftigkeit,
37
wieder andere haben das Bedürfnis nach beschönigenden Ausdrucksweisen: nach
38
Euphemismen.
39
Die Sprachgeschichte des Deutschen ist voller konnotativer Bedeutungsveränderungen. Unter
40
Konnotation versteht man den Umstand, dass Wörter einen Nebensinn haben können, dass
41
mit ihnen etwas assoziiert wird. Manche Wörter werden abgewertet (Pejoration), andere
42
aufgewertet (Melioration), wieder andere kippen irgendwann ins Gegenteil. So bedeutete zum
43
Beispiel das Adjektiv „billig“ noch im 18. Jahrhundert „angemessen“, über die Zwischenstufe
44
„preiswert“ ist heute damit hauptsächlich „minderwertig“ gemeint.
45
Arschloch war schon immer ein Schimpfwort, es rangiert als Tabuwort ganz unten; Wichser
46
hingegen diente als neutrale und nichtvulgäre Bezeichnung für jemanden, der mit einer
47
vergleichbaren Handbewegung seinen Stiefel mit Wachs einreibt oder, nun ja, wichst. Die
48
derbe Bedeutung entwickelte sich in der Soldatensprache des Ersten Weltkriegs; das
49
zugehörige Verb wurde zum Euphemismus für die männliche Masturbation und erfuhr dadurch
50
eine Bedeutungsverschlechterung.
51
Euphemismen sind anfällig für einen Bedeutungswandel. Verhüllende Ausdrücke werden
52
verwendet, um Rücksicht auf Bevölkerungsgruppen zu nehmen oder respektvoll und höflich
53
zu sein. Davon zu unterscheiden sind verschleiernde Begriffe mit dem Ziel der Täuschung
54
oder Manipulation. Mit einer „Preisanpassung“ ist nicht selten eine Verteuerung gemeint, mit
55
einer „friedenssichernden Maßnahme“ eine Militäraktion. Weil die Prostituierten irgendwann
56
auch als Dirnen bezeichnet wurden, um beschönigend das Wort Hure zu umgehen, erfuhr
57
diese einst neutrale Bezeichnung für eine junge Dienerin eine prompte Abwertung.
58
Dieses Schicksal teilen viele Euphemismen: Gehen die Begriffe in die Alltagssprache über,
59
kommt es zu einer Pejoration, „weil die neuen, zunächst beschönigenden Wörter rasch die
60
alte Bedeutung annehmen, die es eigentlich zu verschleiern galt“, erklärt Sascha Bechmann.
61
Sie landen in der Euphemismus-Tretmühle, wie dieses Sprachphänomen auch genannt wird.
62
Und genau das passiert auch mit den politisch korrekten Begriffen: Sie unterliegen einem
63
Verschleiß, bei dem der gutgemeinte Ausdruck im Gebrauch schlecht wird und bald durch
64
einen neuen ersetzt werden muss.
65
Der emeritierte Düsseldorfer Linguist Rudi Keller wundert sich über solche Entwicklungen
66
nicht. Er hält es sogar für aussichtslos, das tief verwurzelte Problem des Rassismus sprachlich
67
zu lösen: „Der Rassismus verschwindet nicht dadurch, dass neue Wörter eingeführt werden.“
68
Schließlich werde dadurch keine neue Kategorie erfunden, sondern bloß eine neue
69
Bezeichnung für ein und dieselbe. Auch der Antisemitismus lasse sich nicht ausrotten, indem
70
man „an der Sprache herumfummelt“
71
Seine Kollegin Kristin Kopf von der Universität Münster sieht das differenzierter. So hätten
72
Untersuchungen in verschiedenen Sprachen gezeigt, dass manche Berufe durch neue
73
Bezeichnungen eine Aufwertung erfahren hätten. Untersuchungen zum Wort „Schizophrenie“
74
zeigen, dass es einen Unterschied macht, ob man jemanden als einen Schizophrenen
75
bezeichnet oder als schizophren. Im ersteren Fall werde die Krankheit als unveränderliches
76
Persönlichkeitsmerkmal angesehen, im anderen Fall als eher temporäre Eigenschaft.
77
Auch die gesellschaftliche Aufwertung, die Menschen mit Behinderungen erfahren hätten,
78
könne teilweise auf solche Neologismen zurückzuführen sein, vermutet Kristin Kopf.
79
Wertneutral seien Begriffe wie Krüppel oder Mohr nie gewesen, damit bezeichnete Menschen
80
hätten früher ein geringes Ansehen gehabt.
81
Das berührt die Frage, was Sprache mit uns macht, ob sie unser Denken und Handeln prägt.
82
Dass sie dies tut, ist eine Hypothese, der in dieser Allgemeinheit kaum zu widersprechen ist.
83
In Bezug auf sprachlichen Bedeutungswandel scheint sie aber nur teilweise richtig zu sein;
84
laut Keller ist sie wenig erforscht und stark ideologiebeladen: Solche Sprachbetrachtungen
85
würden häufig von Menschen betrieben, die vom Thema wenig Ahnung hätten.
86
Die verbreitete Annahme, dass etwa der Begriff Flüchtling herabwürdigend sei, hält er für
87
unwissenschaftlich und „aus dem hohlen Bauch gegriffen“. Die Bezeichnung war in Verdacht
88
geraten, kurz nachdem Millionen Menschen nach Europa geflohen waren. Als Erklärung wurde
89
angegeben, dass das Suffix -„ling“ abwertend sei, wie man etwa bei Wüstling oder
90
Schwächling sehen könne. Positiv konnotierte Wörter wie Liebling oder Säugling belegen
91
allerdings das Gegenteil, insofern hätte man auch argumentieren können, dass der Begriff die
92
Gemeinten als besonders schützenswert und wertvoll beschreibt.
93
Mit solchen Analysen lässt sich also oft nach Gusto das jeweils Erwünschte oder
94
Unerwünschtes ableiten. Es ist zunehmend beliebt, Wörter so lange zu sezieren, bis man
95
etwas findet, was potentiell diskriminierend sein könnte, weil es nicht zur eigenen
96
Weltanschauung passt. Im Gegensatz dazu zeigen sogenannte Kookkurrenzstudien jedoch,
97
dass das Wort Flüchtling eher neutral gebraucht wird. Mit der Kookkurrenz wird untersucht,
98
mit welchen Wörtern die Begriffe zusammen verwendet werden. Ob zum Beispiel in
99
Kombination mit „Flüchtling“ vermehrt abschätzige Adjektive gebraucht werden.
100
Anderen Kombinationen sieht man ihre Einzelteile oft nicht mehr an, sie sind so häufig
101
zusammen aufgetreten, dass sie zu einer neuen Sinneinheit verschmolzen sind. „Ich bin mir
102
sicher, dass die meisten Menschen in der Mohrenstraße ausgestiegen sind, ohne an einen
103
Mohr gedacht zu haben“, sagt Göz Kaufmann vom Deutschen Seminar an der Universität
104
Freiburg. Linguisten wie er bezeichnen solche Komposita, bei denen die Bedeutung der
105
Einzelteile im neuen Wort an Gewicht verloren hat, als nichttransparent. Weitere Beispiele sind
106
Bürgersteig oder Selbstmord.
107
„Sobald allerdings jemand die Bedeutung eines Einzelteils transparent macht, verliert die
108
Kombination ihre Unschuld“, erklärt Kaufmann. Eine Kombination, bei der die Einzelteile noch
109
erkannt werden, ist das Wort Klimakrise. Aktivisten haben es hierzulande etabliert, um eine
110
Dringlichkeit herauszustellen. Klimawandel (zu neutral) und Erderwärmung (zu positiv) würden
111
der Menschheitsaufgabe nicht gerecht werden, heißt es. Aber ob die Krise eine bessere
112
Lösung liefert, ist fraglich. Meist verschwindet eine Krise recht schnell wieder, so klingt ein
113
vorübergehendes Problem. Ein Begriff wird zum Glaubensbekenntnis – wer anders spricht,
114
macht sich verdächtig.
115
Aber ist es wirklich so, dass alle, die weiter vom Klimawandel reden, das Problem nicht ernst
116
nehmen? Es gibt gute Gründe, das anders zu sehen. So riskiert zum einen jeder absichtsvolle
117
Etikettentausch, dass die Menschen, die ja überzeugt werden sollen, ihn schon deswegen
118
ablehnen, weil das Etikett plötzlich neu ist. Bedeutungen werden, teils mühsam, erlernt.
119
Insofern löst jede Umbenennung kognitiven Widerstand aus. Das ist aber vielleicht nicht der
120
Hauptgrund, warum Neologismen wie Klimakrise, PoC oder Länder des globalen Südens
121
keineswegs freudig angenommen werden. Menschen, deren Gesinnung unverdächtig ist,
122
fühlen sich bevormundet und stigmatisiert.
123
Zudem sind neue Bezeichnungen, die bewusst und mit bestimmter Intention eingeführt
124
werden, häufig nicht produktiv in dem Sinne, dass Menschen durch sie zu einer besseren
125
Haltung finden. Erklärte Rassisten oder Klimawandelleugner kann man damit erst recht nicht
126
beeindrucken. Aber auch die Strategie, Begriffe weder sagen noch zitieren zu dürfen, ist wenig
127
zielführend. Wer N-Wort, R-Wort und M-Wort sagt, macht die verbotenen Wörter dadurch
128
erst recht interessant und verleiht ihnen eine Magie ähnlich der des Lord Voldemort in den
129
„Harry Potter“-Romanen oder des Bären bei den Germanen. Nenn bloß nicht den Namen,
130
sonst erscheint er.
131
Wie man strategisch geschickter vorgeht, hat die homosexuelle Community im vergangenen
132
Jahrhundert gezeigt. Statt für „schwul“ einen neuen Begriff zu fordern, weil Nichtschwule
133
diesen zur Herabwürdigung und als Beleidigung nutzten, machte man ihn sich zu eigen und
134
verwendete ihn offensiv als Selbstbezeichnung. Den Hatern wurde einfach das Schimpfwort
135
geklaut.

Anmerkungen zum Autor:
Andreas Frey (* 1982) studierte u.a. Linguistik. Er arbeitet als freier Autor u. a. für die Frankfurter Allgemeine Zeitung.
Aus: Frey, Andreas (30.08.2020): Was gute Sprache mit guten Menschen zu tun hat., letzter Zugriff am 15.08.2024.

Weiter lernen mit SchulLV-PLUS!

monatlich kündbarSchulLV-PLUS-Vorteile im ÜberblickDu hast bereits einen Account?