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Inhaltsverzeichnis

Aufgabe 3 – Prosa

Thema

Cili Wethekam: Neid ist grau mit gelben Punkten

Aufgabenstellung

Beschreibe diesen Prosatext unter Berücksichtigung folgender Aspekte:

  • Figuren und Figurenkonstellation

  • äußere und innere Handlung

  • sprachliche und stilistische Mittel

Formuliere einen zusammenhängenden, gegliederten Text.

Achte auf korrekte Sprache und Rechtschreibung. Beides wird bewertet.

Material

Neid ist grau mit gelben Punkten

Cili Wethekam (1921 - 1975)

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Wenn sie ehrlich ist, muss Anita vor sich selbst zugeben, dass sie neidisch auf die jüngere
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Schwester ist, der alles so viel leichter fällt: das Lernen, das Gutsein, das Liebhaben und das
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Sichfreuen. Mareike sieht nett aus, sie hat herrlich-verrückte Einfälle, über die alle Erwach-
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senen sich amüsieren. Anita ist nicht so. Mühsam muss sie sich das Wissen und die Sympa-
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thie ihrer Umwelt erobern. Dabei wäre sie so gern einmal der fröhliche Mittelpunkt. Nun zählt
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sie die Tage bis zu ihrem Geburtstag. Da wird sie Glückwünsche und Geschenke in Empfang
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nehmen, es werden Freundinnen kommen, Briefe wird sie auch erhalten, sie allein.
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Aber kurz vor dem großen Tag sagt Mutter nachdenklich zu Anita: „Eigentlich sollte
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Mareike an deinem Geburtstag nicht leer ausgehen. Ich hab eine Idee ...“
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Ah – zersprungen die Vorfreude, lautlos, wie eine schillernde Seifenblase! Natürlich, der alte
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Zopf: Man muss teilen, sonst blutet dem anderen das Herz ... Hat Anita gedacht, sie käme
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einmal um Muttis Lieblingsspruch herum?
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„Vielleicht einen netten Stoff?“, hört sie Mutter sagen. „Du suchst ihn aus, ja?“ „Wie du willst,
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Mutter.“
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In ihrem Zimmer weint Anita ein bisschen. Wie unehrlich!, denkt sie wütend. Nur um
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Mareike verwöhnen zu können, ist Mutter jeder Vorwand recht...
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Mürrisch begleitet sie am nächsten Tag die Mutter in den Laden. So viele Stoffe: farbige Ka-
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ros, lustige Streifen, kleine Blumen, große Blüten. Da: ein Margeritenmuster auf
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himmelblauem Grund. Der ist wirklich hübsch. „Na?“, fragt die Mutter und prüft die
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Qualität. Anita schweigt. Es ist, als hielte etwas Gutes, aber Kraftloses in ihrem Innern die
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Antwort noch zurück.
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„Nein“, sagt sie schließlich. Ihr Blick irrt zu den Regalen. Dort liegt, stiefmütterlich
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versteckt auf einem letzten Stapel, ein mausgrauer Stoff mit kargen gelben Punkten – ein
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Nebeltag in einer düsteren Stadt mit sehr wenig Laternen.
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„Den!“, sagt Anita entschieden und bemüht sich, nicht rot zu werden.
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„Also schön“, sagt die Mutter ohne Begeisterung. Ist sie enttäuscht? Anita will es nicht wissen.
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Der Stoff wird abgeschnitten, bezahlt und heimgetragen.
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Abends, unmittelbar vor dem Einschlafen, denkt Anita: Neid ist grau mit gelben Punkten. Das
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kommt ihr vor wie eine Zeile aus einem Gedicht. Wenn Mareike nicht just vor einigen Tagen
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noch gesagt hätte, so nebenbei, wie Mareike etwas heraussprudeln kann, was ihr eben in den
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Sinn kommt: „Findest du nicht auch, dass Grau eine schlimme Farbe ist, Anita? Ich glaube,
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Kummer ist auch grau ...“
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Nun bekommt Mareike also ein graues Kleid. Immerfort muss Anita daran denken. Es über-
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schattet alle Vorfreude.
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Schließlich ist der Geburtstag da: Küsse, Blumen, Geschenke – eine feierliche Ansprache
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vom Vater vor dem Frühstück, dreizehn brennende Kerzen; das Lebenslicht in der Mitte.
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Doch, doch, man hat Anita lieb, das kann ein Blinder sehen .... Aber Anita sieht nur eins: einen
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grauen Stoff mit kargen gelben Punkten – auf ihrem Geburtstagstisch. Mutter!", ruft sie ent-
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setzt. „Das war doch der Stoff für Mareike ...!“
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Die Mutter lacht ahnungslos. Nicht wahr, da habe ich dich überrascht? Man kennt sich als
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Mutter heutzutage wirklich nicht mehr im Geschmack der eigenen Kinder aus! Das habe ich
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an diesem Stoff doch wieder gesehen, auf den wäre ich niemals gekommen ... Anita, du
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weinst?“
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Anita schluchzte über das verhasste Geschenk, das sie einzig und allein ihrem schäbigen
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Neid zuzuschreiben hat. Hätte sie doch den himmelblauen gewählt, den mit den
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Margeriten ...
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„Es war doch ein Geschenk für Mareike! Damit sie an meinem Geburtstag nicht leer
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ausgeht, hast du gesagt!“
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„Ich geh ja nicht leer aus“, ruft die jüngere Schwester vergnügt. „Schau doch, Anita!
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Mir hat Mutter auch vorgeschwindelt, der Stoff sei nicht für mich! Ich habe ihn für dich ausge-
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sucht!“
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Der Margeritenstoff – es ist der Margeritenstoff, den Mareike in ihren Händen hält. „Er ist ja
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noch schöner als damals, Mutter! Und ich hatte ja keine Ahnung, dass er mein Katzentisch
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sein sollte ... Anita! Hör auf zu weinen – willst du – willst du vielleicht lieber diesen haben?
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Komm, wir tauschen.“
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Anita ist beschämt, als Mareike sie spielerisch in den blauen Stoff einwickelt, die Hände der
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kleinen Schwester liegen so lieb auf ihren Schultern. „Nett siehst du darin aus, Anita!“
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„Aber – der andere Stoff ist grau, Mareike“, sagt sie unglücklich.
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„Es sind ja gelbe Sonnenpunkte darin“, antwortet Mareike.
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Es klingt kläglich und tapfer zugleich. Die Mutter sieht jetzt aus, als hätte sie in einen Abgrund
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geschaut.
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Da gibt sich Anita einen Ruck, wickelt sich aus dem blauen Margeritenstoff heraus, faltet ihn
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ordentlich wieder zusammen. „Danke, Mareike“, sagte sie. „Aber das kommt nicht
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in Frage. Mutter wird mir aus dem grauen Stoff sehr bald ein Kleid nähen. Nicht wahr, Mutter?
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Es soll mich manchmal an etwas erinnern.“
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Jetzt sieht die Mutter aus, als hätte Anita aus eigener Kraft eine Brücke über den Abgrund
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gebaut. Anita selbst hat das Gefühl, als sei sie in diesen letzten fünf Minuten gewachsen, über
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den Rand ihres Neides hinweg und auf Mareike zu.
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Dies wird ein guter Geburtstag.

Wethekam, Cili: Neid ist grau mit gelben Punkten. In: Bei uns zu Hause und Anderswo.

Hg. von Michael Ende, Irmela Brender. Stuttgart: K. Thienemanns Verlag, 1976, Seite 80

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