Aufgabe 4
Sachtextanalyse
Thema: Harald Martenstein (* 1953): Über die großen Lügner der Weltgeschichte, geschickte und plumpe Schwindeleien und das sinkende Niveau der Lügenkultur Aufgabenstellung:- Analysiere den Text.
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Fast jeder lügt manchmal. Auch ich habe manchmal gelogen. Wenn nun jemand ob dieses Geständnisses
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empört ist, erlaube ich mir die Frage: Haben Sie etwa in Ihrem Leben immer die Wahrheit gesagt? Wer
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diese Frage bejaht, ist sofort als ein viel schlimmerer Lügner enttarnt, als ich es bin, als ein Lügner, der
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obendrein scheinheilig ist.
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Fürs Lügen gibt es viele Motive, darunter ehrenwerte, zum Beispiel, jemanden schonen zu wollen, nicht
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selten sich selbst. Auch Menschen, die hin und wieder lügen, verurteilen allerdings in der Regel das
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Lügen als solches, sozusagen im Grundsatz. Sie selber, so denken sie, möchten nicht gern angelogen
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werden.
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Aber da irren sie sich. Wenn ihnen jemand sagt, dass sie kein bisschen älter aussehen als vor zehn Jahren,
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ändern sie nämlich sofort ihre Grundsätze. Dazu fällt mir ein Zitat Otto von Bismarcks ein: “Wenn man
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sagt, dass man einer Sache grundsätzlich zustimmt, so bedeutet es, dass man nicht die geringste Absicht
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hat, sie in der Praxis durchzuführen.”
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Bismarck war ein geschickter Lügner. Er fälschte die sogenannte Emser Depesche, um den deutschen
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Kaiser in einen Krieg gegen Frankreich zu treiben. Sein Ziel, die deutsche Einheit, war seiner Ansicht
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nach anders nicht zu erreichen. Eine solche Abwägung nehmen die meisten Lügner vor. Die meisten
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Leute lügen also nicht gewohnheitsmäßig. Sie lügen nur, wenn sie glauben, ein höheres Ziel sei die Lüge
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wert. Als “höheres Ziel” gilt unter anderem das eigene Wohlbefinden. Ein bisschen Eigenliebe darf der
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Mensch ruhig besitzen, die Psychologen raten dazu.
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Ich beurteile Lügner also milde, zumindest prüfe ich vor einem Urteil das Motiv des Lügenden. Aber
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ich verlange, mit Niveau angelogen zu werden, ob mit gutem Motiv oder ohne.
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Um das Niveau der Lüge steht es schlecht. Als Walter Ulbricht kurz vor dem Mauerbau sagte:
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“Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten”, konnte man ihm seine Lüge in diesem Moment
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immerhin schwer nachweisen. Als Donald Trump sagte, wegen seiner Corona-Politik seien mindestens
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zwei Millionen Menschen weniger gestorben, war die Lüge sofort durchschaubar. Das Unbegreifliche
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an Trump oder Putin oder Erdogan ist für mich nicht, dass sie lügen, sondern dass ihre Lügen häufig so
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leicht durchschaubar sind. Bismarck wäre das nicht passiert. 2015 hieß es während der Flüchtlingskrise
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vielerorts, Grenzen könnten sowieso nicht geschlossen werden. Auch da war ich nicht wegen der Lüge
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beleidigt, sondern wegen ihrer Plumpheit. Als Corona kam, ging’s dann sofort. Wer mich anlügt, soll
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sich gefälligst Mühe geben.
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Eine Tatsache ist das, was alle, womöglich irrtümlich, für wahr halten. Diese Erkenntnis verdanke ich
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Wilhelm von Humboldt, sie ist, etwas umständlicher formuliert, das Motto des Buches Die größten
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Lügen der Geschichte. Julius Cäsar, Mohammed, Martin Luther, Napoleon, alle haben sie manchmal
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gelogen. Eine Lüge, die etwas Gutem dient, nannte das Schlitzohr Luther sogar eine “Liebespflicht”.
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Nach der ersten der beiden Corona-Großdemos in Berlin sagten die Veranstalter, es hätten mehr als eine
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Million Menschen teilgenommen, die Polizei sprach anfangs von 20.000 und korrigierte sich immerhin
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später. Beide Zahlen waren für jeden, der sich den Aufzug im Netz angeschaut hat, sofort als absurd zu
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durchschauen. Für wen halten die uns? Ich habe Bücher gelesen, ich war auf dem Gymnasium, ich
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fordere eine Lügenkultur, die meinem Bildungslevel entspricht. Eine Lüge, die nicht mindestens so
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schwer zu knacken ist wie ein Sudoku, erfüllt den Tatbestand der Beleidigung.
Anmerkung zum Autor:
Harald Martenstein (* 1953): deutscher Journalist und Schriftsteller Martenstein, Harald: Über die großen Lügner der Weltgeschichte, geschickte und plumpe Schwindeleien und das sinkende Niveau
der Lügenkultur. In: DIE ZEIT-Magazin, 24.09.2020, S. 11.
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- Die vorliegende Kolumne Über die großen Lügner der Weltgeschichte, geschickte und plumpe Schwindeleien und das sinkende Niveau der Lügenkultur von Harald Martenstein erscheint am 24. September 2020 in der ZEIT und untersucht das Phänomen Lügen unter dem Gesichtspunkt „Lügen aus Liebe und lügen als Zeichen mangelnder Wertschätzung“.
- Im Zuge seines Artikels geht Martenstein auf die verschiedenen Motive des Lügens ein, untersucht exemplarisch das Lügenverhalten von Politikern und welche taktischen Absichten dahinterstecken sowie lügnerisches Verhalten im Alltag, vor dem wir alle nicht verschont bleiben.
Hauptteil
- Der Autor geht mit einer ehrlichen, offenen und selbstreflektierten Herangehensweise an das Thema Lügen heran, was sich bereits zu anfangs zeigt, als er ohne Umschweife zugibt, selbst nicht von gelegentlichem Lügen verschont zu bleiben (Vgl. Z. 1 ff.).
- Martenstein beschreibt das Lügen als eine menschliche Angewohnheit, vor der so gut wie niemand gefeiht ist, und alle, die etwas anderes behaupten, sind laut Autor „scheinheilig“ (Z. 4).
- Nach seinen einleitenden Worten erläutert der Autor die verschiedenen Arten des Lügens und Motive, die einen dazu bringen können, zu lügen. In dem Zuge differenziert er zwischen Lügen, die „ehrenwert[...]“ (Z. 5) sind und solchen, die einen selbst und andere vor negativen Auswirkungen bewahren (Vgl. Z. 5 f.).
- Die Verwerflichkeit des Lügens interpretiert Martenstein als Auslegungssache, da zwar die Mehrheit gegen Lügen ist, jedoch die eigenen Prinzipien gerne über den Haufen wirft, wenn sie ihnen selbst situative Vorteile bescheren. Weniger das Lügen an sich, sondern das Motiv hinter der Lüge ist für den Autor relevant.
- Der Autor führt exemplarisch das Lügenverhalten verschiedener bedeutender Politiker der Weltgeschichte an, darunter auch Bismarck, den er als „geschickte[n] Lügner“ (Z. 13) bezeichnet. Bismarck lügte damals im Zusammenhang mit der Emser Depesche, sodass der deutsche Kaiser den Krieg mit Frankreich anfing. In dem Fall war das Motiv zum Lügen reine Taktik und ein strategisches Manöver.
Schluss
- Zusammengefasst geht es laut Martenstein nicht darum, dass Lügner grundsätzlich böse Menschen sind, sondern Lügen differenziert betrachtet werden sollte, ohne Unehrlichkeit dabei zu verherrlichen.
- Eine intolerante Geisteshaltung wie die der Zuschauer im Theatersaal bildet den idealen Nährboden für ein totalitäres System und Strauß möchte mit seinem Werk für die in einer Gesellschaft schlummernden Risiken sensibilisieren und den Blick schärfen.