Aufgabe 1
Sachtextanalyse
Thema:- Analysiere den Argumentationsgang des Textes.
- Setze dich mit der Autorenposition unter Berücksichtigung persönlicher Literaturerfahrungen auseinander.
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Schüler, die unter der Bettdecke heimlich „Wilhelm Tell“ lesen, existierten vielleicht schon
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immer nur in Wunschträumen von Lehrern, heute ist es gewiß so. Heutzutage weiß ein junger
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Mensch mit den sogenannten „klassischen“ Werken der Literatur, also mit jenen als „wertvoll“
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bezeichneten Dichtungen, die vor der Jahrhundertwende geschrieben wurden, meist wenig
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anzufangen. Sofern ihm nicht von „Gebildeten“ ihnen gegenüber Befangenheit eingeredet
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worden ist, lehnt er sie eher spontan ab, als daß er sich für sie interessiert oder gar begeistert.
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Fremd und nicht selten fast unverständlich ist ihm schon die Sprache, in der diese Texte
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abgefaßt sind. Häufig muß er, um sie verstehen zu können, Spezialwörterbücher benutzen oder
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sich von eingeweihten Lehrern helfen lassen. Mancher Satz, der als besonders kunstvoll gilt,
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kommt ihm gekünstelt vor. Das rhetorische Pathos, mit dem einige Dichter ihre Leser mitreißen
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wollen, reizt ihn zum Lachen.
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Er merkt, daß diese Literatur nicht für ihn geschrieben wurde. Es werden bei ihm als dem
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Angesprochenen mythologische, historische, auch literaturgeschichtliche Kenntnisse
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vorausgesetzt, die er gar nicht besitzt. Ist sein Gedächtnis damit jedoch vollgestopft worden
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(und auf welcher Schule müßte er das heute noch erdulden!), so fühlt er sich bei der Lektüre
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angesprochen als einer, dem Standesunterschiede selbstverständlich sind, der an Gott oder „die
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Götter“ glaubt, der Gehorsam für eine Tugend hält oder der glaubt, daß Menschen, wenn sie
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nur wollten, alles könnten. Er spürt, daß von ihm die Überzeugungen, die Vorurteile und
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Verhaltensklischees eines freien Griechen des 5. Jahrhunderts vor der Zeitenrechnung ebenso
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erwartet werden wie die eines Ritters der Stauferzeit, eines bürgerlichen Fürsten- und
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Staatsdieners des 18. oder eines kleinbürgerlichen Gebildeten des 19. Jahrhunderts, daß er diese
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Menschen und das, was sie dachten und empfanden, zumindest verstehen soll.
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Sich in sie hineinzuversetzen, fällt ihm jedoch sehr schwer. Die in diesen Dichtungen
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dargestellten Menschen haben ganz andere Lebensgewohnheiten als er. Sie leben auf Burgen
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und Schlössern oder in altertümlichen kleinen Städten oder Dörfern. Sie kleiden sich anders.
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Wenn sie sich fortbewegen wollen, nehmen sie ein Pferd oder eine Kutsche und nicht das Auto.
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Nicht wenige von ihnen sind materiell unabhängig. Die Natur, die sie fürchten oder anbeten, ist
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der von Menschen noch nicht beherrschte und noch nicht verschandelte Bereich der Erde und
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nicht der wohlgeordnete Freizeitpark. Um manche Probleme dieser Menschen verstehen zu
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können, muß man sich daran erinnern, daß es weder eine Versicherung gab, die sie vor
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Unvorhersehbarem schützen, noch ein Sozialamt, das ihnen in der Not helfen konnte, daß sie
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häufig weder die Polizei noch Gerichte mit der Vertretung ihrer Interessen beauftragen konnten.
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Selbstverständlich lassen sich all diese Verständnis-Hindernisse überwinden. Man kann die
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Schüler lehren, die Welt und die Menschen so zu sehen, wie der Autor in längst vergangenen
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Tagen sie sah oder sehen wollte, man kann sie lehren, seine Sprache und seine Probleme zu
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verstehen. Aber sollte man es, wenn dies so viel Schwierigkeiten bereitet? Die Arbeiten der
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noch lebenden Schriftsteller interessieren den jungen Menschen meist viel mehr als die Werke
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der Klassiker. Sollte man deshalb nicht diese zum einzigen Gegenstand des Literaturunterrichts
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an unseren Schulen machen? In ihnen wird die Welt mit den Augen eines Zeitgenossen gesehen
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und mit der Sprache eines Zeitgenossen beschrieben. Aus ihnen kann der junge Mensch etwas
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über seine Zeit und sich lernen. Sie sind „aktuell“, die Werke der Klassiker aber „antiquiert“,
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wie Schüler sagen würden.
Aus: Grünwaldt, Hans-Joachim: Sind Klassiker etwa nicht antiquiert? In: Diskussion Deutsch. Heft 1 (9/1970), Verlag Moritz Diesterweg, Frankfurt/M. 1970, S. 16 f.
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- In seinem Essay Sind Klassiker etwa nicht antiquiert? aus dem Jahr 1970 setzt sich Hans Joachim Grünwaldt mit der Frage auseinander, ob klassische Literatur noch zeitgemäß für den schulischen Literaturunterricht sei.
- Vor dem Hintergrund einer zunehmenden Ablehnung klassischer Werke durch Schüler*innen stellt der Autor die Verständnisschwierigkeiten und die emotionale Distanz zu diesen Texten in den Mittelpunkt seiner Argumentation. Dabei hinterfragt er die Sinnhaftigkeit ihrer Dominanz im Schulunterricht und plädiert für eine stärkere Einbindung von Gegenwartsliteratur.
- Im Folgenden wird der Argumentationsgang des Textes analysiert, die Position des Autors herausgearbeitet und unter Berücksichtigung eigener literarischer Erfahrungen kritisch reflektiert.
Hauptteil
1. Darstellung des Argumentationsgangs
- Grünwaldt gliedert seinen Text in einen klar nachvollziehbaren linearen Argumentationsgang, der sich ausgehend von einer Bestandsaufnahme über mehrere Argumente bis hin zu einer Schlussfolgerung entwickelt.
- Zunächst beschreibt der Autor die aktuelle Situation im schulischen Literaturunterricht, wobei er die vermeintliche Ablehnung klassischer Werke durch Schülerinnen und Schüler als Ausgangspunkt seiner Überlegungen darstellt (Vgl. Z. 1–6). Er konstatiert, dass es heute kaum noch vorkomme, dass Jugendliche mit Begeisterung Werke wie Wilhelm Tell lesen (Vgl. Z. 1) und erklärt dies mit einer Distanz zwischen den Leseerwartungen der Jugendlichen und den klassischen Texten. Diese Distanz beruhe jedoch nicht auf grundloser Abneigung, sondern auf verständlichen Hindernissen, die im Folgenden erläutert werden.
- Das erste zentrale Argument bezieht sich auf die sprachliche Fremdheit klassischer Literatur (Vgl. Z. 7–11). Die Sprache sei „unverständlich“ (Z. 7) und wirke auf Schüler oft „abgefaßt“ (Z. 8). Sie sei nicht nur antiquiert, sondern auch rhetorisch überhöht, was den Zugang erschwere: Der „rhetorische Pathos“ (Z. 10), mit dem klassische Autor*innen ihre Leser*innen ergreifen wollten, wirke „gekünstelt“ (Z. 10) und bringe Jugendliche eher zum Lachen als zur Identifikation (Vgl. Z. 10–11). Damit beschreibt Grünwaldt eine kommunikative Barriere, die zwischen Text und Rezipient besteht, und stellt heraus, dass die Sprache der Klassiker heute eher abschreckend als einladend sei.
- Im zweiten Argument betont der Autor das fehlende Weltwissen, das für das Verständnis klassischer Texte notwendig sei (Vgl. Z. 12–22). Diese setzten Kenntnisse über Mythologie, Geschichte und literaturgeschichtliche Kontexte voraus – zum Beispiel über Götter, bürgerliche Rollenbilder oder Standesnormen –, die viele Jugendliche heute nicht mehr besitzen (Vgl. Z. 14–19).
- Die Leserschaft fühle sich überfordert und vom Text ausgeschlossen, wenn sie sich etwa mit der Pflicht zum Gehorsam gegenüber Göttern oder mit der Lebensrealität von Rittern, Fürsten oder kleinbürgerlichen Beamten identifizieren soll. Damit verdeutlicht Grünwaldt die kulturelle und historische Distanz, die zwischen der Erfahrungswelt heutiger Schüler*innen und den dargestellten Szenarien klassischer Werke liegt.
- Das dritte Argument zielt auf die Empathielosigkeit als Folge unterschiedlicher Lebenswelten ab (Vgl. Z. 23–32). Die in klassischen Werken dargestellten Figuren lebten in einer völlig anderen Umwelt: Sie wohnten in Burgen und Schlössern, ritten auf Pferden oder fuhren Kutsche, trugen altertümliche Kleidung und lebten außerhalb moderner sozialer Systeme.
- Diese Differenz erschwere es Schüler*innen, sich in die Figuren hineinzuversetzen oder ihre Handlungen nachzuvollziehen. Ein Beispiel ist die Beschreibung eines Lebens ohne soziale Absicherung, ohne Polizei oder Gerichte, was für heutige Jugendliche schwer vorstellbar sei (Vgl. Z. 28–31). Grünwaldt macht damit deutlich, dass fehlende Identifikationsangebote auf Seiten der klassischen Literatur dazu führen, dass emotionale Beteiligung kaum entstehen kann.
- Im Fazit zieht Grünwaldt die Konsequenz aus seinen Beobachtungen und fragt, ob es angesichts dieser zahlreichen Hürden überhaupt sinnvoll sei, klassische Werke weiterhin als alleinigen Gegenstand des Literaturunterrichts zu behandeln (Vgl. Z. 33–42). Er verweist darauf, dass zeitgenössische Autoren mit ihren Werken den Jugendlichen näherstünden, da sie in der Sprache und aus der Perspektive ihrer Zeitgenossen schrieben (Vgl. Z. 38–41).
- Die Rezeption dieser Texte sei für junge Menschen nicht nur einfacher, sondern auch bedeutungsvoller, da sie sich mit deren Themen, Figuren und Problemen eher identifizieren könnten. Während die Klassiker als „antiquiert“ (Z. 41) wahrgenommen würden, seien moderne Werke für viele Schülerinnen und Schüler „aktuell“ (Z. 41). Die zentrale Forderung des Autors lautet daher: Der Kanon müsse geöffnet und stärker durch Gegenwartsliteratur ergänzt werden.
2. Erfassung der Autorenposition
- Grünwaldts Autorenposition lässt sich klar erfassen: Er kritisiert die einseitige Ausrichtung des schulischen Literaturunterrichts auf klassische Texte und plädiert dafür, verstärkt auch Gegenwartsliteratur zu vermitteln. Seine Position ist nicht grundsätzlich gegen Klassiker gerichtet – er bezeichnet sie sogar als „wertvoll“ (Z. 3) –, sondern richtet sich gegen ihre übermäßige Dominanz und gegen eine didaktisch nicht unterstützte Vermittlung, die bei Schülern auf Ablehnung stoße.
- Durch seine Argumentation wird deutlich, dass er eine stärkere Schülerorientierung im Literaturunterricht befürwortet, bei der die Rezipierbarkeit, sprachliche Zugänglichkeit und Lebensnähe von Texten entscheidend sein sollten (Vgl. Z. 37–41). Aus dieser Perspektive heraus bevorzugt er literarische Werke, die von Zeitgenossen verfasst wurden, da sie in Inhalt und Form näher an der Lebensrealität der Lernenden seien.
3. Auseinandersetzung mit der Autorenposition und persönliche Reflexion
- Die Argumentation Grünwaldts überzeugt durch ihre Systematik und Lebensnähe. Seine Beobachtung, dass Schüler*innen häufig sprachlich und inhaltlich überfordert sind, spiegelt Erfahrungen aus dem eigenen Schulalltag wider. Insbesondere die sprachlichen Hürden beim Zugang zu klassischen Werken wie Lessings Emilia Galotti oder Goethes Faust I wurden in vielen Unterrichtssituationen deutlich.
- Ohne ausführliche Vorentlastung und Kontextualisierung können diese Texte leicht abschreckend wirken – ein Eindruck, den auch Grünwaldt benennt (Vgl. Z. 7–11). Zugleich zeigt sich aber auch, dass gerade die Auseinandersetzung mit Fremdheit und sprachlicher Dichte zur Persönlichkeitsbildung beitragen kann, wenn sie angemessen begleitet wird. So haben beispielsweise die Konflikte in Büchners Woyzeck – trotz der historischen Distanz – gesellschaftliche Probleme aufgegriffen, die bis heute von Relevanz sind (z. B. soziale Ungerechtigkeit oder psychische Belastung).
- Ebenso bietet Goethes Faust mit der Frage nach Lebenssinn und Verantwortung ein literarisch anspruchsvolles Werk, das Schüler*innen zum Nachdenken anregen kann. Daher erscheint es sinnvoll, Grünwaldts Position nicht als Gegensatz zu klassischen Texten, sondern als Plädoyer für eine ausgewogene Mischung zu verstehen. Gegenwartsliteratur kann den Einstieg erleichtern, Identifikationsangebote schaffen und den Zugang zur Literatur insgesamt verbessern. Klassiker hingegen behalten ihren Wert als kulturelles Erbe und Reflexionsraum für überzeitliche Fragestellungen – vorausgesetzt, sie werden didaktisch klug aufbereitet.
Schluss
- Hans Joachim Grünwaldt argumentiert differenziert und nachvollziehbar gegen die Dominanz klassischer Literatur im Schulunterricht.
- Er benennt konkrete Verständnisprobleme, die aus sprachlichen, inhaltlichen und lebensweltlichen Distanzen resultieren, und plädiert für eine stärkere Berücksichtigung zeitgenössischer Literatur. Diese Position ist in weiten Teilen überzeugend, sollte jedoch nicht zu einem vollständigen Verzicht auf Klassiker führen.
- Vielmehr braucht es ein ausgewogenes Literaturangebot, das sowohl die Gegenwart abbildet als auch den Blick für andere Zeiten und Perspektiven öffnet.