Aufgabe 1

Sachtextanalyse

Thema:
Hans Joachim Grünwaldt (* 1938): Sind Klassiker etwa nicht antiquiert?
Aufgabenstellung:
  • Analysiere den Argumentationsgang des Textes.
  • Setze dich mit der Autorenposition unter Berücksichtigung persönlicher Literaturerfahrungen auseinander.
Material
Sind Klassiker etwa nicht antiquiert? (1970)
Hans Joachim Grünwaldt
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Schüler, die unter der Bettdecke heimlich „Wilhelm Tell“ lesen, existierten vielleicht schon
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immer nur in Wunschträumen von Lehrern, heute ist es gewiß so. Heutzutage weiß ein junger
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Mensch mit den sogenannten „klassischen“ Werken der Literatur, also mit jenen als „wertvoll“
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bezeichneten Dichtungen, die vor der Jahrhundertwende geschrieben wurden, meist wenig
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anzufangen. Sofern ihm nicht von „Gebildeten“ ihnen gegenüber Befangenheit eingeredet
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worden ist, lehnt er sie eher spontan ab, als daß er sich für sie interessiert oder gar begeistert.
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Fremd und nicht selten fast unverständlich ist ihm schon die Sprache, in der diese Texte
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abgefaßt sind. Häufig muß er, um sie verstehen zu können, Spezialwörterbücher benutzen oder
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sich von eingeweihten Lehrern helfen lassen. Mancher Satz, der als besonders kunstvoll gilt,
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kommt ihm gekünstelt vor. Das rhetorische Pathos, mit dem einige Dichter ihre Leser mitreißen
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wollen, reizt ihn zum Lachen.
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Er merkt, daß diese Literatur nicht für ihn geschrieben wurde. Es werden bei ihm als dem
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Angesprochenen mythologische, historische, auch literaturgeschichtliche Kenntnisse
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vorausgesetzt, die er gar nicht besitzt. Ist sein Gedächtnis damit jedoch vollgestopft worden
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(und auf welcher Schule müßte er das heute noch erdulden!), so fühlt er sich bei der Lektüre
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angesprochen als einer, dem Standesunterschiede selbstverständlich sind, der an Gott oder „die
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Götter“ glaubt, der Gehorsam für eine Tugend hält oder der glaubt, daß Menschen, wenn sie
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nur wollten, alles könnten. Er spürt, daß von ihm die Überzeugungen, die Vorurteile und
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Verhaltensklischees eines freien Griechen des 5. Jahrhunderts vor der Zeitenrechnung ebenso
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erwartet werden wie die eines Ritters der Stauferzeit, eines bürgerlichen Fürsten- und
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Staatsdieners des 18. oder eines kleinbürgerlichen Gebildeten des 19. Jahrhunderts, daß er diese
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Menschen und das, was sie dachten und empfanden, zumindest verstehen soll.
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Sich in sie hineinzuversetzen, fällt ihm jedoch sehr schwer. Die in diesen Dichtungen
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dargestellten Menschen haben ganz andere Lebensgewohnheiten als er. Sie leben auf Burgen
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und Schlössern oder in altertümlichen kleinen Städten oder Dörfern. Sie kleiden sich anders.
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Wenn sie sich fortbewegen wollen, nehmen sie ein Pferd oder eine Kutsche und nicht das Auto.
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Nicht wenige von ihnen sind materiell unabhängig. Die Natur, die sie fürchten oder anbeten, ist
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der von Menschen noch nicht beherrschte und noch nicht verschandelte Bereich der Erde und
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nicht der wohlgeordnete Freizeitpark. Um manche Probleme dieser Menschen verstehen zu
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können, muß man sich daran erinnern, daß es weder eine Versicherung gab, die sie vor
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Unvorhersehbarem schützen, noch ein Sozialamt, das ihnen in der Not helfen konnte, daß sie
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häufig weder die Polizei noch Gerichte mit der Vertretung ihrer Interessen beauftragen konnten.
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Selbstverständlich lassen sich all diese Verständnis-Hindernisse überwinden. Man kann die
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Schüler lehren, die Welt und die Menschen so zu sehen, wie der Autor in längst vergangenen
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Tagen sie sah oder sehen wollte, man kann sie lehren, seine Sprache und seine Probleme zu
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verstehen. Aber sollte man es, wenn dies so viel Schwierigkeiten bereitet? Die Arbeiten der
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noch lebenden Schriftsteller interessieren den jungen Menschen meist viel mehr als die Werke
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der Klassiker. Sollte man deshalb nicht diese zum einzigen Gegenstand des Literaturunterrichts
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an unseren Schulen machen? In ihnen wird die Welt mit den Augen eines Zeitgenossen gesehen
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und mit der Sprache eines Zeitgenossen beschrieben. Aus ihnen kann der junge Mensch etwas
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über seine Zeit und sich lernen. Sie sind „aktuell“, die Werke der Klassiker aber „antiquiert“,
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wie Schüler sagen würden.

Aus: Grünwaldt, Hans-Joachim: Sind Klassiker etwa nicht antiquiert? In: Diskussion Deutsch. Heft 1 (9/1970), Verlag Moritz Diesterweg, Frankfurt/M. 1970, S. 16 f.

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