Textgebundene Erörterung

Thema:
Beate Laurenti: „Du“ verdrängt „Sie“
Aufgabenstellung:
  • Analysiere den Text. Setze dich kritisch mit der Frage auseinander, ob die Wahl der Anrede als Ausdrucksform des Respekts anzusehen ist. (Der Schwerpunkt der Aufgabe liegt auf der Erörterung.)
Material
Du“ verdrängt „Sie“
Beate Laurenti
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Bonn (KNA) – Wir leben in einer Kultur des Duzens: ob in den sozialen Netzwer-
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ken, am Arbeitsplatz oder im Radio. Das „Du“ ist mittlerweile fester Bestandteil
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der Alltagskommunikation. Und sogar dort gang und gäbe, wo es früher nicht
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denkbar gewesen wäre; etwa beim Einkaufen oder in der Werbung. Für Knigge
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Experte und Business-Etikette-Trainer Clemens Graf von Hoyos ist das die Folge
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einer Entwicklung, die bereits vor Jahrzehnten eingesetzt hat. Der Trend könnte
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sich aber auch wieder ändern, sagte er der Katholischen Nachrichten-Agentur.
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Dabei ist die Abgrenzung zwischen dem „Du“ und „Sie“ kein Alleinstellungs-
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merkmal der deutschen Sprache. Das hat eine Analyse des World Atlas of Langu-
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age Structures (WALS) ergeben. Demnach wird in mehr als der Hälfte der 207
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untersuchten Sprachen keine Unterscheidung zwischen dem Duzen und Siezen
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getroffen. Zu diesen Sprachen zählt beispielsweise das Englische. 49 Sprachen
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weisen, wie das Deutsche, ein binäres System auf. Mehr als ein Dutzend Sprachen
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haben ein komplexeres Höflichkeitssystem.
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„Vor rund 200 Jahren hat man es noch möglichst vermieden, das Gegenüber
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überhaupt mit einem Pronomen anzusprechen“, sagte Hoyos, der seit knapp zehn
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Jahren Vorsitzender der Deutschen-Knigge-Gesellschaft ist. „Ich hoffe, Ihre
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Hochwohlgeboren haben gut geschlafen“, hieß es damals. Daraus wurde dann „Ich
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hoffe, Sie haben gut geschlafen, Herr Mustermann“ und schließlich „Ich hoffe, du
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hast gut geschlafen“. Drehe man diese Entwicklung weiter, könnte es sein, dass
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irgendwann gar nicht mehr mit Namen und Anrede hantiert werde. Die Frage
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würde dann lauten: „Jo, Diggi, gut geschlafen?“
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Vor dem Hintergrund einer Sprache, die auch nicht binäre Personen mitdenkt –
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also diejenigen, die sich nicht den Kategorien von Mann und Frau zuordnen –,
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könnte sich Hoyos auch vorstellen, dass irgendwann auf entsprechende Zusätze
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verzichtet werde. In Mails könnte das etwa so aussehen: „Guten Tag, Erika Mus-
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termann.“ Es gehe in der Kommunikation vorwiegend darum, sich auf andere Per-
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sonen einzustellen.
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Umgangsformen unterlagen laut Hoyos schon immer Wellenbewegungen. Aus-
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geschlossen sei es jedenfalls nicht, dass das Siezen in den kommenden zwei Jahr-
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zehnten wieder prominenter werde. Hoyos verweist auf den Philosophen Arthur
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Schopenhauer, der 1851 in seiner Parabel der Stachelschweine folgendes Phäno-
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men beschrieb: An kalten Wintertagen drängen sich die Tiere recht nah zusam-
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men, um sich zu wärmen. Sobald sie zusammenrücken, piksen sie sich jedoch und
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gehen wieder auf Distanz. Ähnlich könnte es sich, so Hoyos, mit der Anrede ver-
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halten: Es sei immer ein Ringen um Nähe und Distanz.
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Vor allem in der Unterhaltungsbranche wird das Duzen mit dem Wunsch nach
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Zusammengehörigkeit begründet. Seit Monaten geht etwa der Hörfunksender
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WDR 2 verstärkt dazu über, die Hörerinnen und Hörer zu duzen. Der Gedanke
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dahinter: das Community-Gefühl zu stärken und Menschen enger an den Sender
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zu binden, so eine Sprecherin.
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Für Hoyos ist das eine nachvollziehbare Überlegung. Bindung hänge maßgeb-
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lich davon ab, was Menschen zusammen erlebt und durchlebt hätten. Da Radio-
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hören eher ein passiver Vorgang sei, könne er den Schritt zum sprachlichen
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Zusammenrücken nachvollziehen; zwangsweise notwendig sei er aber nicht.
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Für den einen ist das Duzen dem Experten zufolge eine vertrauensvolle Kom-
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munikation auf Augenhöhe, für den anderen eine Grenzüberschreitung. Dafür
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brauche es immer auch Feingefühl, mahnt der Experte. In jedem Fall gelte: einmal
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Du, immer Du. Er selbst sei deshalb kein Fan von sogenannten Golfplatz- oder
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Workshop-Dus. Dass viele Möbelhäuser oder Konzerne ihre Kundinnen und Kun-
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den duzten, bei Mahnungen hingegen wieder zum „Sie“ wechselten, sei „gegen
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jede Etikette und einfach nur schlechter Stil“.
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Besonders am Arbeitsplatz dürfe man sich von einer Kultur des Duzens nicht
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täuschen lassen, betont Hoyos. Oft werde dadurch suggeriert, dass in einem Unter-
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nehmen besonders flache Hierarchien herrschten, obwohl das nicht der Fall sei.
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„Kultur fängt im Kopf an und ist keine Frage des Duzens oder des Krawatte-
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tragens.“

Aus: Laurenti, Beate (KNA): „Du“ verdrängt „Sie“. 11. 05. 2023, Aalener Nachrichten.