Aufgabe 2

Interpretation eines literarischen Textes

Thema:
Frank Wedekind (* 1864 – † 1918): Frühlings Erwachen
Aufgabenstellung:
  • Interpretiere die Szene.
  • Beurteile die Gesprächsstrategie der Tochter Wendla.
(Der Schwerpunkt der Aufgabe liegt auf der Interpretation.)
Material
FRÜHLINGS ERWACHEN. Eine Kindertragödie (1906)
Frank Weidekind
Erster Akt
Erste Scene
Wohnzimmer.
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WENDLA Warum hast du mir das Kleid so lang gemacht, Mutter?
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FRAU BERGMANN Du wirst vierzehn Jahre heute!
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WENDLA Hätt ich gewußt, daß du mir das Kleid so lang machen werdest, ich wäre lieber
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nicht vierzehn geworden.
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FRAU BERGMANN Das Kleid ist nicht zu lang, Wendla. Was willst du denn! Kann ich
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dafür, daß mein Kind mit jedem Frühjahr wieder zwei Zoll größer ist. Du darfst doch als
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ausgewachsenes Mädchen nicht in Prinzeßkleidchen einhergehen.
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WENDLA Jedenfalls steht mir mein Prinzeßkleidchen besser als diese Nachtschlumpe. –
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Laß mich’s noch einmal tragen, Mutter! Nur noch den Sommer lang. Ob ich nun vierzehn
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zähle oder fünfzehn, dies Bußgewand wird mir immer noch recht sein. – Heben wir’s auf bis
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zu meinem nächsten Geburtstag; jetzt würd’ ich doch nur die Litze¹ heruntertreten.
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FRAU BERGMANN Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich würde dich ja gerne so behalten,
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Kind, wie du gerade bist. Andere Mädchen sind stakig und plump in deinem Alter. Du bist
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das Gegenteil. – Wer weiß, wie du sein wirst, wenn sich die anderen entwickelt haben.
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WENDLA Wer weiß – vielleicht werde ich n i c h t mehr sein.
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FRAU BERGMANN Kind, Kind, wie kommst du auf die Gedanken!
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WENDLA Nicht, liebe Mutter; nicht traurig sein!
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FRAU BERGMANN (sie küssend) Mein einziges Herzblatt!
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WENDLA Sie kommen mir so des Abends, wenn ich nicht einschlafe. Mir ist gar nicht
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traurig dabei, und ich weiß, daß ich dann um so besser schlafe. – Ist es sündhaft, Mutter, über
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derlei zu sinnen?
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FRAU BERGMANN Geh’ denn und häng’ das Bußgewand in den Schrank! Zieh’ in Gottes
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Namen dein Prinzeßkleidchen wieder an! – Ich werde dir gelegentlich eine Handbreit Volants
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unten ansetzen.
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WENDLA (das Kleid in den Schrank hängend) Nein, da möcht’ ich schon lieber gleich
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vollends zwanzig sein!
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FRAU BERGMANN Wenn du nur nicht zu kalt hast! – Das Kleidchen war dir ja seinerzeit
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reichlich lang; aber ...
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WENDLA Jetzt, wo der Sommer kommt? – O Mutter, in den Kniekehlen bekommt man
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auch als Kind keine Diphtheritis! Wer wird so kleinmütig sein. In meinen Jahren friert man
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noch nicht – am wenigsten an die Beine. Wär’s etwa besser, wenn ich zu heiß hätte, Mutter?
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– Dank’ es dem lieben Gott, wenn sich dein Herzblatt nicht eines Morgens die Ärmel
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wegstutzt und dir so zwischen Licht abends ohne Schuhe und Strümpfe entgegentritt! – Wenn
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ich mein Bußgewand trage, kleide ich mich darunter wie eine Elfenkönigin ... Nicht schelten,
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Mütterchen! Es sieht’s dann ja niemand mehr.

Aus: Wedekind, Frank: Frühlings Erwachen. In: Baum, Mathias, Kieser Rolf (Hrsg.): Frank Wedekind Werke. Band 2. Dramatische Fragmente und Entwürfe. Häusser-media, Darmstadt 2000, S. 323 – 326.

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