Aufgabe 2
Interpretation eines literarischen Textes
Thema:- Interpretiere die Szene.
- Beurteile die Gesprächsstrategie der Tochter Wendla.
Erste Scene
Wohnzimmer.
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WENDLA Warum hast du mir das Kleid so lang gemacht, Mutter?
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FRAU BERGMANN Du wirst vierzehn Jahre heute!
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WENDLA Hätt ich gewußt, daß du mir das Kleid so lang machen werdest, ich wäre lieber
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nicht vierzehn geworden.
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FRAU BERGMANN Das Kleid ist nicht zu lang, Wendla. Was willst du denn! Kann ich
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dafür, daß mein Kind mit jedem Frühjahr wieder zwei Zoll größer ist. Du darfst doch als
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ausgewachsenes Mädchen nicht in Prinzeßkleidchen einhergehen.
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WENDLA Jedenfalls steht mir mein Prinzeßkleidchen besser als diese Nachtschlumpe. –
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Laß mich’s noch einmal tragen, Mutter! Nur noch den Sommer lang. Ob ich nun vierzehn
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zähle oder fünfzehn, dies Bußgewand wird mir immer noch recht sein. – Heben wir’s auf bis
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zu meinem nächsten Geburtstag; jetzt würd’ ich doch nur die Litze¹ heruntertreten.
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FRAU BERGMANN Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich würde dich ja gerne so behalten,
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Kind, wie du gerade bist. Andere Mädchen sind stakig und plump in deinem Alter. Du bist
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das Gegenteil. – Wer weiß, wie du sein wirst, wenn sich die anderen entwickelt haben.
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WENDLA Wer weiß – vielleicht werde ich n i c h t mehr sein.
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FRAU BERGMANN Kind, Kind, wie kommst du auf die Gedanken!
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WENDLA Nicht, liebe Mutter; nicht traurig sein!
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FRAU BERGMANN (sie küssend) Mein einziges Herzblatt!
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WENDLA Sie kommen mir so des Abends, wenn ich nicht einschlafe. Mir ist gar nicht
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traurig dabei, und ich weiß, daß ich dann um so besser schlafe. – Ist es sündhaft, Mutter, über
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derlei zu sinnen?
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FRAU BERGMANN Geh’ denn und häng’ das Bußgewand in den Schrank! Zieh’ in Gottes
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Namen dein Prinzeßkleidchen wieder an! – Ich werde dir gelegentlich eine Handbreit Volants
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unten ansetzen.
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WENDLA (das Kleid in den Schrank hängend) Nein, da möcht’ ich schon lieber gleich
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vollends zwanzig sein!
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FRAU BERGMANN Wenn du nur nicht zu kalt hast! – Das Kleidchen war dir ja seinerzeit
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reichlich lang; aber ...
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WENDLA Jetzt, wo der Sommer kommt? – O Mutter, in den Kniekehlen bekommt man
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auch als Kind keine Diphtheritis! Wer wird so kleinmütig sein. In meinen Jahren friert man
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noch nicht – am wenigsten an die Beine. Wär’s etwa besser, wenn ich zu heiß hätte, Mutter?
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– Dank’ es dem lieben Gott, wenn sich dein Herzblatt nicht eines Morgens die Ärmel
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wegstutzt und dir so zwischen Licht abends ohne Schuhe und Strümpfe entgegentritt! – Wenn
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ich mein Bußgewand trage, kleide ich mich darunter wie eine Elfenkönigin ... Nicht schelten,
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Mütterchen! Es sieht’s dann ja niemand mehr.
Aus: Wedekind, Frank: Frühlings Erwachen. In: Baum, Mathias, Kieser Rolf (Hrsg.): Frank Wedekind Werke. Band 2. Dramatische Fragmente und Entwürfe. Häusser-media, Darmstadt 2000, S. 323 – 326.
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- Die Szene aus Frank Wedekinds Drama Frühlings Erwachen aus dem Jahr 1906 zeigt einen Dialog zwischen der vierzehnjährigen Wendla und ihrer Mutter Frau Bergmann.
- Im Zentrum steht der Konflikt zwischen kindlicher Naivität und erwachender Selbstständigkeit, der sich an der Thematik der Kleidung symbolisch entfaltet. Der Ausschnitt thematisiert den Beginn des Erwachsenwerdens, die Normen bürgerlicher Erziehung sowie die emotionale Abhängigkeit von elterlicher Anerkennung.
- Diese Analyse untersucht, wie sich die Ambivalenz des Erwachsenwerdens in der Szene sprachlich und inhaltlich ausdrückt, charakterisiert die beiden Figuren und ihre Beziehung und beurteilt schließlich Wendlas Gesprächsstrategie.
Hauptteil
1. Inhalt und Aufbau
- Die Szene spielt im Wohnzimmer der Familie Bergmann anlässlich Wendlas 14. Geburtstag (Vgl. Z. 2). Dieses biografische Ereignis ist zugleich ein symbolischer Wendepunkt: Die neue Kleiderordnung markiert den Übergang zur gesellschaftlich normierten Weiblichkeit.
- Der Gesprächsverlauf beginnt kindlich-naiv, schlägt dann aber zunehmend in eine emotional aufgeladene Auseinandersetzung um – ein Ausdruck von Wendlas beginnender Selbstständigkeit und dem Wunsch nach Emanzipation.
2. Thematische Deutung: Ambivalenz des Erwachsenwerdens
- Zentral ist die Spannung zwischen kindlicher Unschuld und erwachender Selbstwahrnehmung. Wendla schwankt zwischen Anpassung und Widerstand: Einerseits probiert sie das neue Kleid an und kokettiert mit ihrer Wirkung, andererseits äußert sie Ablehnung gegenüber dem Erwachsenwerden („Ich wäre lieber nicht vierzehn geworden“, Z. 3 f.).
- Die Szene zeigt somit die Ambivalenz des Reifungsprozesses – zwischen Neugier, Angst und Verweigerung.
3. Figurencharakterisierung und Beziehungsdynamik
- Wendla tritt dominant auf, hat einen hohen Redeanteil und agiert mit einem Wechselspiel aus Unterwerfung und Behauptung. Ihre Mutter wirkt hingegen zögerlich, konfliktscheu und emotional überfordert. Frau Bergmann folgt gesellschaftlichen Normen, Wendla hingegen hinterfragt diese intuitiv.
- Ihre Beziehung ist von stummen Machtkämpfen geprägt – Wendla testet Grenzen, die Mutter versucht diese zu wahren, ohne die Tochter emotional zu erreichen.
4. Sprache und stilistische Mittel
- Die sprachliche Gestaltung unterstreicht Wendlas innere Zerrissenheit: Sie benutzt Diminutive („Prinzeßkleidchen“, Z. 7), religiös aufgeladene Formulierungen („in Gottes Namen“, Z. 22 f.) sowie expressive Bilder („Elfenkönigin“, Z. 34).
- Diese Sprache wirkt zugleich verspielt und manipulativ, was den ambivalenten Reifeprozess betont. Auch rhetorische Fragen und Ausrufe („Nein, da möcht’ ich schon lieber gleich vollends zwanzig sein!“, Z. 25 f.) verdeutlichen ihren emotionalen Druckaufbau.
5. Deutung der Gesamtaussage
- Die Szene thematisiert auf mehreren Ebenen die Unsicherheit und Widersprüchlichkeit des Erwachsenwerdens. Kleidung wird zur Projektionsfläche gesellschaftlicher Erwartungen. Zugleich spiegeln sich in der Mutter-Tochter-Beziehung klassische Rollenmuster wider, in denen Normen reproduziert, aber auch infrage gestellt werden.
- Wendlas Figur steht exemplarisch für den Wunsch junger Menschen nach Selbstdefinition – jenseits elterlicher Deutungshoheit.
6. Beurteilung von Wendlas Gesprächsstrategie
- Wendlas Gesprächsstrategie in der Szene ist komplex, vielschichtig – und letztlich auch problematisch. Sie verfolgt kein sachliches Gesprächsziel, sondern nutzt eine emotional manipulative Taktik, die zwischen Koketterie, Melancholie und indirekter Erpressung schwankt. Dabei geht sie nicht offen auf die Argumente der Mutter ein, sondern weicht ihnen rhetorisch aus oder überlagert sie durch Gefühlsausbrüche und symbolische Bilder.
- Bereits früh bringt Wendla ein übertriebenes Gefühl von Ablehnung zum Ausdruck: „Ich wäre lieber nicht vierzehn geworden“ (Z. 3 f.). Diese Aussage ist nicht nur trotzig, sondern bewusst dramatisierend – sie dient dazu, die Mutter in eine emotionale Verantwortung zu bringen.
- Ähnlich funktioniert der Vorwurf: „Ist es sündhaft, Mutter, über derlei zu sinnen?“ (Z. 20 f.). Hier setzt Wendla gezielt religiös konnotierte Schuldgefühle ein, um die Autorität der Mutter moralisch zu destabilisieren. Dass sie ihre Worte mit körperlicher Nähe unterstreicht („sie küssend“, Z. 18), verdeutlicht ihre taktische Fähigkeit, Zuneigung als Mittel der Einflussnahme zu verwenden.
- Auffällig ist auch ihr Rückgriff auf kindliche Bilder und Fantasien – etwa wenn sie sich „wie eine Elfenkönigin“ (Z. 34) kleidet oder ihr „Bußgewand“ (Z. 34) mit ritueller Bedeutung auflädt. Diese Inszenierungen wirken zunächst naiv, haben jedoch eine strategische Funktion: Wendla vermeidet direkte Konfrontation und agiert stattdessen indirekt über emotionale Ausweichmanöver und Überhöhungen.
- Insgesamt lässt sich ihre Gesprächsführung als unausgereift, aber zugleich erstaunlich wirkungsvoll beurteilen. Wendla nutzt ihr kindliches Auftreten gezielt, um Kontrolle über die Gesprächsdynamik zu gewinnen, ohne tatsächlich argumentativ zu überzeugen. Sie bleibt im Ungefähren, drängt die Mutter aber gleichzeitig in die Ecke. Gerade dieser Widerspruch – zwischen Hilflosigkeit und kalkulierter Überforderung der Mutter – macht die Szene so tragisch.
- Aus pädagogischer Sicht zeigt sich, dass Wendla zwar um Ausdruck und Einfluss ringt, ihr jedoch reife kommunikative Mittel fehlen. Ihre Strategie basiert weniger auf klarem Anliegen als auf instinktiver Verteidigung ihres Selbstbildes. Sie sehnt sich nach Anerkennung, gleichzeitig lehnt sie die Erwachsenenwelt ab – und nutzt Sprache, Gefühl und Inszenierung, um sich einen Raum dazwischen zu schaffen.
- Fazit der Beurteilung: Wendlas Gesprächsstrategie ist ambivalent. Einerseits kann sie als Versuch gedeutet werden, über emotionale Mittel Selbstwirksamkeit zu erlangen – was ein legitimes Bedürfnis in der Pubertät ist. Andererseits zeigt sie auch eine unreife Form von Kommunikation, die Konflikte nicht löst, sondern vertieft. Gerade diese Spannung macht ihre Figur glaubwürdig – und lässt die Szene als Vorstufe der späteren tragischen Eskalation erscheinen.
Schluss
- Die Szene aus Frank Wedekinds Frühlings Erwachen zeigt auf eindringliche Weise die Zerrissenheit einer pubertierenden Jugendlichen zwischen kindlichem Wunsch nach Geborgenheit und dem Bedürfnis nach Selbstbestimmung.
- In Wendlas rhetorisch geschicktem Dialog mit ihrer Mutter offenbaren sich die Unsicherheiten, Konventionen und Sprachlosigkeiten einer Gesellschaft, die das Erwachsenwerden zugleich reglementiert und tabuisiert.
- Die Szene wirft so ein kritisches Licht auf elterliche Erziehung und soziale Normen und bleibt in ihrer Thematik auch heute noch hochaktuell.